BRIEF PAPST JOHANNES PAULS II. AN DIE FAMILIEN
Liebe Familien!
1. Die Feier des Jahres der Familie bietet mir die willkommene Gelegenheit,
an die Tür eures Hauses zu klopfen mit dem Wunsch, euch sehr herzlich zu
grüben und mich bei euch aufzuhalten. Ich tue das mit diesem Schreiben,
wobei ich von den Worten der Enzyklika Redemptor hominis ausgehe,
die ich in den ersten Tagen meines Petrusamtes veröffentlicht habe. Ich
schrieb damals: Der Mensch ist der Weg der Kirche.1
Mit dieser Formulierung wollte ich zunächst auf die vielfältigen Wege
Bezug nehmen, die der Mensch entlanggeht, und zugleich wollte ich unterstreichen,
wie lebhaft und grob der Wunsch der Kirche ist, ihn beim Durchlaufen dieser
Wege seiner irdischen Existenz zu begleiten. Die Kirche nimmt an den Freuden
und Hoffnungen, an der Trauer und an den Ängsten2 des täglichen Lebens
der Menschen teil, weil sie zutiefst davon überzeugt ist, dab Christus
selbst sie in alle diese Wege eingeweiht hat: Er hat den Menschen der Kirche
anvertraut; Er hat ihn ihr anvertraut als »Weg« ihrer Sendung und ihres
Dienstes.
Die Familie – Weg der Kirche
2. Unter diesen zahlreichen Wegen ist die Familie der erste und der
wichtigste. Ein gemeinsamer Weg und doch ein eigener, einzigartiger und
unwiederholbarer Weg, so wie jeder Mensch unwiederholbar ist; ein Weg,
von dem kein Mensch sich lossagen kann. In der Tat kommt er normalerweise
innerhalb einer Familie zur Welt, weshalb man sagen kann, dab er ihr seine
Existenz als Mensch verdankt. Fehlt die Familie, so entsteht in der Person,
die in die Welt eintritt, eine bedenkliche und schmerzliche Lücke, die
in der Folge auf dem ganzen Leben lasten wird. Mit herzlich empfundener
Fürsorge ist die Kirche denen nahe, die in solchen Situationen leben, weil
sie um die grundlegende Rolle weib, die die Familie zu spielen berufen
ist. Sie weib darüber hinaus, dab der Mensch normalerweise seine Familie
verläbt, um seinerseits in einem neuen Familienkern die eigene Lebensberufung
zu verwirklichen. Selbst wenn er sich für das Alleinbleiben entscheidet,
bleibt die Familie als jene fundamentale Gemeinschaft, in der das gesamte
Netz seiner sozialen Beziehungen, von den unmittelbarsten und naheliegenden
bis hin zu den entferntesten, verwurzelt ist, so etwas wie sein existentieller
Horizont. Sprechen wir etwa nicht von der »Menschheitsfamilie«, wenn wir
auf die Gesamtheit der auf der Welt lebenden Menschen Bezug nehmen?
Die Familie hat ihren Ursprung in derselben Liebe, mit der der Schöpfer
die geschaffene Welt umfängt, wie es schon »am Anfang« im Buch Genesis
(1,1) ausgesprochen wurde. Eine letzte Bestätigung dafür bietet uns Jesus
im Evangelium: » . . . Gott hat die Welt so sehr geliebt, dab er seinen
einzigen Sohn hingab« (Joh 3,16). Der mit dem Vater wesensgleiche
einzige Sohn, »Gott von Gott und Licht vom Licht«, ist durch die Familie
in die Geschichte der Menschen eingetreten: »Durch die Menschwerdung hat
sich der Sohn Gottes gewissermaben mit jedem Menschen vereinigt. Mit Menschenhänden
hat er gearbeitet, . . . mit einem menschlichen Herzen geliebt. Geboren
aus Maria, der Jungfrau, ist er in Wahrheit einer aus uns geworden, in
allem uns gleich auber der Sünde.«3 Wenn daher Christus »dem Menschen den
Menschen selbst voll kundmacht«,4 tut er das, angefangen von der Familie,
in die er hineingeboren werden und in der er aufwachsen wollte. Wie man
weib, hat der Erlöser einen groben Teil seines Lebens in der Zurückgezogenheit
von Nazaret verbracht, als »Menschensohn« seiner Mutter Maria und Josef,
dem Zimmermann, »gehorsam« (Lk 2,51). Ist nicht dieser kindliche
»Gehorsam« bereits der erste Ausdruck jenes Gehorsams gegenüber dem Vater
»bis zum Tod« (Phil 2,8), durch den er die Welt erlöst hat?
Das göttliche Geheimnis der Fleischwerdung des Wortes steht also in
enger Beziehung zur menschlichen Familie. Nicht nur zu einer Familie, jener
von Nazaret, sondern in gewisser Weise zu jeder Familie, entsprechend der
Aussage des Zweiten Vatikanischen Konzils über den Sohn Gottes, der »sich
in seiner Menschwerdung gewissermaben mit jedem Menschen vereinigt (hat)«.5
In der Nachfolge Christi, der in die Welt »gekommen« ist, »um zu dienen«
(Mt 20,28), sieht die Kirche den Dienst an der Familie als eine
ihrer wesentlichen Aufgaben an. In diesem Sinne stellen sowohl der Mensch
wie die Familie »den Weg der Kirche« dar.
Das Jahr der Familie
3. Aus eben diesen Gründen begrübt die Kirche mit Freude die von der
Organisation der Vereinten Nationen geförderte Initiative, 1994 zum Internationalen
Jahr der Familie zu erklären. Diese Initiative macht offenkundig, wie grundlegend
für die Staaten, die UNO- Mitglieder sind, die Familienfrage ist. Wenn
die Kirche daran teilzunehmen wünscht, so tut sie es, weil sie selbst von
Christus zu »allen Völkern« (Mt 28, 19) gesandt worden ist. Es ist
im übrigen nicht das erste Mal, dab sich die Kirche eine internationale
Initiative der UNO zu eigen macht. Es sei z. B. nur an das Internationale
Jahr der Jugend 1985 erinnert. Auch auf diese Weise macht sie sich in der
Welt präsent, indem sie die Papst Johannes' XXIII. so teure Absicht und
Anregung der Konzilskonstitution Gaudium et spes verwirklicht.
Am Fest der Heiligen Familie 1993 hat in der gesamten Kirche das »Jahr
der Familie« begonnen als eine der bedeutsamen Etappen auf dem Vorbereitungsweg
zum Groben Jubeljahr 2000, das das Ende des zweiten und den Beginn des
dritten Jahrtausends seit der Geburt Jesu Christi bezeichnen wird. Dieses
Jahr soll unsere Gedanken und Herzen auf Nazaret hinlenken, wo es am vergangenen
26. Dezember mit einer festlichen Eucharistiefeier unter Leitung des päpstlichen
Gesandten offiziell eröffnet wurde.
Während dieses ganzen Jahres ist es wichtig, die Zeugnisse der Liebe
und der Sorge der Kirche für die Familie wiederzuentdecken: Liebe und Sorge,
die seit den Anfängen des Christentums, als die Familie bezeichnenderweise
als »Hauskirche« angesehen wurde, zum Ausdruck gebracht wurden. In unseren
Tagen kommen wir häufig auf den Ausdruck »Hauskirche« zurück, den sich
das Konzil zu eigen macht6 und dessen Inhalt, so wünschen wir, immer lebendig
und aktuell bleiben möge. Dieser Wunsch wird angesichts des Wissens um
die veränderten Lebensbedingungen der Familien in der heutigen Welt nicht
geringer. Eben deshalb ist der Titel, den das Konzil in der Pastoralkonstitution
Gaudium et spes gewählt hat, um die Aufgaben der Kirche in der Gegenwart
aufzuzeigen, bedeutsamer denn je: »Förderung der Würde der Ehe und der
Familie.«7 Ein weiterer wichtiger Bezugspunkt nach dem Konzil ist das Apostolische
Schreiben Familiaris consortio aus dem Jahr 1981. Jener Text stellt
sich einer umfangreichen und komplexen Erfahrung in bezug auf die Familie,
die immer und überall bei den verschiedenen Völkern und Ländern »der Weg
der Kirche« bleibt. In gewisser Hinsicht wird sie es gerade dort noch mehr,
wo die Familie innere Krisen erleidet oder schädlichen kulturellen, sozialen
und ökonomischen Einflüssen ausgesetzt ist, die ihre innere Festigkeit
untergraben, wenn sie nicht sogar ihre Bildung selbst behindern.
Das Gebet
4. Mit dem vorliegenden Schreiben möchte ich mich nicht an die Familie
»im abstrakten Sinn« wenden, sondern an jede konkrete Familie jeder Region
der Erde, auf welchen geographischen Längen oder Breiten sie sich auch
befinde und wie komplex und verschiedenartig ihre Kultur und ihre Geschichte
auch sein mag. Die Liebe, mit der Christus »die Welt geliebt hat« (Joh
3,16), die Liebe, mit der Christus jeden einzelnen und alle »bis zur Vollendung
geliebt hat« (Joh 13,1), ermöglicht es, diese Botschaft an jede
Familie als Lebens-»Zelle« der groben, universalen Menschheits-»Familie«
zu richten. Der Vater, Schöpfer des Universums, und das fleischgewordene
Wort, Erlöser der Menschheit, bilden die Quelle dieser universalen Öffnung
zu den Menschen als Brüder und Schwestern und halten dazu an, sie alle
in das Gebet einzuschlieben, das mit den anrührenden Worten beginnt: »Vater
unser.«
Das Gebet bewirkt, dab der Sohn Gottes mitten unter uns weilt: »Denn
wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter
ihnen« (Mt 18,20). Dieses Schreiben an die Familien möchte in erster
Linie eine Bitte an Christus sein, in jeder menschlichen Familie zu bleiben;
eine Einladung an Ihn, durch die kleine Familie von Eltern und Kindern
in der groben Familie der Völker zu wohnen, damit tatsächlich alle mit
Ihm zusammen sprechen können: »Vater unser!« Das Gebet mub zum beherrschenden
Element des Jahres der Familie in der Kirche werden: das Gebet der Familie,
das Gebet für die Familie, das Gebet mit der Familie.
Es ist bezeichnend, dab der Mensch gerade im Gebet und durch das Gebet
auf äuberst schlichte und zugleich tiefgründige Weise seine ihm eigentümliche
Subjektivität entdeckt: das menschliche »Ich« nimmt im Gebet leichter die
Tiefgründigkeit seines Personseins wahr. Das gilt auch für die Familie,
die nicht nur die fundamentale »Zelle« der Gesellschaft ist, sondern auch
eine eigene, besondere Subjektivität besitzt. Die erste und grundlegende
Bestätigung findet dies und konsolidiert sich dann, wenn die Mitglieder
der Familie einander in der gemeinsamen Anrufung begegnen: »Vater unser.«
Das Gebet kräftigt die geistliche Stärkung und Festigung der Familie, indem
es dazu beiträgt, sie an der »Stärke« Gottes teilhaben zu lassen. Bei dem
feierlichen »Brautsegen« während der Eheschliebungsfeier ruft der Zelebrant
den Herrn mit den Worten an: »Giebe über sie (die Neuvermählten) die Gnade
des Heiligen Geistes aus, damit sie kraft deiner Liebe, die ihre Herzen
erfüllt, in ihrem ehelichen Bund einander treu bleiben.«8 Aus dieser »Ausgiebung
des Geistes« erwächst die den Familien innewohnende Stärke ebenso wie die
Kraft, die in der Lage ist, sie in der Liebe und in der Wahrheit zu einigen.
Die Liebe und Sorge für alle Familien
5. Möge das Jahr der Familie zu einem einstimmigen und universalen Gebet
der einzelnen »Hauskirchen« und des ganzen Volkes Gottes werden! Möge dieses
Gebet auch die Familien erreichen, die in Schwierigkeiten oder in Gefahr
sind, die verzagt oder getrennt sind und diejenigen, die sich in Situationen
befinden, welche Familiaris consortio als »irregulär« bezeichnet.9
Mögen sie alle sich von der Liebe und Sorge der Brüder und Schwestern umfangen
fühlen!
Das Gebet im Jahr der Familie stellt zunächst ein ermutigendes Zeugnis
von seiten der Familien dar, die in der häuslichen Gemeinsamkeit ihre menschliche
und christliche Lebensberufung verwirklichen. Deren gibt es zahlreiche
in jeder Nation, Diözese und Pfarrei! Auch wenn man sich die nicht wenigen
»irregulären Situationen« vor Augen hält, so darf man vernünftigerweise
annehmen, dab jene »die Regel« darstellen. Und die Erfahrung zeigt, wie
entscheidend die Rolle einer Familie in Übereinstimmung mit den sittlichen
Normen ist, damit der Mensch, der in ihr geboren wird und seine Erziehung
erfährt, ohne Unsicherheiten den Weg des Guten einschlägt, das ihm ja ewig
in sein Herz geschrieben ist. Auf die Zersetzung der Familien scheinen
in unseren Tagen leider verschiedene Programme ausgerichtet zu sein, die
von sehr einflubreichen Medien unterstützt werden. Es scheint bisweilen
so zu sein, dab unter allen Umständen versucht wird, Situationen, die tatsächlich
»irregulär« sind, als »regulär« und anziehend darzustellen, indem man ihnen
den äuberen Anschein eines verlockenden Zaubers verleiht; sie widersprechen
tatsächlich der »Wahrheit und der Liebe«, die die gegenseitige Beziehung
zwischen Männern und Frauen inspirieren und leiten sollen, und sind daher
Anlab für Spannungen und Trennungen in den Familien mit schwerwiegenden
Folgen besonders für die Kinder. Das moralische Gewissen wird verdunkelt,
was wahr, gut und schön ist, wird entstellt, und die Freiheit wird in Wirklichkeit
von einer regelrechten Knechtschaft verdrängt. Wie aktuell und anregend
klingen angesichts all dessen die Worte des Paulus in bezug auf die Freiheit,
mit der Christus uns befreit hat, und die von der Sünde verursachte Knechtschaft
(vgl. Gal 5,1)!
Man ist sich also bewubt, wie angemessen, ja notwendig in der Kirche
ein Jahr der Familie ist; wie unerläblich das Zeugnis aller Familien ist,
die tagtäglich ihre Berufung leben; wie dringend ein intensives Gebet der
Familien ist, das wächst und die ganze Erde umspannt und in dem die Danksagung
für die Liebe in der Wahrheit, für die »Ausgiebung der Gnade des Heiligen
Geistes«,10 für die Anwesenheit Christi unter Eltern und Kindern zum Ausdruck
kommt: Christi, des Erlösers und Bräutigams, der uns »bis zur Vollendung
geliebt hat« (vgl. Joh 13,1). Wir sind zutiefst davon überzeugt,
dab diese Liebe gröber als alles ist (vgl. 1 Kor 13,13), und wir
glauben, dab sie imstande ist, siegreich all das zu überwinden, was nicht
Liebe ist.
Möge dieses Jahr unablässig das Gebet der Kirche, das Gebet der Familien,
der »Hauskirchen«, emporsteigen! Und möge es sich zuerst bei Gott und dann
auch bei den Menschen vernehmen lassen, damit sie nicht in Zweifel verfallen
und alle, die aus menschlicher Schwachheit wankend werden, nicht den Versuchungen
der Faszination von nur scheinbar Gutem erliegen, wie sie sich in jeder
Versuchung darbieten.
Zu Kana in Galiläa, wo Jesus zu einer Hochzeitsfeier eingeladen war,
wandte sich die Mutter, die ebenso zugegen war, an die Diener und sagte:
»Was er euch sagt, das tut« (Joh 2,5). Auch an uns, die wir in das
Jahr der Familie eingetreten sind, richtet Maria eben diese Worte. Und
was Christus in diesem besonderen geschichtlichen Augenblick sagt, stellt
einen starken Aufruf zu einem groben Gebet mit den Familien und für die
Familien dar. Die jungfräuliche Mutter lädt uns ein, uns mit diesem Gebet
den Empfindungen des Sohnes zu verbinden, der eine jede Familie liebt.
Diese Liebe hat er zu Beginn seiner Erlösungssendung eben mit seiner heilbringenden
Anwesenheit in Kana in Galiläa zum Ausdruck gebracht, eine Anwesenheit,
die bis heute andauert.
Bitten wir für die Familien in aller Welt. Bitten wir durch ihn, mit
ihm und in ihm den Vater, »nach dessen Namen jedes Geschlecht im Himmel
und auf der Erde benannt wird« (Eph 3,15).
I.
DIE ZIVILISATION DER LIEBE
»Als Mann und Frau schuf er sie«
6. Der unendliche und so vielfältige Kosmos, die Welt aller Lebewesen,
ist in die Vaterschaft Gottes als sein Quell eingeschrieben (vgl. Eph
3,14–16). Er ist ihr natürlich eingeschrieben nach dem Kriterium der
Analogie, aufgrund dessen es uns möglich ist, schon am Beginn des Buches
Genesis die Wirklichkeit der Vaterschaft und Mutterschaft und daher
auch der menschlichen Familie zu erkennen. Der interpretative Schlüssel
dazu liegt im Prinzip des »Abbildes« und der »Ähnlichkeit« Gottes, die
der biblische Text nachdrücklich betont (vgl. Gen 1,26). Gott erschafft
kraft seines Wortes: »Es werde!« (z.B. Gen 1,3). Es ist bedeutsam,
dab dieses Wort Gottes bei der Erschaffung des Menschen durch diese weiteren
Worte ergänzt wird: »Labt uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich«
(Gen 1,26). Der Schöpfer geht, bevor er den Menschen schafft, gleichsam
in sich selbst, um darin das Vorbild und die Inspiration im Geheimnis seines
Wesens zu suchen, das sich in gewisser Hinsicht schon hier als das göttliche
»Wir« offenbart. Aus diesem Geheimnis geht auf schöpferische Weise der
Mensch hervor: »Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild
Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie« (Gen 1,27).
Gott segnet die neuen Wesen und spricht zu ihnen: »Seid fruchtbar und
vermehrt euch, bevölkert die Erde; unterwerft sie euch« (Gen 1,28).
Das Buch Genesis gebraucht dieselben Formulierungen, die im Zusammenhang
der Erschaffung der anderen Lebewesen verwendet wurden: »Vermehrt euch«,
aber ihr analoger Sinn ist klar. Mub nicht diese Analogie von Zeugung und
Elternschaft im Licht des Gesamtzusammenhanges gelesen werden? Keines der
Lebewesen auber dem Menschen wurde »als Abbild Gottes und ihm ähnlich«
geschaffen. Die menschliche Elternschaft hat, obwohl sie jener anderer
Lebewesen in der Natur biologisch ähnlich ist, an sich wesenhaft und ausschlieblich
eine »Ähnlichkeit« mit Gott, auf die sich die Familie gründet, die als
menschliche Lebensgemeinschaft, als Gemeinschaft von Personen, die in der
Liebe vereint sind (communio personarum), verstanden wird.
Im Licht des Neuen Testamentes ist es möglich, das Urmodell der Familie
in Gott selbst, im trinitarischen Geheimnis seines Lebens, wiederzuerkennen.
Das göttliche »Wir« bildet das ewige Vorbild des menschlichen »Wir«; vor
allem jenes »Wir«, das von dem nach dem Abbild und der Ähnlichkeit Gottes
geschaffenen Mann und der Frau gebildet ist. Die Worte des Buches Genesis
enthalten jene Wahrheit über den Menschen, der die Erfahrung der Menschheit
selbst entspricht. Der Mensch wurde »am Anfang« als Mann und Frau geschaffen:
Das Leben der menschlichen Gemeinschaft – der kleinen Gemeinschaften wie
der ganzen Gesellschaft – trägt das Zeichen dieser Ur-Dualität. Aus ihr
gehen die »Männlichkeit« und die »Weiblichkeit« der einzelnen Individuen
hervor, so wie aus ihr jede Gemeinschaft ihren je eigentümlichen Reichtum
in der gegenseitigen Ergänzung der Personen schöpft. Darauf scheint sich
die Stelle aus dem Buch Genesis zu beziehen: »Als Mann und Frau
schuf er sie« (Gen 1,27). Das ist auch die erste Aussage über die
gleiche Würde von Mann und Frau: Beide sind in gleicher Weise Personen.
Diese ihre Begründung mit der besonderen Würde, die sich daraus ergibt,
bestimmt schon »am Anfang« die Wesensmerkmale des gemeinsamen Gutes der
Menschheit in jeder Dimension und jedem Bereich des Lebens. Zu diesem gemeinsamen
Gut leisten beide, der Mann und die Frau, ihren je eigenen Beitrag, dank
dessen sich an den Wurzeln des menschlichen Zusammenlebens selbst der Charakter
von Gemeinsamkeit und Ergänzung findet.
Der eheliche Bund
7. Die Familie wurde stets als erster und grundlegender Ausdruck der
sozialen Natur des Menschen angesehen. In ihrem wesentlichen Kern hat sich
diese Sicht auch heute nicht geändert. In unseren Tagen jedoch zieht man
es vor, in der Familie, die die kleinste anfängliche menschliche Gemeinschaft
darstellt, alles hervorzuheben, was persönlicher Beitrag des Mannes und
der Frau ist. Die Familie ist tatsächlich eine Gemeinschaft von Personen,
für welche die spezifische Existenzform und Art des Zusammenlebens die
Gemeinsamkeit ist: communio personarum. Auch hier tritt bei Wahrung
der absoluten Transzendenz des Schöpfers der Schöpfung gegenüber der exemplarische
Bezug zum göttlichen »Wir« hervor. Nur Personen sind imstande, »in Gemeinsamkeit«
zu leben. Ihren Ausgang nimmt die Familie von der ehelichen Verbindung,
die das Zweite Vatikanische Konzil als »Bund« bezeichnet, in dem sich Mann
und Frau »gegenseitig schenken und annehmen«.11
Das Buch Genesis macht uns offen für diese Wahrheit, wenn es
unter Bezugnahme auf die Gründung der Familie durch die Ehe sagt, »der
Mann verläbt Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden
ein Fleisch« (Gen 2,24). Im Evangelium wiederholt Christus im Streitgespräch
mit den Pharisäern dieselben Worte und fügt hinzu: »Sie sind also nicht
mehr zwei, sondern eins. Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch
nicht trennen« (Mt 19,6). Er offenbart von neuem den normativen
Inhalt einer Tatsache, die bereits »am Anfang« (Mt 19,8) bestand
und die diesen Inhalt immer in sich bewahrt. Wenn der Meister das »jetzt«
bestätigt, so tut er das, um an der Schwelle des Neuen Bundes den unauflöslichen
Charakter der Ehe als Fundament des Gemeinwohls der Familie unmibverständlich
klarzumachen.
Wenn wir zusammen mit dem Apostel die Knie vor dem Vater beugen, nach
dessen Namen jede Elternschaft benannt ist (vgl. Eph 3,14–15), erkennen
wir, dab das Elternsein das Ereignis ist, durch das die bereits mit dem
Ehebund gebildete Familie sich »im vollen und eigentlichen Sinn« verwirklicht.12
Die Mutterschaft schliebt notwendig die Vaterschaft, und umgekehrt, die
Vaterschaft notwendig die Mutterschaft ein: Sie ist Frucht der Dualität,
die dem Menschen vom Schöpfer »am Anfang« geschenkt wurde.
Ich habe auf zwei miteinander verwandte, aber nicht identische Begriffe
Bezug genommen: den Begriff communio (Gemeinsamkeit) und den Begriff
communitas (Gemeinschaft). Die »Gemeinsamkeit« betrifft die persönliche
Beziehung zwischen dem »Ich« und dem »Du«. Die »Gemeinschaft« dagegen übersteigt
dieses Schema in Richtung einer »Gesellschaft«, eines »Wir«. Die Familie
als Gemeinschaft von Personen ist daher die erste menschliche »Gesellschaft«.
Sie entsteht, wenn der bei der Trauung geschlossene eheliche Bund sich
verwirklicht, der die Eheleute für eine dauernde Liebes- und Lebensgemeinschaft
öffnet und sich im vollen und eigentlichen Sinn mit der Zeugung von Kindern
vervollständigt: Mit der »Gemeinsamkeit« der Eheleute beginnt diese grundlegende
»Gemeinschaft« der Familie. Die »Familiengemeinschaft« ist zutiefst von
dem durchdrungen, was das eigentliche Wesen der »Gemeinsamkeit« ausmacht.
Kann es auf menschlicher Ebene eine andere »Gemeinsamkeit« geben, welche
jener vergleichbar wäre, die zwischen der Mutter und dem Kind entsteht,
das sie zuerst im Schob getragen und dann zur Welt gebracht hat?
In der so begründeten Familie offenbart sich eine neue Einheit, in der
die Beziehung der »Gemeinsamkeit« der Eltern volle Erfüllung findet. Die
Erfahrung lehrt, dab diese Erfüllung auch eine Aufgabe und eine Herausforderung
darstellt. Die Aufgabe verpflichtet die Ehegatten in der Verwirklichung
ihres anfänglichen Bundes. Die von ihnen gezeugten Kinder mübten – und
darin besteht die Herausforderung – diesen Bund dadurch festigen, dab sie
die eheliche Gemeinsamkeit von Vater und Mutter bereichern und vertiefen.
Ist das nicht der Fall, so mub man sich fragen, ob nicht der Egoismus,
der sich wegen der menschlichen Neigung zum Bösen auch in der Liebe des
Mannes und der Frau verbirgt, stärker ist als diese Liebe. Die Ehegatten
müssen sich dessen sehr klar bewubt sein. Sie müssen von Anfang an ihre
Herzen und Gedanken jenem Gott zuwenden, »nach dessen Namen jedes Geschlecht
benannt wird«, damit ihre Elternschaft jedes Mal aus dieser Quelle die
Kraft zur unablässigen Erneuerung der Liebe schöpfe.
Vaterschaft und Mutterschaft stellen an sich eine besondere Bestätigung
der Liebe dar, deren ursprüngliche Weite und Tiefe zu entdecken sie ermöglichen.
Das geschieht jedoch nicht automatisch. Es ist vielmehr eine Aufgabe, die
beiden übertragen ist: dem Ehemann und der Ehefrau. In ihrem Leben stellen
Vaterschaft und Mutterschaft eine »Neuheit« und eine Fülle dar, die so
erhaben sind, dab man sie nur »auf den Knien« empfangen kann.
Die Erfahrung lehrt, dab die menschliche Liebe wegen ihrer auf die Elternschaft
hingeordneten Natur bisweilen eine tiefe Krise durchmacht und daher ernsthaft
bedroht ist. Man wird in solchen Fällen in Erwägung ziehen, sich an die
Dienste zu wenden, die von Ehe- und Familienberatern angeboten werden,
durch die es möglich ist, sich unter anderem von besonders ausgebildeten
Psychologen und Psychotherapeuten Hilfe geben zu lassen. Man darf jedoch
nicht vergessen, dab die Worte des Apostels immer gültig bleiben: »Ich
beuge meine Knie vor dem Vater, nach dessen Namen jedes Geschlecht im Himmel
und auf der Erde benannt wird.« Die Ehe, das Ehesakrament, ist ein in Liebe
geschlossener Bund von Personen. Und die Liebe kann nur von der Liebe vertieft
und geschützt werden, jener Liebe, die »ausgegossen ist in unsere Herzen
durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist« (Röm 5,5). Sollte
sich das Gebet des Jahres der Familie nicht auf den entscheidenden Punkt
konzentrieren, den der Übergang von der ehelichen Liebe zur Zeugung und
somit zur Elternschaft darstellt? Wird nicht gerade da die »Ausgiebung
der Gnade des Heiligen Geistes«, die die Liturgie während der Trauungsfeier
erbittet, unentbehrlich?
Der Apostel bittet den Vater, während er seine Knie vor ihm beugt, »er
möge euch . . . schenken, dab ihr in eurem Innern durch seinen Geist an
Kraft und Stärke zunehmt« (Eph 3,16). Diese »Kraft im Innern des
Menschen« wird im gesamten Familienleben benötigt, besonders in seinen
kritischen Augenblicken, wenn also die Liebe, die in dem liturgischen Ritus
des Ehekonsenses mit den Worten ausgedrückt wurde: »Ich verspreche, dir
immer, . . . alle Tage meines Lebens treu zu bleiben«, einer schweren Prüfung
ausgesetzt ist.
Die Einheit der beiden
8. Nur die »Personen« sind imstande, diese Worte auszusprechen; nur
sie sind fähig, auf der Grundlage der gegenseitigen Wahl, die ganz bewubt
und frei ist bzw. sein sollte, »in Gemeinsamkeit« zu leben. Das Buch Genesis
stellt dort, wo es auf den Mann Bezug nimmt, der Vater und Mutter verläbt,
um sich an seine Frau zu binden (vgl. Gen 2,24), die bewubte und
freie Wahl heraus, die der Ehe ihren Anfang verleiht und einen Sohn zum
Ehemann und eine Tochter zur Ehefrau werden läbt. Wie soll man diese gegenseitige
Wahl richtig verstehen, wenn man nicht die volle Wahrheit über die Person
und das vernünftige und freie Wesen vor Augen hat? Das Zweite Vatikanische
Konzil spricht hier unter Verwendung wie nie zuvor bedeutungsvoller Worte
von der Ähnlichkeit mit Gott. Es bezieht sich dabei nicht nur auf das göttliche
Ebenbild, das bereits jedes menschliche Wesen an und für sich besitzt,
sondern auch und in erster Linie auf »eine gewisse Ähnlichkeit zwischen
der Einheit der göttlichen Personen und der Einheit der Kinder Gottes in
der Wahrheit und der Liebe«.13
Diese besonders reichhaltige und prägnante Formulierung stellt vor allem
heraus, was für die tiefste Identität jedes Mannes und jeder Frau entscheidend
ist. Diese Identität besteht in der Fähigkeit, in der Wahrheit und in der
Liebe zu leben; ja, noch mehr, sie besteht in dem Verlangen nach Wahrheit
und Liebe als bestimmende Dimension des Lebens der Person. Dieses Verlangen
nach Wahrheit und Liebe macht den Menschen sowohl offen für Gott wie für
die Geschöpfe: Es macht ihn offen für die anderen Menschen, für das Leben
»in Gemeinschaft«, vor allem für die Ehe und die Familie. In den Worten
des Konzils ist die »Gemeinschaft« der Personen in gewissem Sinne aus dem
Geheimnis des trinitarischen »Wir« abgeleitet, und auch die »eheliche Gemeinschaft«
wird auf dieses Geheimnis bezogen. Die Familie, die aus der Liebe des Mannes
und der Frau entsteht, erwächst in grundlegender Weise aus dem Mysterium
Gottes. Das entspricht dem tiefsten Wesen des Mannes und der Frau, es entspricht
ihrer Natur und ihrer Würde als Personen.
Mann und Frau vereinen sich in der Ehe so innig miteinander, dab sie
– nach den Worten der Genesis – »ein Fleisch« werden (Gen
2,24). Die zwei Menschenwesen, die auf Grund ihrer physischen Verfassung
männlich und weiblich sind, haben trotz körperlicher Verschiedenheit in
gleicher Weise teil an der Fähigkeit, »in der Wahrheit und der Liebe« zu
leben. Diese Fähigkeit, die für das menschliche Wesen, insofern es Person
ist, charakteristisch ist, hat zugleich eine geistige und körperliche Dimension.
Denn durch den Leib sind der Mann und die Frau darauf vorbereitet, in der
Ehe eine »Gemeinschaft von Personen« zu bilden. Wenn sie sich kraft des
ehelichen Bundes so vereinen, dab sie »ein Fleisch« werden (Gen
2,24), mub sich ihre Vereinigung »in der Wahrheit und der Liebe« erfüllen
und auf diese Weise die eigentliche Reife der nach dem Abbild und Gleichnis
Gottes erschaffenen Personen an den Tag legen.
Die aus dieser Vereinigung hervorgegangene Familie gewinnt ihre innere
Festigkeit aus dem Bund zwischen den Ehegatten, den Christus zum Sakrament
erhoben hat. Sie empfängt ihren Gemeinschaftscharakter, ja ihre Wesensmerkmale
als »Gemeinschaft« aus jener grundlegenden Gemeinsamkeit der Ehegatten,
die sich in den Kindern fortsetzt. »Seid ihr bereit, in Verantwortung und
Liebe die Kinder, die Gott euch schenken will, anzunehmen und zu erziehen
. . . ?«, fragt der Zelebrant während des Trauungsritus.14 Die Antwort
der Brautleute entspricht der tiefsten Wahrheit der Liebe, die sie verbindet.
Auch wenn ihre Einheit sie untereinander verschliebt, öffnet sie sich doch
auf ein neues Leben, auf eine neue Person hin. Als Eltern werden sie fähig
sein, einem Wesen, das ihnen ähnlich ist, das Leben zu schenken, nicht
nur »Fleisch von ihrem Fleisch und Bein von ihrem Gebein« (vgl. Gen
2,23), sondern Abbild und Gleichnis Gottes, das heibt Person.
Mit der Frage: »Seid ihr bereit?« erinnert die Kirche die Neuvermählten
daran, dab sie sich im Angesicht der Schöpfermacht Gottes befinden. Sie
sind berufen, Eltern zu werden, das heibt, mit dem Schöpfer mitzuwirken
bei der Weitergabe des Lebens. Mit Gott zusammenarbeiten, um neue Menschen
ins Leben zu rufen, heibt mitwirken an der Übertragung jenes göttlichen
Abbildes, das jedes »von einer Frau geborene« Wesen in sich trägt.
Die Genealogie der Person
9. Durch die Gemeinschaft von Personen, die sich in der Ehe verwirklicht,
gründen der Mann und die Frau die Familie. Mit der Familie verbindet sich
die Genealogie jedes Menschen: die Genealogie der Person. Die menschliche
Elternschaft hat ihre Wurzeln in der Biologie und geht zugleich über sie
hinaus. Wenn der Apostel »seine Knie vor dem Vater beugt, nach dessen Namen
jedes Geschlecht im Himmel und auf der Erde benannt wird«, stellt er uns
in gewissem Sinne die gesamte Welt der Lebewesen vor Augen, von den Geistwesen
im Himmel bis zu den leiblichen Geschöpfen auf der Erde. Jede Zeugung findet
ihr Ur-Modell in der Vaterschaft Gottes. Doch im Fall des Menschen genügt
diese »kosmische« Dimension der Gottähnlichkeit nicht, um die Beziehung
von Vaterschaft und Mutterschaft angemessen zu definieren. Wenn aus der
ehelichen Vereinigung der beiden ein neuer Mensch entsteht, so bringt er
ein besonderes Abbild Gottes, eine besondere Ähnlichkeit mit Gott selbst
in die Welt: In die Biologie der Zeugung ist die Genealogie der Person
eingeschrieben.
Wenn wir sagen, die Ehegatten seien als Eltern bei der Empfängnis und
Zeugung eines neuen Menschen Mitarbeiter des Schöpfergottes,15 beziehen
wir uns nicht einfach auf die Gesetze der Biologie; wir wollen vielmehr
hervorheben, dab in der menschlichen Elternschaft Gott selbst in einer
anderen Weise gegenwärtig ist als bei jeder anderen Zeugung »auf Erden«.
Denn nur von Gott kann jenes »Abbild und jene Ähnlichkeit« stammen, die
dem Menschen wesenseigen ist, wie es bei der Schöpfung geschehen ist. Die
Zeugung ist die Fortführung der Schöpfung.16
So stehen also die Eltern sowohl bei der Empfängnis wie bei der Geburt
eines neuen Menschen vor einem »tiefen Geheimnis« (Eph 5,32). Nicht
anders als die Eltern ist auch der neue Mensch zur Existenz als Person,
zum Leben »in der Wahrheit und der Liebe«, berufen. Diese Berufung öffnet
sich nicht nur dem Zeitlichen, sondern in Gott öffnet sie sich der Ewigkeit.
Das ist die Dimension der Genealogie der Person, die Christus uns endgültig
enthüllt hat, als er das Licht seines Evangeliums auf das menschliche Leben
und Sterben und damit auf die Bedeutung der menschlichen Familie ausgob.
Wie das Konzil feststellt, ist der Mensch »auf Erden die einzige von
Gott um ihrer selbst willen gewollte Kreatur«.17 Die Entstehung des Menschen
folgt nicht nur den Gesetzen der Biologie, sondern unmittelbar dem Schöpferwillen
Gottes: Es ist der Wille, der die Genealogie der Söhne und Töchter der
menschlichen Familien angeht. Gott hat den
Menschen schon am Anfang »gewollt« – und Gott »will« ihn bei jeder menschlichen
Empfängnis und Geburt. Gott »will« den Menschen als ein Ihm selbst ähnliches
Wesen, als Person. Dieser Mensch, jeder Mensch wird von Gott »um seiner
selbst willen« geschaffen. Das gilt für alle, auch jene, die mit Krankheiten
oder Gebrechen zur Welt kommen. In die persönliche Verfassung eines jeden
ist der Wille Gottes eingeschrieben, der den Menschen in gewissem Sinne
selbst als Ziel will. Gott übergibt den Menschen sich selbst, während er
ihn zugleich der Familie und der Gesellschaft als deren Aufgabe anvertraut.
Die Eltern, die vor einem neuen Menschenwesen stehen, sind sich oder sollten
sich voll dessen bewubt sein, dab Gott diesen Menschen »um seiner selbst
willen will«.
Diese knappe Formulierung ist sehr inhaltsreich und tiefgreifend. Vom
Augenblick der Empfängnis und dann von der Geburt an ist das neue Wesen
dazu bestimmt, sein Menschsein in Fülle zum Ausdruck zu bringen – sich
als Person zu »finden«.18 Das betrifft absolut alle, auch die chronisch
Kranken und geistig Behinderten. »Mensch sein« ist seine fundamentale Berufung:
»Mensch sein« nach Mabgabe der empfangenen Gaben. Nach Mabgabe jener »Begabung«,
die das Menschsein an sich darstellt, und erst dann nach Mabgabe der anderen
Talente. In diesem Sinne will Gott jeden Menschen »um seiner selbst willen«.
In dem Plan Gottes überschreitet die Berufung der menschlichen Person jedoch
die zeitlichen Grenzen. Sie kommt dem Willen des Vaters entgegen, der im
fleischgewordenen Wort geoffenbart worden ist: Gott will den Menschen dadurch
beschenken, dab er ihn an seinem göttlichen Leben teilhaben läbt. Christus
sagt: »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben«
(Joh 10,10).
Steht die letzte Bestimmung des Menschen nicht im Widerspruch zu der
Feststellung, dab Gott den Menschen »um seiner selbst willen« will? Wenn
der Mensch für das göttliche Leben geschaffen ist, existiert er dann wirklich
»um seiner selbst willen«? Das ist eine Schlüsselfrage, die sowohl für
das Aufblühen wie für das Verlöschen der irdischen Existenz grobe Bedeutung
hat: Sie ist für den Verlauf des ganzen Lebens wichtig. Es könnte den Anschein
haben, dab Gott dem Menschen dadurch, dab er ihn für das göttliche Leben
bestimmt, endgültig sein Existieren »um seiner selbst willen« entzieht.19
Welche Beziehung besteht zwischen dem persönlichen Leben und der Teilhabe
am trinitarischen Leben? Darauf antwortet der hl. Augustinus mit den berühmten
Worten: »Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir.«20 Dieses »unruhige
Herz« deutet darauf hin, dab zwischen der einen und der anderen Zielsetzung
kein Widerspruch besteht, vielmehr eine Verbindung, eine Zuordnung, eine
tiefgreifende Einheit. Auf Grund der ihr eigenen Genealogie existiert die
nach dem Bild Gottes geschaffene Person gerade durch Teilhabe an Seinem
Leben »um ihrer selbst willen« und verwirklicht sich. Der Gehalt solcher
Verwirklichung ist die Fülle des Lebens in Gott, jenes Lebens, von dem
Christus spricht (vgl. Joh 6,37–40), der uns gerade dafür erlöst
hat, um uns dort hineinzuführen (vgl. Mk 10,45).
Die Ehegatten wünschen die Kinder für sich; und sie sehen in ihnen die
Krönung ihrer gegenseitigen Liebe. Sie wünschen sie für die Familie als
wertvollstes Geschenk.21 Es ist in gewissem Mab ein verständlicher Wunsch.
Doch ist der ehelichen und der elterlichen Liebe die Wahrheit über den
Menschen eingeschrieben, die in knapper und präziser Form vom Konzil ausgedrückt
wurde mit der Feststellung, dab Gott »den Menschen um seiner selbst willen
will«. Mit dem Willen Gottes mub der Wille der Eltern übereinstimmen: In
diesem Sinne müssen sie das neue menschliche Geschöpf wollen, wie es der
Schöpfer will: um seiner selbst willen. Das menschliche Wollen unterliegt
immer und unweigerlich dem Gesetz der Zeit und der Vergänglichkeit. Das
göttliche hingegen ist ewig. »Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe
ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschob hervorkamst, habe
ich dich geheiligt«, lesen wir im Buch des Propheten Jeremia (1, 5). Die
Genealogie der Person ist also zunächst mit der Ewigkeit Gottes verbunden
und erst danach mit der menschlichen Elternschaft, die sich in der Zeit
verwirklicht. Bereits im Augenblick der Empfängnis ist der Mensch hingeordnet
auf die Ewigkeit in Gott.
Das gemeinsame Wohl von Ehe und Familie
10. Der Ehekonsens definiert das der Ehe und der Familie gemeinsame
Wohl. »Ich nehme dich . . . als meine Frau – als meinen Mann – und verspreche
dir die Treue in guten und in bösen Tagen, in Gesundheit und Krankheit.
Ich will dich lieben, achten und ehren, solange ich lebe.«22 Die Ehe ist
eine einzigartige Gemeinsamkeit von Personen. Auf der Grundlage dieser
Gemeinsamkeit ist die Familie berufen, zu einer Gemeinschaft von Personen
zu werden. Es handelt sich dabei um eine Verpflichtung, die die Neuvermählten
»vor Gott und der Kirche« übernehmen, wie ihnen der Zelebrant im Augenblick
des Konsensaustausches in Erinnerung ruft.23 Zeugen dieser Verpflichtung
sind alle, die an dem Ritus teilnehmen; in ihnen sind in gewissem Sinne
die Kirche und die Gesellschaft als Lebensraum der neuen Familie vertreten.
Die Worte des Ehekonsenses legen fest, worin das gemeinsame Wohl des
Ehepaares und der Familie besteht. Zunächst das gemeinsame Wohl der Ehegatten:
die Liebe, die Treue, die Ehrerbietung, die Dauerhaftigkeit ihrer Verbindung
bis zum Tod: »alle Tage des Lebens.« Das Wohl der beiden, das zugleich
das Wohl eines jeden von ihnen ist, mub dann zum Wohl der Kinder werden.
Während das gemeinsame Wohl seiner Natur nach die einzelnen Personen verbindet,
gewährleistet es das wahre Wohl einer jeden von ihnen. Wenn die Kirche,
wie übrigens auch der Staat, den durch die oben wiedergegebenen Worte ausgedrückten
Konsens der Ehegatten entgegennimmt, so tut sie das, weil er »ihnen ins
Herz geschrieben ist« (Röm 2,15). Es sind die Ehegatten, die sich
gegenseitig den Ehekonsens leisten, indem sie vor Gott schwören, das heibt
die Wahrheit ihres Konsenses beteuern. Als Getaufte sind sie in der Kirche
Spender des Sakraments der Ehe. Der hl. Paulus lehrt, dab diese gegenseitige
Hingabe ein »tiefes Geheimnis« (Eph 5,32) ist.
Die Worte des Konsenses drücken also aus, was das gemeinsame Wohl der
Ehegatten darstellt, und weisen auf das hin, was das gemeinsame Wohl der
künftigen Familie sein mub. Um das hervorzuheben, richtet die Kirche an
sie die Frage, ob sie bereit seien, die Kinder, die Gott ihnen schenken
wird, anzunehmen und christlich zu erziehen. Die Frage bezieht sich auf
das gemeinsame Wohl des künftigen Kerns der Familie, während sie die in
die Gründung der Ehe und Familie eingeschriebene Genealogie der Personen
gegenwärtig hält. Die Frage der Kinder und ihrer Erziehung steht in engem
Zusammenhang mit dem Ehekonsens, mit dem Schwur von Liebe, ehelicher Achtung
und Treue bis zum Tod. Die Annahme und Erziehung der Kinder – zwei der
wichtigsten Zwecke – sind von der Erfüllung dieser Verpflichtung abhängig.
Die Elternschaft stellt eine Aufgabe nicht nur physischer, sondern geistlicher
Natur dar; denn über sie verläuft die Genealogie der Person, die ihren
ewigen Anfang in Gott hat und zu Ihm hinführen soll.
Über all das sollte das Jahr der Familie, ein Jahr des besonderen Gebets
der Familien, jede Familie in neuer und vertiefter Weise unterrichten.
Was für eine Fülle von Stichworten aus der Bibel könnte den Nährboden dieses
Gebetes bilden! Wichtig ist nur, dab zu den Worten der Heiligen Schrift
stets das persönliche Gedenken an die Ehegatten als Eltern und an die Kinder
und Enkel hinzukommt. Durch die Genealogie der Personen wird die eheliche
Gemeinsamkeit zu einer Gemeinsamkeit der Generationen. Der in dem festen
Vertrag vor Gott geschlossene sakramentale Bund der beiden dauert fort
und konsolidiert sich in der Aufeinanderfolge der Generationen. Er mub
zur Gebetseinheit werden. Damit das aber im Jahr der Familie auf bedeutsame
Weise sichtbar werden kann, mub das Beten zu einer Gewohnheit werden, die
im täglichen Leben jeder Familie verwurzelt ist. Das Gebet ist Danksagung,
Gotteslob, Bitte um Vergebung, inständige Bitte und Anrufung. In jeder
dieser Formen hat das Gebet der Familie Gott viel zu sagen. Es hat auch
den Menschen viel zu sagen, angefangen bei der gegenseitigen Gemeinsamkeit
der Personen, die durch familiäre Bande verbunden sind.
»Was ist der Mensch, dab du an ihn denkst?« (Ps 8,5), fragt der
Psalmist. Das Gebet ist der Ort, wo sich auf die schlichteste Weise das
schöpferische und väterliche Gedenken Gottes offenbart. Nicht nur und nicht
so sehr das Gedenken an Gott von seiten des Menschen als vielmehr das Gedenken
an den Menschen von seiten Gottes. Darum kann das Gebet der Familiengemeinschaft
zum Ort gemeinsamen und gegenseitigen Gedenkens werden: denn die Familie
ist Generationengemeinschaft. Beim Gebet sollen alle anwesend sein: die
Lebenden ebenso wie die bereits Verstorbenen und auch diejenigen, die noch
zur Welt kommen sollen. Es ist nötig, dab man in der Familie für jeden
betet, im Rahmen des Gutes, das die Familie für ihn, und des Gutes, das
er für die Familie darstellt. Das Gebet bekräftigt noch fester dieses Gut
eben als gemeinsames Gut der Familie. Ja, es läbt dieses Gut auch auf immer
neue Weise entstehen. Im Gebet ist die Familie gleichsam das erste »Wir«,
in dem jeder »ich« und »du« ist; jeder ist für den anderen Gatte bzw. Gattin,
Vater bzw. Mutter, Sohn oder Tochter, Bruder oder Schwester, Grobvater
oder Enkel.
Sind das die Familien, an die ich mich mit diesem Schreiben wende? Sicher
gibt es nicht wenige Familien von dieser Art, aber die Zeit, in der wir
leben, macht die Tendenz zu einer Beschränkung des Familienkerns auf den
Umfang von zwei Generationen offenkundig. Dies hat seinen Grund oft in
dem nur beschränkt vorhandenen Wohnraum, insbesondere in den groben Städten.
Nicht selten liegt es aber auch in der Überzeugung begründet, mehrere Generationen
zusammen störten die Vertraulichkeit und erschwerten zu sehr das Leben.
Ist aber nicht gerade das der schwächste Punkt? In den Familien unserer
Zeit gibt es wenig menschliches Leben. Es fehlen Personen, mit denen man
das gemeinsame Wohl schaffen und teilen kann; doch das Wohl verlangt seiner
Natur nach, geschaffen und mit anderen geteilt zu werden: bonum est
diffusivum sui (»das Guteistauf seine Ausbreitung hin angelegt.«)24
Je mehr das Wohl gemeinsam ist, desto mehr ist es auch eigenes Wohl: mein
– dein – unser. Das ist die innere Logik der Existenz im Guten, in der
Wahrheit und in der Liebe. Wenn der Mensch diese Logik anzunehmen und ihr
zu folgen versteht, wird seine Existenz wahrhaftig zu einer »aufrichtigen
Hingabe«.
Die aufrichtige Selbsthingabe
11. Der Feststellung, dab der Mensch auf Erden die einzige von Gott
um ihrer selbst willen gewollte Kreatur ist, fügt das Konzil sogleich hinzu,
dab er »sich selbst nur durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst vollkommen
finden kann«.25 Das könnte wie ein Widerspruch erscheinen, ist es tatsächlich
aber nicht. Es ist vielmehr das grobe staunenswerte Paradoxon der menschlichen
Existenz: einer Existenz, die berufen ist, der Wahrheit in der Liebe zu
dienen. Die Liebe sorgt dafür, dab sich der Mensch durch die aufrichtige
Selbsthingabe verwirklicht: Lieben heibt, alles geben und empfangen, was
man weder kaufen noch verkaufen, sondern sich nur aus freien Stücken gegenseitig
schenken kann.
Die Hingabe der Person verlangt ihrer Natur nach beständig und unwiderruflich
zu sein. Die Unauflöslichkeit der Ehe entspringt hauptsächlich aus dem
Wesen solcher Hingabe: Hingabe der Person an die Person. In diesem gegenseitigen
Sich-Hingeben kommt der bräutliche Charakter der Liebe zum Ausdruck. Im
Ehekonsens nennen sich die Neuvermählten bei ihrem Eigennamen: »Ich . .
. nehme dich . . . als meine Frau (als meinen Mann) und verspreche dir
die Treue . . . solange ich lebe.« Eine solche Hingabe verpflichtet viel
stärker und tiefer als alles, was auf welche Weise und um welchen Preis
auch immer »gekauft« werden kann. Während sie ihre Knie vor dem Vater beugen,
von dem jede Elternschaft stammt, werden sich die künftigen Eltern bewubt,
dab sie »erlöst« worden sind. Sie sind in der Tat um einen teuren Preis
losgekauft worden, um den Preis der aufrichtigsten Hingabe, die überhaupt
möglich ist, das Blut Christi, an dem sie durch das Sakrament teilhaben.
Liturgische Krönung des Ehekonsenses ist die Eucharistie – das Opfer des
»hingegebenen Leibes« und des »vergossenen Blutes« –, die im Konsens der
Brautleute in gewisser Weise ihren Ausdruck findet.
Wenn sich der Mann und die Frau in der Ehe in der Einheit des »einen
Fleisches« gegenseitig schenken und empfangen, tritt die Logik der aufrichtigen
Hingabe in ihr Leben ein. Ohne sie wäre die Ehe leer, während die auf diese
Logik gegründete Gemeinschaft der Personen zur Gemeinschaft der Eltern
wird. Wenn sie das Leben an ein Kind weitergeben, fügt sich im Bereich
des »Wir« der Eheleute ein neues menschliches »Du« ein, eine Person, die
sie mit einem neuen Namen benennen werden: »unser Sohn . . . ; unsere Tochter
. . . « »Ich habe einen Mann vom Herrn erworben« (Gen 4,1), sagt
Eva, die erste Frau der Geschichte. Ein menschliches Wesen, das zunächst
neun Monate lang erwartet und den Eltern und Geschwistern dann »offenbar
gemacht« wurde. Der Prozeb von Empfängnis und Entwicklung im Mutterschob,
Niederkunft und Geburt dient dazu, gleichsam einen geeigneten Raum zu schaffen,
damit sich das neue Geschöpf als »Gabe« kundmachen kann: denn das ist es
in der Tat von Anfang an. Könnte dieses zarte, hilflose Geschöpf, das in
allem von seinen Eltern abhängig und vollständig ihnen anvertraut ist,
etwa anders bezeichnet werden? Das Neugeborene gibt sich den Eltern damit
hin, dab es zur Existenz gelangt. Seine Existenz ist bereits ein Geschenk,
das erste Geschenk des Schöpfers an die Kreatur.
Im Neugeborenen verwirklicht sich das gemeinsame Wohl der Familie. Wie
das gemeinsame Wohl der Ehegatten Erfüllung in der ehelichen Liebe findet,
bereit, zu geben und das neue Leben zu empfangen, so verwirklicht sich
das gemeinsame Wohl der Familie durch dieselbe eheliche Liebe, die im Neugeborenen
Gestalt angenommen hat. In die Genealogie der Person ist die Genealogie
der Familie eingeschrieben, die durch die Vermerke in den Taufregistern
im Gedächtnis festgehalten wird, auch wenn diese nur die soziale Folge
der Tatsache sind, »dab ein Mensch zur Welt gekommen ist« (Joh 16,21).
Aber ist es wahr, dab das neue Menschenwesen ein Geschenk für die Eltern
ist? Ein Geschenk für die Gesellschaft? Allem Anschein nach deutet nichts
darauf hin. Die Geburt eines Menschen scheint manchmal schlicht als ein
statistisches Datum auf, das wie viele andere in den Berechnungen zum Bevölkerungswachstum
registriert wird. Sicher bedeutet die Geburt eines Kindes für die Eltern
zusätzliche Mühen, neue wirtschaftliche Belastungen und andere praktische
Bedingtheiten: Dies sind Gründe, die sie zu der Versuchung verleiten können,
keine weitere Geburt zu wollen.26 In manchen gesellschaftlichen und kulturellen
Kreisen macht sich diese Versuchung sehr stark bemerkbar. Ist also das
Kind kein Geschenk? Kommt es nur, um zu nehmen und nicht, um zu geben?
Das sind einige besorgniserregende Fragen, von denen sich der heutige Mensch
nur mit Mühe zu befreien vermag. Das Kind kommt und beansprucht Platz,
während es auf der Welt immer weniger Platz zu geben scheint. Aber stimmt
es wirklich, dab das Kind der Familie und der Gesellschaft nichts bringt?
Ist es etwa nicht ein »Teilchen« jenes gemeinsamen Gutes, ohne das die
menschlichen Gemeinschaften zerbrechen und Gefahr laufen zu sterben? Wie
könnte man das leugnen? Das Kind wird von sich aus zu einem Geschenk für
die Geschwister, für die Eltern, für die ganze Familie. Sein Leben wird
zum Geschenk für die Geber des Lebens, die nicht umhin können werden, die
Anwesenheit des Kindes, seine Teilnahme an ihrer Existenz, seinen Beitrag
zu ihrem und zum gemeinsamen Wohl der Familiengemeinschaft wahrzunehmen.
Das ist eine Wahrheit, die in ihrer Einfachheit und Tiefe selbstverständlich
ist trotz der Kompliziertheit und auch möglichen Pathologie der psychologischen
Struktur bestimmter Personen. Das Gemeinwohl der ganzen Gesellschaft liegt
im Menschen, der, wie erwähnt, »der Weg der Kirche«27 ist. Er ist zunächst
»die Ehre Gottes«: Gloria Dei vivens homo, wie es in dem bekannten
Ausspruch des hl. Irenäus heibt,28 der auch so übersetzt werden könnte:
»Es gereicht Gott zur Ehre, dab der Mensch lebt.« Wir stehen hier, so könnte
man sagen, vor der höchsten Definition des Menschen: Die Ehre Gottes ist
das gemeinsame Gut alles Existierenden; das gemeinsame Gut des Menschengeschlechtes.
Ja! Der Mensch ist ein gemeinsames Gut: gemeinsames Gut der Familie
und der Menschheit, der einzelnen Gruppen und der vielfältigen sozialen
Strukturen. Es bedarf jedoch einer bedeutsamen Unterscheidung nach Grad
und Modalität. Der Mensch ist zum Beispiel gemeinsames Gut der Nation,
der er angehört, oder des Staates, dessen Bürger er ist; aber er ist es
auf konkretere, einzigartige und unwiederholbare Weise für seine Familie;
er ist es nicht nur als zur Masse der Menschen gehörendes Individuum, sondern
als »dieser Mensch«. Der Schöpfergott ruft ihn »um seiner selbst willen«
ins Leben: Und damit, dab der Mensch zur Welt kommt, beginnt sein »grobes
Abenteuer«, das Abenteuer des Lebens. »Dieser Mensch« hat auf Grund seiner
menschlichen Würde jedenfalls Anspruch auf eigene Behauptung. Genau diese
Würde bestimmt ja den Platz der Person unter den Menschen und zunächst
in der Familie. In der Tat ist die Familie – mehr als jede andere menschliche
Wirklichkeit – der Bereich, in dem der Mensch durch die aufrichtige Selbsthingabe
»um seiner selbst willen« existieren kann. Deshalb bleibt sie eine soziale
Institution, die man nicht ersetzen kann und nicht ersetzen darf: Sie ist
»das Heiligtum des Lebens«.29
Die Tatsache, dab ein Mensch geboren wird, dab »ein Mensch zur Welt
gekommen ist« (Joh 16,21), stellt ein österliches Zeichen dar. Davon
spricht, wie der Evangelist Johannes berichtet, Jesus selbst zu den Jüngern
vor seinem Leiden und Tod, indem er die Traurigkeit über seinen Weggang
mit dem Schmerz einer gebärenden Frau vergleicht: »Wenn die Frau gebären
soll, ist sie bekümmert (d.h. sie leidet), weil ihre Stunde da ist; aber
wenn sie das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an ihre Not über der
Freude, dab ein Mensch zur Welt gekommen ist« (Joh 16,21). Die »Stunde«
des Todes Christi (vgl. Joh 13,1) wird hier mit der »Stunde« der
Frau in Geburtswehen verglichen; die Geburt eines neuen Menschen findet
ihre volle Entsprechung in dem von der Auferstehung des Herrn gewirkten
Sieg des Lebens über den Tod. Diese Gegenüberstellung gibt Anlab zu verschiedenen
Überlegungen. Wie die Auferstehung Christi die Offenbarung des Lebens jenseits
der Schwelle des Todes ist, so ist auch die Geburt eines Kindes Offenbarung
des Lebens, das durch Christus immer zur »Fülle des Lebens« bestimmt ist,
die in Gott selbst liegt: »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben
und es in Fülle haben« (Joh 10,10). Damit ist die wahre Bedeutung
des Wortes des hl. Irenäus – Gloria Dei vivens homo – in ihrem tiefgründigsten
Wert enthüllt.
Es ist die evangelische Wahrheit der Selbsthingabe, ohne die der Mensch
nicht »vollkommen zu sich selbst kommen« kann und die ihn erahnen läbt,
wie tief diese »aufrichtige Hingabe« in der Hingabe Gottes, des Schöpfers
und Erlösers, in »der Gnade des Heiligen Geistes«, deren »Ausgieben« auf
die Neuvermählten der Zelebrant während der Trauungsfeier erbittet, verwurzelt
ist. Ohne dieses »Ausgieben« wäre es wirklich schwierig, das alles zu begreifen
und als Berufung des Menschen zu erfüllen. Jedoch viele Menschen erfassen
es intuitiv! So viele Männer und Frauen tun genau diese Wahrheit, wodurch
sie zu der Erkenntnis gelangen, dab sie nur in ihr »der Wahrheit und dem
Leben« (Joh 14,6) begegnen. Ohne diese Wahrheit vermag das Leben
der Ehegatten und der Familie keinen vollkommen menschlichen Sinn zu erlangen.
Darum wird die Kirche niemals müde, diese Wahrheit zu lehren und zu
bezeugen. Auch wenn sie mütterliches Verständnis für die zahlreichen und
komplizierten Krisensituationen, in die die Familien verwickelt sind, sowie
auch für die moralische Schwachheit jedes Menschen bekundet, ist die Kirche
der Überzeugung, dab sie der Wahrheit über die menschliche Liebe absolut
treu bleiben müsse: andernfalls würde sie sich selbst verraten. Ein Abweichen
von dieser heilbringenden Wahrheit wäre in der Tat dasselbe, als würde
sie »die Augen eures Herzens« (Eph 1,18) schlieben, die hingegen
stets offen bleiben müssen für das Licht, mit dem das Evangelium die menschlichen
Geschehnisse erleuchtet (vgl. 2 Tim 1,10). Das Bewubtsein jener
aufrichtigen Selbsthingabe, durch die der Mensch »sich selbst findet«,
wird nachdrücklich erneuert und ständig gewährleistet angesichts der zahlreichen
Widerstände, denen die Kirche seitens der Befürworter einer falschen Zivilisation
des Fortschritts begegnet.30 Die Familie bringt immer eine neue Dimension
des Wohls für die Menschen zum Ausdruck und ruft dadurch neue Verantwortung
hervor. Es handelt sich um die Verantwortung für jenes einzigartige gemeinsame
Gut, in das das Wohl des Menschen eingeschlossen ist: jedes Mitgliedes
der Familiengemeinschaft; ein sicherlich »schwieriges« (bonum arduum),
aber faszinierendes Gut.
Die verantwortliche Elternschaft
12. Beim Entwurf des vorliegenden Schreibens an die Familien ist nun
der Zeitpunkt gekommen, auf zwei miteinander verknüpfte Fragen einzugehen.
Die eine allgemeinere betrifft die Zivilisation der Liebe; die andere spezifischere
betrifft die verantwortliche Elternschaft.
Wir haben bereits gesagt, dab die Ehe sich an eine einzigartige Verantwortung
für das gemeinsame Wohl wendet: zunächst der Ehegatten, dann der Familie.
Dargestellt wird dieses gemeinsame Gut vom Menschen, vom Wert der Person
und von allem, was das Mab seiner Würde repräsentiert. Der Mensch bringt
diese Dimension in jedes soziale, wirtschaftliche und politische System
mit. Im Bereich der Ehe und Familie wird diese Verantwortung aus vielen
Gründen noch »verbindlicher«. Nicht ohne Grund spricht die Pastoralkonstitution
Gaudium et spes von »Förderung der Würde der Ehe und der Familie«.
Das Konzil sieht diese »Förderung« als Aufgabe der Kirche wie des Staates;
doch sie bleibt in jeder Kultur vor allem Pflicht der Personen, die ehelich
vereint eine bestimmte Familie bilden. Die »verantwortliche Elternschaft«
bringt die konkrete Aufgabe zum Ausdruck, diese Pflicht zu erfüllen, die
in der heutigen Welt neue Wesensmerkmale angenommen hat.
Diese betrifft insbesondere direkt den Augenblick, wo der Mann und die
Frau dadurch, dab sie sich »zu einem Fleisch« vereinen, Eltern werden können.
Es ist ein an besonderem Wert reicher Augenblick, sei es für ihre interpersonale
Beziehung, sei es für ihren Dienst am Leben: Sie können Eltern – Vater
und Mutter – werden und das Leben an ein neues menschliches Wesen weitergeben.
Die beiden Dimensionen der ehelichen Vereinigung, nämlich Vereinigung und
Zeugung, lassen sich nicht künstlich trennen, ohne die tiefste Wahrheit
des ehelichen Aktes selbst anzugreifen.31
Das ist die ständige Lehre der Kirche, und die »Zeichen der Zeit«, deren
Zeugen wir heute sind, bieten neue Gründe, sie mit besonderem Nachdruck
zu bekräftigen. Der den pastoralen Erfordernissen seiner Zeit gegenüber
so aufmerksame hl. Paulus verlangte in Klarheit und Festigkeit, »dafür
einzutreten, ob man es hören will oder nicht« (vgl. 2 Tim 4,2),
ohne jede Angst davor, dab »man die gesunde Lehre nicht erträgt« (vgl.
2 Tim 4,3). Seine Worte sind allen gut bekannt, die das Geschehen
unserer Zeit zutiefst erfassen und erwarten, dab die Kirche »die gesunde
Lehre« nicht nur nicht aufgibt, sondern sie mit erneuerter Kraft verkündet,
indem sie in den aktuellen »Zeichen der Zeit« die Gründe für ihre weitere
und von der Vorsehung bestimmte Vertiefung erneut sucht.
Viele dieser Gründe finden sich bereits in den Wissenschaften wieder,
die sich aus dem alten Stamm der Anthropologie zu verschiedenen Fachgebieten,
wie der Biologie, der Psychologie, der Soziologie und deren weiteren Verzweigungen
entwickelt haben. Alle kreisen gewissermaben um die Medizin, die zugleich
Wissenschaft und Kunst ist (ars medica): im Dienst des Lebens und
der Gesundheit des Menschen. Aber die Gründe, auf die hier hingewiesen
wird, ergeben sich vor allem aus der menschlichen Erfahrung, die vielfältig
ist und die in gewissem Sinne der Wissenschaft selbst vorausgeht und folgt.
Die Ehegatten lernen aus eigener Erfahrung, was die verantwortliche
Elternschaft bedeutet; sie lernen es auch dank der Erfahrung anderer Ehepaare,
die in ähnlichen Verhältnissen leben und auf diese Weise aufgeschlossener
für die Daten der Wissenschaften geworden sind. Man könnte also sagen,
die »Gelehrten« lernen gleichsam von den »Eheleuten«, um dann ihrerseits
in der Lage zu sein, sie auf kompetentere Weise über die Bedeutung der
verantwortungsbewubten Zeugung und über die Methoden ihrer Anwendung zu
unterrichten.
Ausführlich wurde dieses Thema in den Konzilsdokumenten behandelt, in
der Enzyklika Humanae vitae, in den »Vorschlägen« der Bischofssynode
von 1980, in dem Apostolischen Schreiben Familiaris consortio und
in ähnlichen Dokumenten bis hin zu der von der Glaubenskongregation herausgegebenen
Instruktion Donum vitae. Die Kirche lehrt die moralische Wahrheit
über die verantwortliche Elternschaft und verteidigt sie gegen heute verbreitete
irrige Sichtweisen. Warum tut die Kirche das? Etwa weil sie die Problemlage
nicht zur Kenntnis nimmt, die von allen beschworen wird, die in diesem
Bereich zum Nachgeben raten und die Kirche auch mit unrechtmäbigem Druck,
wenn nicht manchmal geradezu mit Drohungen, zu überzeugen suchen? Nicht
selten wirft man dem kirchlichen Lehramt in der Tat vor, es sei bereits
überholt und verschliebe sich den Forderungen des modernen »Zeitgeistes«;
es entfalte ein Vorgehen, das für die Menschheit, ja für die Kirche selbst
schädlich sei. Durch das hartnäckige Verharren auf ihren Positionen würde
die Kirche – so heibt es – an Popularität verlieren, und die Gläubigen
würden sich immer mehr von ihr abwenden.
Doch wie kann man behaupten, die Kirche, besonders die mit dem Papst
vereinten Bischöfe, sei unempfindlich für solch schwerwiegende und aktuelle
Themen? Paul VI. erkannte gerade in ihnen so lebensentscheidende Fragen,
die ihn zur Veröffentlichung der Enzyklika Humanae vitae veranlabten.
Das Fundament, auf das sich die Lehre der Kirche von der »verantwortlichen
Elternschaft« gründet, ist umfassender und tragfähiger denn je. Das Konzil
bringt das zunächst in der Lehre über den Menschen zur Sprache, wenn es
sagt, dab er »auf Erden die einzige von Gott um seiner selbst willen gewollte
Kreatur ist« und »sich nur durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst
vollkommen finden kann«.32 Dies deshalb, weil er als Abbild und Gleichnis
Gottes geschaffen und von dem für uns und um unseres Heiles willen Mensch
gewordenen, eingeborenen Sohn des Vaters erlöst worden ist. Das Zweite
Vatikanische Konzil, das dem Problem des Menschen und seiner Berufung besondere
Aufmerksamkeit widmete, führt aus, dab die eheliche Vereinigung, das biblische
»ein Fleisch«, nur dann vollkommen verstanden und erklärt werden kann,
wenn man auf die Werte der »Person« und der »Hingabe« zurückgreift. Jeder
Mann und jede Frau verwirklichen sich vollständig durch die aufrichtige
Hingabe ihrer selbst, und der Augenblick der ehelichen Vereinigung stellt
für die Eheleute eine ganz besondere Erfahrung dar. Da werden der Mann
und die Frau in der »Wahrheit« ihrer Männlichkeit und Weiblichkeit zu gegenseitiger
Hingabe. Das ganze Leben in der Ehe ist Hingabe; in einzigartiger Weise
wird das aber offenkundig, wenn die Ehegatten durch ihr gegenseitiges Sich-Darbringen
in der Liebe jene Begegnung vollziehen, die aus den beiden »ein Fleisch«
macht (Gen 2,24).
Sie erleben also auch wegen der mit dem ehelichen Akt verbundenen Zeugungsfähigkeit
einen Augenblick besonderer Verantwortung. Die Ehegatten können in jenem
Augenblick Vater und Mutter werden, indem sie die Entstehung einer neuen
menschlichen Existenz hervorrufen, die sich dann im Schob der Frau entwickeln
wird. Wenn die Frau als erste bemerkt, dab sie Mutter geworden ist, so
erfährt durch ihr Zeugnis der Mann, mit dem sie sich zu »einem Fleisch«
vereinigt hat, seinerseits, dab er Vater geworden ist. Für die mögliche
und in der Folge tatsächliche Vater- bzw. Mutterschaft sind beide verantwortlich.
Der Mann mub das Ergebnis einer Entscheidung, die auch seine gewesen ist,
anerkennen und annehmen. Er kann sich nicht hinter Ausdrucksweisen verstecken
wie: »Ich weib nichts«, »ich will nicht«, »du hast gewollt.« Die eheliche
Vereinigung schliebt auf jeden Fall die Verantwortung des Mannes und der
Frau ein, eine potentiell vorhandene Verantwortung, die zur tatsächlichen
wird, wenn die Umstände es auferlegen. Das gilt vor allem für den Mann,
der, obwohl er der erste Urheber der Einleitung des Zeugungsprozesses ist,
biologisch davon Abstand hat: denn das neue Menschenwesen wächst in der
Frau heran. Wie könnte der Mann davon unberührt bleiben? Beide, der Mann
und die Frau, müssen gemeinsam sich selbst und den anderen gegenüber die
Verantwortung für das von ihnen hervorgerufene neue Leben übernehmen.
Diese Schlubfolgerung wird im wesentlichen von den Humanwissenschaften
geteilt. Man mub jedoch tiefer gehen und die Bedeutung des ehelichen Aktes
im Lichte der erwähnten Werte der »Person« und der »Hingabe« analysieren.
Das ist es, was die Kirche durch ihre beständige Lehre, besonders auf dem
Zweiten Vatikanischen Konzil, tut.
Im Augenblick des ehelichen Aktes sind der Mann und die Frau dazu aufgerufen,
die gegenseitige Hingabe ihrer selbst, die sie im ehelichen Bund geleistet
haben, auf verantwortungsbewubte Weise zu bestätigen. Nun zieht die Logik
der totalen Selbsthingabe an den anderen die potentielle Öffnung für die
Zeugung nach sich: Die Ehe ist somit aufgerufen, sich als Familie noch
vollkommener zu verwirklichen. Sicher hat die gegenseitige Hingabe von
Mann und Frau nicht als einziges Ziel die Geburt von Nachwuchs, sondern
ist in sich selbst die gegenseitige Gemeinschaft der Liebe und des Lebens.
Aber immer mub die innerste Wahrheit dieser Hingabe gewährleistet sein.
»Innerste« ist nicht gleichbedeutend mit »subjektiver« Wahrheit. Es bedeutet
vielmehr, dab sie wesentlich mit der objektiven Wahrheit desjenigen bzw.
derjenigen verbunden ist, der oder die sich hingibt. Die Person darf niemals
als Mittel zur Erreichung eines Zweckes betrachtet werden; niemals vor
allem als Mittel des »Genusses«. Sie ist und mub einzig das Ziel jedes
Aktes sein. Nur dann entspricht die Handlung der wahren Würde der Person.
Zum Abschlub unserer Überlegungen zu diesem so wichtigen und heiklen
Thema möchte ich ein besonderes Wort der Ermutigung zunächst an euch, liebe
Eheleute, und an alle jene richten, die euch helfen, die Lehre der Kirche
über die Ehe, über die verantwortliche Elternschaft zu verstehen und in
die Praxis umzusetzen. Ich denke insbesondere an die Seelsorger, an die
vielen Gelehrten, Theologen, Philosophen, Schriftsteller und Publizisten,
die sich nicht dem herrschenden Kulturkonformismus anpassen, sondern mutig
bereit sind, »gegen den Strom zu schwimmen«. Darüber hinaus betrifft diese
Ermutigung eine ständig wachsende Gruppe von Experten, Ärzten und Erziehern,
wahren Laienaposteln, für die die Förderung der Würde der Ehe und der Familie
zu einer wichtigen Lebensaufgabe geworden ist. Im Namen der Kirche sage
ich allen meinen Dank! Was könnten ohne sie die Seelsorger, die Priester,
die Bischöfe, ja selbst der Nachfolger Petri ausrichten? Davon habe ich
mich immer mehr überzeugt seit den ersten Jahren meines Priestertums, von
der Zeit an, als ich mich in den Beichtstuhl zu setzen begann, um die Sorgen,
Ängste und Hoffnungen so vieler Eheleute zu teilen: Ich bin schwierigen
Fällen von Auflehnung und Verweigerung begegnet, gleichzeitig aber zahllosen,
in grobartiger Weise verantwortlichen und grobzügigen Personen! Während
ich dieses Schreiben verfasse, habe ich alle diese Eheleute vor Augen und
umfange sie mit meiner Zuneigung und mit meinem Gebet.
Die zwei Zivilisationen
13. Liebe Familien, die Frage der verantwortlichen Elternschaft ist
eingeschrieben in die Gesamtthematik der »Zivilisation der Liebe«, über
die ich jetzt zu euch sprechen will. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich
klar, dab die Familie die Grundlage dessen bildet, was Paul VI. als »Zivilisation
der Liebe« bezeichnete,33 ein Ausdruck, der dann in die Lehre der Kirche
Eingang gefunden hat und bereits vertraut und gebräuchlich geworden ist.
Heutzutage läbt sich kaum ein Beitrag der Kirche oder über die Kirche denken,
der von der Bezugnahme auf die Zivilisation der Liebe absehen würde. Der
Ausdruck steht in Verbindung mit der Tradition der »Hauskirche« im Christentum
der Anfänge, besitzt aber auch einen klaren Bezug zur heutigen Zeit. Ethymologisch
leitet sich der Begriff »Zivilisation« von civis, Staatsbürger,
her und unterstreicht die politische Dimension der Existenz jedes Individuums.
Der tiefere Sinn des Ausdrucks »Zivilisation« ist jedoch nicht so sehr
politisch als eigentlich mehr »humanistisch«. Die Zivilisation gehört zur
Geschichte des Menschen, weil sie seinen geistigen und moralischen Bedürfnissen
entspricht: als Abbild und Gleichnis Gottes geschaffen, hat er die Welt
aus den Händen des Schöpfers mit dem Auftrag empfangen, sie nach seinem
Abbild und Gleichnis zu gestalten. Genau aus der Erfüllung dieser Aufgabe
entsteht die Zivilisation, die schlieblich nichts anderes ist als die »Humanisierung
der Welt«.
Zivilisation hat also in gewisser Hinsicht dieselbe Bedeutung wie »Kultur«.
Man könnte daher auch sagen: »Kultur der Liebe«, obwohl es vorzuziehen
ist, sich an den bereits vertraut gewordenen Ausdruck zu halten. Die Zivilisation
der Liebe im jetzigen Sinn des Ausdrucks inspiriert sich an den Worten
aus der Konzilskonstitution Gaudium et spes: »Christus . . . macht
. . . dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschliebt ihm seine
höchste Berufung.«34 Man kann daher sagen, die Zivilisation der Liebe beginnt
mit der Offenbarung Gottes, der »die Liebe ist«, wie Johannes sagt (1
Joh 4,8.16), und die von Paulus im Hohenlied der Liebe im ersten Korintherbrief
(13,1–13) wirkungsvoll beschrieben wird. Diese Zivilisation ist eng verbunden
mit der Liebe, die »ausgegossen ist in unsere Herzen durch den Heiligen
Geist, der uns gegeben ist« (Röm 5,5), und die wächst dank der beständigen
Kultivierung, von der die Allegorie aus dem Evangelium vom Weinstock und
von den Reben so einprägsam spricht: »Ich bin der wahre Weinstock, und
mein Vater ist der Winzer. Jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, schneidet
er ab, und jede Rebe, die Frucht bringt, reinigt er, damit sie mehr Frucht
bringt« (Joh 15,1–2).
Im Lichte dieser und anderer Texte des Neuen Testamentes vermag man
zu erfassen, was man unter »Zivilisation der Liebe« versteht und warum
die Familie mit dieser Zivilisation organisch verbunden ist. Wenn die Familie
der erste »Weg der Kirche« ist, mub man hinzufügen, dab auch die Zivilisation
der Liebe »Weg der Kirche« ist, der in der Welt verläuft und die Familien
und die anderen nationalen und internationalen gesellschaftlichen Institutionen
eben wegen der Familie und durch die Familien auf diesen Weg ruft. Denn
die Familie hängt in vielfacher Hinsicht von der Zivilisation der Liebe
ab, in der sie die Gründe ihres Seins als Familie findet. Und gleichzeitig
ist die Familie das Zentrum und das Herz der Zivilisation der Liebe.
Es gibt jedoch keine echte Liebe ohne das Bewubtsein, dab Gott »die
Liebe ist« und dab der Mensch das einzige Geschöpf Gottes auf Erden ist,
das »um seiner selbst willen« ins Leben gerufen wurde. Der als Abbild und
Gleichnis Gottes erschaffene Mensch kann sich nur durch die aufrichtige
Selbsthingabe in vollem Mabe »wiederfinden«. Ohne einen solchen Begriff
vom Menschen, von der Person und von der »Gemeinsamkeit von Personen« in
der Familie kann es die Zivilisation der Liebe nicht geben; umgekehrt ist
ohne die Zivilisation der Liebe ein solcher Begriff von Person und Gemeinsamkeit
von Personen nicht möglich. Die Familie stellt die fundamentale »Zelle«
der Gesellschaft dar. Doch bedarf es Christi – des »Weinstocks«, aus dem
sich die »Reben« nähren –, damit diese Zelle nicht der Bedrohung einer
Art kultureller Entwurzelung ausgesetzt ist, die sowohl von innen wie auch
von auben herrühren kann. Denn wenn auf der einen Seite die »Zivilisation
der Liebe« besteht, so ist auf der anderen Seite weiterhin die Möglichkeit
zu einer destruktiven »Anti-Zivilisation« gegeben, wie das in der Tat heute
von vielen Tendenzen und Situationen bestätigt wird.
Wer kann leugnen, dab unsere Zeit eine Zeit grober Krisen ist, die sich
an erster Stelle als eine tiefe »Krise der Wahrheit« darstellt? Krise der
Wahrheit bedeutet in erster Linie Krise von Begriffen. Bedeuten die Begriffe
»Liebe«, »Freiheit«, »aufrichtige Hingabe« und selbst die Begriffe »Person«,
»Rechte der Person« wirklich das, was sie von ihrem Wesen her beinhalten?
Deshalb hat sich die Enzyklika über den »Glanz der Wahrheit« (Veritatis
splendor) für die Kirche und für die Welt – vor allem im Westen – als so
kennzeichnend und bedeutsam erwiesen. Nur wenn die Wahrheit über die Freiheit
und die Gemeinsamkeit der Personen in Ehe und Familie ihren Glanz zurückgewinnt,
wird es wirklich den Aufbau der Zivilisation der Liebe geben und dann möglich
sein, wirksam – wie es das Konzil tut – von »Förderung der Würde der Ehe
und Familie«35 zu sprechen.
Warum ist der »Glanz der Wahrheit« so wichtig? Er ist es vor allem aus
Kontrast: Die Entwicklung der modernen Zivilisation ist an einen naturwissenschaftlich-technologischen
Fortschritt gebunden, der sich oft als einseitig erweist und demzufolge
rein positivistische Wesensmerkmale aufweist. Der Positivismus hat bekanntlich
auf theoretischem Gebiet den Agnostizismus und auf praktischem und sittlichem
Gebiet den Utilitarismus zum Ergebnis. In unseren Tagen wiederholt sich
die Geschichte in gewisser Hinsicht. Der Utilitarismus ist eine »Zivilisation«
der Produktion und des Genusses, eine Zivilisation der Dinge und nicht
der »Personen«, eine Zivilisation, in der von »Personen« wie von »Dingen«
Gebrauch gemacht wird. Im Zusammenhang mit der Zivilisation des Genusses
kann die Frau für den Mann zu einem Objekt werden, die Kinder zu einem
Hindernis für die Eltern, die Familie zu einer hemmenden Einrichtung für
die Freiheit der Mitglieder, die sie bilden. Um sich davon zu überzeugen,
braucht man nur manche Programme der Sexualerziehung zu prüfen, die häufig
trotz gegenteiliger Meinung und des Protestes vieler Eltern in den Schulen
eingeführt werden; oder die Neigung zur Abtreibung, die sich vergeblich
hinter dem sogenannten »Selbstentscheidungsrecht« (pro choice) von seiten
beider Ehegatten, im besonderen aber von seiten der Frau zu verstecken
sucht. Das sind nur zwei der vielen Beispiele, die man in Erinnerung rufen
könnte.
Es leuchtet unmittelbar ein, dab sich in einer solchen kulturellen Situation
die Familie bedroht fühlen mub, weil sie in ihren eigentlichen Grundfesten
gefährdet ist. Alles, was gegen die Zivilisation der Liebe ist, ist gegen
die Wahrheit über den Menschen insgesamt und wird für ihn zu einer Bedrohung:
Es erlaubt ihm nicht, zu sich selbst zu finden und sich als Gatte, als
Vater oder Mutter, als Kind sicher zu fühlen. Die von der »technischen
Zivilisation« propagierte sogenannte »sichere Sexualität« ist im Hinblick
auf die globalen Erfordernisse der Person in Wirklichkeit ganz entschieden
nicht sicher, ja für die Person äuberst gefährlich. Denn hier befindet
sich die Person in Gefahr, so wie sich ihrerseits die Familie in Gefahr
bringt. Worin besteht die Gefahr? Es ist der Verlust der Wahrheit über
sich selbst, zu der sich das Risiko des Verlustes der Freiheit und demzufolge
selbst des Verlustes der Liebe hinzugesellt. »Dann werdet ihr die Wahrheit
erkennen – sagt Jesus – , und die Wahrheit wird euch befreien« (Joh
8,32): Die Wahrheit, nur die Wahrheit wird euch auf eine Liebe vorbereiten,
von der man sagen kann, dab sie »schön« ist.
Die Familie unserer Zeit wie aller Zeiten ist auf der Suche nach der
»schönen Liebe«. Eine Liebe, die nicht »schön« ist oder die nur auf Befriedigung
der Begierde (vgl. 1 Joh 2,16), auf einen gegenseitigen »Gebrauch« des
Mannes und der Frau verkürzt wird, macht die Person zum Sklaven ihrer Schwächen.
Bringen nicht manche moderne »Kulturprogramme« diese Versklavung? Es sind
Programme, die auf die Schwächen des Menschen »niederrieseln« und ihn auf
diese Weise immer schwächer und schutzloser machen.
Die Zivilisation der Liebe ruft Freude hervor: unter anderem Freude
darüber, dab ein Mensch zur Welt kommt (vgl. Joh 16,21), und folglich,
weil die Gatten Eltern werden. Zivilisation der Liebe bedeutet »sich an
der Wahrheit freuen« (vgl. 1 Kor 13,6). Aber eine Zivilisation, die sich
an einer konsumistischen und geburtenfeindlichen Gesinnung inspiriert,
ist keine Zivilisation der Liebe und kann es niemals sein. Wenn die Familie
so wichtig für die Zivilisation der Liebe ist, so ist sie es wegen der
besonderen Nähe und Intensität der Bande, die in ihr zwischen den Personen
und Generationen entstehen. Sie bleibt jedoch verwundbar und kann leicht
den Gefahren ausgesetzt sein, die ihre Einheit und Festigkeit schwächen
oder sogar zerstören. Infolge solcher Gefahren hören die Familien auf,
Zeugnis zu geben für die Zivilisation der Liebe, und können sogar zu ihrer
Verneinung, zu einer Art Gegen-Zeugnis werden. Eine zerstörte Familie kann
ihrerseits eine spezifische Form von »Anti-Zivilisation« stärken, indem
sie die Liebe in den verschiedenen Ausdrucksformen zerstört, mit unvermeidlichen
Auswirkungen auf das gesamte soziale Leben.
Die Liebe ist anspruchsvoll
14. Jene Liebe, welcher der Apostel Paulus im Brief an die Korinther
sein Hoheslied gewidmet hat – jene Liebe, die »langmütig und gütig ist«
und »alles erträgt« (1 Kor 13,4.7) –, ist gewib eine anspruchsvolle
Liebe. Doch genau darin besteht ihre Schönheit: in der Tatsache, dab sie
anspruchsvoll ist, denn auf diese Weise baut sie das wahre Gute des Menschen
auf. Das Gute ist nämlich, sagt der hl. Thomas, seiner Natur nach »auf
Ausbreitung hin angelegt«.36 Die Liebe ist wahr, wenn sie das Gute der
Personen und der Gemeinschaften hervorruft, es hervorruft und es an die
anderen weitergibt. Nur wer im Namen der Liebe an sich selbst Forderungen
zu stellen vermag, kann auch von den anderen Liebe verlangen. Denn die
Liebe ist anspruchsvoll. Sie ist es in jeder menschlichen Situation; sie
ist es um so mehr für denjenigen, der sich dem Evangelium öffnet. Ist es
nicht dies, was Christus in »seinem« Gebot verkündet? Es ist notwendig,
dab die heutigen Menschen diese anspruchsvolle Liebe entdecken, denn sie
bildet in Wahrheit das tragende Fundament der Familie, ein Fundament, das
imstande ist, »alles zu ertragen«. Nach dem Apostel ist die Liebe nicht
fähig, alles »zu ertragen«, wenn sie »Neid und Mibgunst« nachgibt, wenn
sie »prahlt«, wenn sie »sich aufbläht«, wenn sie »ungehörig handelt« (vgl.
1 Kor 13,4–5). Die wahre Liebe, so lehrt der hl. Paulus, ist anders: »Sie
erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand« (1 Kor
13,7). Genau diese Liebe »wird alles ertragen«. In ihr wirkt die starke
Kraft Gottes selbst, der »die Liebe ist« (1 Joh 4,8.16). In ihr wirkt die
starke Kraft Christi, des Erlösers des Menschen und Heilands der Welt.
Mit unserer Meditation über das 13. Kapitel des ersten Paulusbriefes
an die Korinther begeben wir uns auf den Weg, der uns am unmittelbarsten
und augenfälligsten die volle Wahrheit über die Zivilisation der Liebe
begreifen läbt. Kein anderer biblischer Text drückt diese Wahrheit einfacher
und umfassender aus als das Hohelied der Liebe.
Die Gefahren, die der Liebe entgegenstehen, stellen auch eine Bedrohung
für die Zivilisation der Liebe dar, weil sie begünstigen, was ihr wirksam
zu widerstreiten vermag. Hier ist insbesondere an den Egoismus gedacht,
nicht nur den Egoismus des einzelnen, sondern auch denjenigen des Ehepaares
oder, in einem noch weiteren Bereich, an den sozialen Egoismus, z.B. einer
Klasse oder einer Nation (Nationalismus). Der Egoismus, in jeder Form,
widerspricht unmittelbar und grundsätzlich der Zivilisation der Liebe.
Will man etwa behaupten, die Liebe werde einfachhin als »Anti-Egoismus«
definiert? Das wäre eine allzu armselige und nur negative Definition, auch
wenn es wahr ist, dab zur Verwirklichung der Liebe und der Zivilisation
der Liebe verschiedene Formen von Egoismus überwunden werden müssen. Richtiger
ist hier von »Altruismus« zu sprechen, der die Antithese des Egoismus ist.
Doch noch reichhaltiger und vollständiger ist sodann der vom hl. Paulus
erläuterte Liebesbegriff. Das Hohelied der Liebe aus dem ersten Korintherbrief
bleibt die Magna Charta der Zivilisation der Liebe. In ihm geht es nicht
so sehr um einzelne Äuberungen (sei es des Egoismus oder des Altruismus)
als um die radikale Annahme des Konzeptes des Menschen als Person, die
sich durch die aufrichtige Hingabe ihrer Selbst »wiederfindet«. Eine Hingabe
ist natürlich »für die anderen« da: Das ist die wichtigste Dimension der
Zivilisation der Liebe.
Wir betreten somit das Herzstück der evangelischen Wahrheit über die
Freiheit. Die Person verwirklicht sich durch die Ausübung der Freiheit
in der Wahrheit. Die Freiheit kann nicht als Befugnis verstanden werden,
alles Beliebige zu tun: Sie bedeutet Selbsthingabe. Mehr noch: Sie bedeutet
innere Disziplin der Selbsthingabe. In den Begriff Hingabe ist nicht nur
die freie Initiative des Subjektes, sondern auch die Dimension der Pflicht
eingeschrieben. Das alles verwirklicht sich in der »Gemeinsamkeit der Personen«.
So befinden wir uns hier im eigentlichen Herzen jeder Familie.
Wir befinden uns auch auf den Spuren des Gegensatzes zwischen dem Individualismus
und dem Personalismus. Die Liebe, die Zivilisation der Liebe ist mit dem
Personalismus verbunden. Warum gerade mit dem Personalismus? Weil der Individualismus
die Zivilisation der Liebe bedroht? Den Schlüssel zur Antwort finden wir
in dem Ausdruck des Konzils: eine »aufrichtige Hingabe«. Der Individualismus
setzt einen Gebrauch der Freiheit voraus, indem das Subjekt macht, was
es will und was ihm nützlich erscheint, indem es selbst »die Wahrheit«
dessen, was ihm beliebt, »festlegt«: Es duldet nicht, dab andere von ihm
etwas im Namen einer objektiven Wahrheit »wollen« oder fordern. Es will
einem anderen nicht auf der Grundlage der Wahrheit »geben«, es will nicht
zu einer »aufrichtigen« Hingabe werden. Der Individualismus bleibt somit
egozentrisch und egoistisch. Der Gegensatz zum Personalismus entsteht nicht
nur im Bereich der Theorie, sondern noch mehr in dem des »Ethos«. Das »Ethos«
des Personalismus ist altruistisch: Es treibt die Person dazu an, sich
für die anderen hinzugeben und Freude in der Hingabe zu finden. Es ist
die Freude, von der Christus spricht (vgl. Joh 15,11; 16,20.22).
Darum müssen die menschlichen Gesellschaften und in ihnen die Familien,
die häufig in einem Umfeld des Kampfes zwischen der Zivilisation der Liebe
und ihren Gegensätzen leben, ihr tragendes Fundament in einer richtigen
Auffassung vom Menschen und davon suchen, was über die volle »Verwirklichung«
seines Menschseins entscheidet. Sicher im Widerspruch zur Zivilisation
der Liebe steht die sogenannte »freie Liebe«, die um so gefährlicher ist,
weil sie gewöhnlich als Frucht eines »echten« Gefühls hingestellt wird,
während sie tatsächlich die Liebe zerstört. Wie viele Familien sind gerade
aus »freier Liebe« in die Brüche gegangen! Dem »wahren« Gefühlsantrieb
im Namen einer von Auflagen »freien« Liebe auf jeden Fall zu folgen, bedeutet
in Wirklichkeit, den Menschen zum Sklaven jener menschlichen Instinkte
zu machen, die der hl. Thomas »Leidenschaften in der Seele« nennt.37 Die
»freie Liebe« nützt die menschlichen Schwächen aus, indem sie ihnen mit
Hilfe der Verführung und mit dem Beistand der öffentlichen Meinung einen
gewissen »Rahmen« von Vortrefflichkeit liefert. So sucht man durch die
Schaffung eines »moralischen Alibi« das Gewissen »zu beruhigen«. Nicht
bedacht werden jedoch alle daraus erwachsenden Folgen, besonders wenn diese
auber dem Ehegatten die Kinder zu bezahlen haben, die des Vaters oder der
Mutter beraubt und dazu verurteilt werden, tatsächlich Waisen lebender
Eltern zu sein.
Dem sittlichen Utilitarismus liegt, wie man weib, die dauernde Suche
nach dem »Maximum« an Glück zugrunde, aber eines »utilitaristischen Glücks«,
das nur als Vergnügen, als unmittelbare Befriedigung zum ausschlieblichen
Vorteil des einzelnen Individuums verstanden wird, jenseits oder gegen
die objektiven Forderungen des wahren Guten.
Das dargestellte Programm des Utilitarismus, das sich auf eine im individualistischen
Sinne orientierte Freiheit oder eine Freiheit ohne Verantwortung gründet,
stellt die Antithese zur Liebe dar, auch als Ausdruck der in ihrer Gesamtheit
betrachteten menschlichen Zivilisation. Wenn dieser Freiheitsbegriff in
der Gesellschaft Aufnahme findet und sich leicht mit den verschiedensten
Formen menschlicher Schwäche verbindet, wird er sich recht bald als systematische
und dauernde Bedrohung für die Familie entpuppen. In diesem Zusammenhang
lieben sich viele unheilvolle, auf statistischer Ebene dokumentierbare
Folgen anführen, auch wenn nicht wenige von ihnen als schmerzliche und
blutende Wunden in den Herzen der Männer und Frauen verborgen bleiben.
Die Liebe der Ehegatten und der Eltern besitzt die Fähigkeit, solche
Wunden zu behandeln, wenn nicht die in Erinnerung gebrachten Gefahren sie
ihrer für die menschlichen Gemeinschaften so wohltuenden und heilsamen
Regenerationskraft berauben. Diese Fähigkeit hängt von der göttlichen Gnade
der Vergebung und der Wiederversöhnung ab, die die geistige Kraft gewährleistet,
immer aufs neue zu beginnen. Deshalb haben es die Mitglieder der Familie
nötig, Christus in der Kirche durch das wunderbare Sakrament der Bube und
der Wiederversöhnung zu begegnen.
In diesem Zusammenhang wird man sich bewubt, wie wichtig das Gebet mit
den Familien und für die Familien, insbesondere für die von der Trennung
bedrohten Familien, ist. Wir müssen dafür beten, dab die Ehegatten ihre
Berufung auch dann lieben, wenn der Weg schwierig wird oder enge und steile,
scheinbar unüberwindbare Strecken aufweist; beten, damit sie auch dann
ihrem Bund mit Gott treu sind.
»Die Familie ist der Weg der Kirche«. In diesem Schreiben wollen wir
diesen Weg bekennen und miteinander verkünden, der über das Ehe- und Familienleben
»zum Himmelreich führt« (vgl. Mt 7,14). Es ist wichtig, dab die
»Personengemeinschaft« in der Familie zur Vorbereitung auf die »Gemeinschaft
der Heiligen« wird! Eben deshalb bekennt und verkündet die Kirche die Liebe,
die »alles erträgt« (1Kor 13,7), weil sie mit dem hl. Paulus in ihr die
»gröbte« (1 Kor 13,13) Tugend sieht. Der Apostel setzt für niemanden Grenzen.
Lieben ist Berufung aller, auch der Eheleute und der Familien. In der Kirche
sind in der Tat alle gleichermaben zur Vollkommenheit der Heiligkeit berufen
(vgl. Mt 5,48).38
Das vierte Gebot: »Du sollst Vater und Mutter ehren«
15. Das vierte der Zehn Gebote betrifft die Familie, ihre innere Festigkeit
und Geschlossenheit; wir könnten auch sagen: ihre Solidarität.
Im Wortlaut des vierten Gebotes ist von der Familie nicht ausdrücklich
die Rede. Tatsächlich geht es aber um sie. Um die Gemeinsamkeit zwischen
den Generationen auszudrücken, hat der göttliche Gesetzgeber kein passenderes
Wort gefunden als: »Ehre . . . « (Ex 20,12). Wir stehen hier vor einer
anderen Form, das auszudrücken, was Familie ist. Diese Formulierung ist
keine »künstliche« Erhöhung der Familie, sondern legt ihre Subjektivität
und die daraus erwachsenden Rechte an den Tag. Die Familie ist eine Gemeinschaft
besonders intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen: zwischen Ehegatten,
zwischen Eltern und Kindern, zwischen den Generationen. Sie ist eine Gemeinschaft,
die in besonderer Weise garantiert wird. Und Gott findet keine bessere
Gewähr dafür als: »Ehre!«
»Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land,
das der Herr, dein Gott, dir gibt« (Ex 20,12). Dieses Gebot folgt auf die
drei grundlegenden Gebote, die das Verhältnis des Menschen und des Volkes
Israel zu Gott betreffen: »Shema, Israel . . . «, Höre, Israel! Jahwe,
unser Gott, Jahwe ist einzig« (Dtn 6,4). »Du sollst neben mir keine anderen
Götter haben« (Ex 20,3). Das ist das erste und gröbte Gebot, das Gebot,
Gott »über alle Dinge« zu lieben: Er wird »mit ganzem Herzen, mit ganzer
Seele und mit ganzer Kraft« geliebt (Dtn 6,5; vgl. Mt 22,37). Es
ist bezeichnend, dab sich das vierte Gebot gerade in diesen Rahmen einfügt:
»Ehre deinen Vater und deine Mutter«, denn sie sind für dich in gewissem
Sinne die Bevollmächtigten des Herrn, diejenigen, die dir das Leben geschenkt
und dich in die menschliche Existenz eingeführt haben: in einen Stamm,
eine Nation, eine Kultur. Nach Gott sind sie deine ersten Wohltäter. Wenn
allein Gott gut, ja das Gute selbst ist, so haben die Eltern in einzigartiger
Weise an dieser seiner erhabenen Güte teil. Und deshalb: Ehre deine Eltern!
Hier besteht eine gewisse Analogie zu der Verehrung, die Gott gebührt.
Das vierte Gebot steht in enger Verbindung zum Gebot der Liebe. Das
Band zwischen »ehre!« und »liebe!« ist tief. Die Ehre ist in ihrem Wesenskern
mit der Tugend der Gerechtigkeit verbunden, doch läbt sich diese ihrerseits
ohne Berufung auf die Liebe – Liebe zu Gott und zum Nächsten – nicht vollständig
erklären. Und wer ist mehr Nächster als die eigenen Familienangehörigen,
die Eltern und die Kinder?
Ist das vom vierten Gebot angezeigte interpersonale System einseitig?
Verpflichtet es dazu, nur die Eltern zu ehren? Im buchstäblichen Sinn:
ja. Indirekt können wir jedoch auch von der »Ehre« sprechen, die den Kindern
von seiten der Eltern gebührt. »Ehre« heibt: erkenne an! Das heibt, lab
dich von der überzeugten Anerkennung der Person leiten, vor allem von der
Person des Vaters und der Mutter und dann von der anderer Familienmitglieder.
Die Ehre ist eine ihrem Wesen nach selbstlose Haltung. Man könnte sagen,
sie ist »eine aufrichtige Hingabe der Person an die Person«, und in diesem
Sinne trifft sich die Ehre mit der Liebe. Wenn das vierte Gebot Vater und
Mutter zu ehren verlangt, so verlangt es das auch im Hinblick auf das Wohl
der Familie. Eben deshalb stellt es jedoch Anforderungen an die Eltern.
Eltern – daran scheint sie das göttliche Gebot zu erinnern – , handelt
so, dab euer Verhalten die Ehre (und die Liebe) von seiten eurer Kinder
verdient! Labt den göttlichen Ehranspruch für euch nicht in ein »moralisches
Vakuum« hineinfallen! Schlieblich handelt es sich also um eine wechselseitige
Ehre. Das Gebot »ehre deinen Vater und deine Mutter« sagt den Eltern indirekt:
Ehrt eure Söhne und eure Töchter! Sie verdienen das, weil sie existieren,
weil sie das sind, was sie sind: Das gilt vom ersten Augenblick der Empfängnis
an. So macht dieses Gebot dadurch, dab es die innerste Familienbande zum
Ausdruck bringt, das Fundament ihrer inneren Geschlossenheit offenkundig.
Das Gebot fährt fort: »damit du lange lebst in dem Land, das der Herr,
dein Gott, dir gibt.« Dieses »damit« könnte ein »utilitaristisches« Kalkül
nahelegen: ehren im Hinblick auf das künftige lange Leben. Wir sagen indessen,
dab das die essentielle Bedeutung des seinem Wesen nach mit einer selbstlosen
Haltung verbundenen Imperativs »ehre« nicht mindert. Ehren bedeutet niemals:
»Ziehe die Vorteile in Betracht.« Dennoch fällt es schwer, nicht zuzugeben,
dab aus der zwischen den Mitgliedern der Familiengemeinschaft bestehenden
Haltung wechselseitiger Ehre auch Nutzen verschiedener Art erwächst. Die
»Ehre« ist sicher nützlich, so wie jedes wahre Gut »nützlich« ist.
Die Familie verwirklicht vor allem das Gut des »Zusammenseins«, das
Gut im wahrsten Sinne des Wortes der Ehe (daher ihre Unauflöslichkeit)
und der Familiengemeinschaft. Man könnte es zudem als Gut der Subjektivität
bezeichnen. Denn die Person ist ein Subjekt, und das ist auch die Familie,
weil sie von Personen gebildet wird, die durch ein tiefes Band der Gemeinschaft
verbunden sind und so ein einziges Gemeinschaftssubjekt bilden. Ja, die
Familie ist mehr Subjekt als jede andere soziale Institution: mehr als
die Nation, der Staat, mehr als die Gesellschaft und die internationalen
Organisationen. Diese Gesellschaften, besonders die Nationen, erfreuen
sich deshalb einer eigenen Subjektivität, weil sie sie von den Personen
und ihren Familien erhalten. Sind das lediglich »theoretische« Überlegungen,
formuliert, um die Familie in der öffentlichen Meinung zu »erhöhen«? Nein,
es handelt sich vielmehr um eine andere Ausdrucksweise dessen, was Familie
ist. Und auch sie läbt sich aus dem vierten Gebot ableiten.
Dies ist eine Wahrheit, die vertieft zu werden verdient: Sie unterstreicht
nämlich die Wichtigkeit dieses Gebots auch für das moderne System der Menschenrechte.
Die institutionellen Anordnungen gebrauchen die Rechtssprache. Gott hingegen
sagt: »Ehre!« Sämtliche »Menschenrechte« sind letzten Endes hinfällig und
wirkungslos, wenn ihrer Grundlage der Imperativ »ehre!« fehlt; mit anderen
Worten, wenn die Anerkennung des Menschen durch die einfache Tatsache,
dab er Mensch, »dieser« Mensch ist, fehlt. Rechte allein genügen nicht.
Es ist daher nicht übertrieben, zu bekräftigen, dab das Leben der Nationen,
der Staaten, der internationalen Organisationen durch die Familie »hindurchgeht«
und sich auf das vierte Gebot des Dekalogs »gründet«. Trotz der vielfachen
Erklärungen rechtlicher Art, die erarbeitet wurden, bleibt, als Ergebnis
der »aufklärerischen« Prämissen, wonach der Mensch »mehr« Mensch ist, wenn
er »nur« Mensch ist, unsere heutige Zeit in beachtlichem Ausmab von der
»Entfremdung« bedroht. Es ist nicht schwer zu erkennen, dab die Entfremdung
von all dem, was in verschiedener Form so sehr zum vollen Reichtum gehört,
unsere Zeit gefährdet. Und das zieht die Familie mit hinein. Denn die Bejahung
der Person ist in hohem Mabe auf die Familie und infolgedessen auf das
vierte Gebot bezogen. In Gottes Plan ist die Familie in verschiedener Hinsicht
die erste Schule des Menschen. Sei Mensch! Dies ist der Imperativ, der
in ihr vermittelt wird: Mensch als Sohn oder Tochter der Heimat, als Bürger
des Staates und, so würde man heute sagen, als Bürger der Welt. Er, der
der Menschheit das vierte Gebot gegeben hat, ist ein dem Menschen gegenüber
»wohlwollender« Gott (philanthropos, wie die Griechen sagten). Der Schöpfer
des Universums ist der Gott der Liebe und des Lebens: Er will, dab der
Mensch das Leben habe und es in Fülle habe, wie Christus sagt (vgl. Joh
10,10): dab er das Leben vor allem dank der Familie habe.
Hier zeigt sich klar, dab die »Zivilisation der Liebe« eng mit der Familie
verbunden ist. Für viele stellt die Zivilisation der Liebe noch eine reine
Utopie dar. Man meint in der Tat, dab Liebe niemandem abverlangt und niemandem
auferlegt werden könne: Es handele sich um eine freie Entscheidung, die
die Menschen annehmen oder zurückweisen können.
An all dem ist etwas Wahres. Und doch bleibt die Tatsache bestehen,
dab Jesus Christus uns das Gebot der Liebe hinterlassen hat, so wie Gott
auf dem Berg Sinai geboten hatte: »Ehre deinen Vater und deine Mutter.«
Die Liebe ist daher nicht eine Utopie: Sie ist dem Menschen als eine mit
Hilfe der göttlichen Gnade zu erfüllende Aufgabe gegeben. Sie wird dem
Mann und der Frau im Ehesakrament als Prinzip und Quelle ihrer »Pflicht«
anvertraut und wird für sie zum Fundament der gegenseitigen Verpflichtung:
zuerst der ehelichen, dann der elterlichen. In der Feier des Sakraments
schenken und empfangen die Ehegatten sich gegenseitig, indem sie ihre Bereitschaft
erklären, die Kinder anzunehmen und zu erziehen. Hier liegen die Angelpunkte
der menschlichen Zivilisation, die nicht anders definiert werden kann denn
als »Zivilisation der Liebe«.
Ausdruck und Quelle dieser Liebe ist die Familie. Durch sie geht der
Hauptstrom der Zivilisation der Liebe hindurch, der in ihr ihre »sozialen
Grundlagen« sucht.
Die Kirchenväter haben im Zuge der christlichen Überlieferung von der
Familie als »Hauskirche«, als »kleiner Kirche«, gesprochen. Sie bezogen
sich somit auf die Zivilisation der Liebe als auf ein mögliches System
des Lebens und des menschlichen Zusammenlebens. »Zusammensein« als Familie,
einer für den anderen dasein, einen gemeinschaftlichen Raum schaffen für
die Bejahung jedes Menschen als solchen, für die Bejahung »dieses« konkreten
Menschen. Manchmal handelt es sich um Personen mit physischen oder psychischen
Behinderungen, von denen sich die sogenannte »Fortschritts«-Gesellschaft
lieber befreit. Auch die Familie kann einer solchen Gesellschaft ähnlich
werden. Sie wird es tatsächlich, wenn sie sich auf schnellstem Wege von
denen befreit, die alt oder von Mibbildungen oder Krankheiten betroffen
sind. Sie handelt so, weil der Glaube an jenen Gott abnimmt, nach dessen
Willen »alle lebendig« (Lk 20,38) und alle in Ihm zur Fülle des
Lebens berufen sind.
Ja, die Zivilisation der Liebe ist möglich, sie ist keine Utopie. Sie
ist jedoch nur möglich durch einen ständigen und lebendigen Bezug zu »Gott,
dem Vater unseres Herrn Jesus Christus, nach dessen Namen jedes Geschlecht
im Himmel und auf der Erde benannt wird« (vgl. Eph 3,14–15), von
dem jede menschliche Familie hervorgeht.
Die Erziehung
16. Worin besteht die Erziehung? Um diese Frage zu beantworten, werden
zwei grundlegende Wahrheiten in Erinnerung gebracht: Die erste ist, dab
der Mensch zum Leben in der Wahrheit und in der Liebe berufen ist; die
zweite Grundwahrheit besagt, dab sich jeder Mensch durch die aufrichtige
Hingabe seiner selbst verwirklicht. Das gilt sowohl für den Erzieher wie
für den, der erzogen wird. Die Erziehung stellt demnach einen einzigartigen
Prozeb dar, in dem die gegenseitige Gemeinsamkeit der Personen höchst bedeutsam
ist. Der Erzieher ist eine in geistigem Sinne »zeugende« Person. In dieser
Sicht kann die Erziehung als echtes und eigentliches Apostolat angesehen
werden. Sie ist eine lebenschaffende Verbindung, die nicht nur eine tiefgreifende
Beziehung zwischen Erzieher und zu Erziehendem herstellt, sondern diese
beiden an der Wahrheit und an der Liebe teilhaben läbt, dem Endziel, zu
dem jeder Mensch von Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist berufen ist.
Die Elternschaft setzt die Koexistenz und Interaktion autonomer, selbständiger
Subjekte voraus. Das wird in höchstem Mabe an der Mutter offenkundig, wenn
sie ein neues menschliches Wesen empfängt. Die ersten Monate seiner Gegenwart
im Mutterschob schaffen eine besondere Bindung, die bereits jetzt einen
erzieherischen Wert annimmt. Die Mutter baut bereits in der vorgeburtlichen
Phase nicht nur den Organismus des Kindes, sondern indirekt seine ganze
Menschlichkeit auf. Auch wenn es sich um einen Prozeb handelt, der sich
von der Mutter auf das Kind richtet, darf der besondere Einflub, den das
Ungeborene auf die Mutter ausübt, nicht vergessen werden. An diesem wechselseitigen
Einflub, der drauben nach der Geburt des Kindes offenbar werden wird, nimmt
der Vater nicht direkt teil. Er soll sich jedoch verantwortlich darum bemühen,
während der Schwangerschaft und, wenn möglich, auch bei der Niederkunft
seine Aufmerksamkeit und seinen Beistand anzubieten.
Für die »Zivilisation der Liebe« kommt es wesentlich darauf an, dab
der Mann die Mutterschaft der Frau, seiner Ehefrau, als Geschenk empfindet:
denn dies wirkt sich auberordentlich auf den gesamten Erziehungsprozeb
aus. Es hängt viel von der Bereitschaft ab, in richtiger Weise an dieser
ersten Phase des Geschenks des Menschseins teilzunehmen und sich als Ehemann
und Vater in die Mutterschaft der Frau hineinversetzen zu lassen.
Die Erziehung ist in dem Augenblick vor allem eine »Beschenkung« mit
Menschlichkeit seitens beider Elternteile. Sie vermitteln gemeinsam ihre
reife Menschlichkeit an das Neugeborene, das seinerseits ihnen die Neuheit
und Frische der Menschlichkeit schenkt, die es in die Welt mitbringt. Das
geschieht auch im Fall von Kindern, die von geistigen und körperlichen
Behinderungen gezeichnet sind: ja, in diesem Fall kann ihre Situation eine
ganz besondere erzieherische Kraft entfalten.
Mit Recht richtet daher die Kirche bei der Brautmesse an das Brautpaar
die Frage: »Seid ihr bereit, die Kinder, die Gott euch schenken will, anzunehmen
und sie im Geiste Christi und seiner Kirche zu erziehen?«39 Die eheliche
Liebe drückt sich in der Erziehung als wahre Elternliebe aus. Die »Personengemeinschaft«,
die am Beginn der Familie als eheliche Liebe zum Ausdruck kommt, vervollständigt
und vervollkommnet sich mit der Erziehung, die auf die Kinder ausgeweitet
wird. Der potentielle Reichtum, den jeder Mensch darstellt, der in der
Familie geboren wird und heranwächst, wird verantwortlich angenommen, so
dab er nicht entartet und verlorengeht, sondern sich im Gegenteil in einer
immer reiferen Menschlichkeit verwirklicht. Auch das ist ein wechselseitiger
dynamischer Prozeb, in welchem die Eltern als Erzieher ihrerseits gewissermaben
erzogen werden. Als Lehrer ihrer Kinder in Menschlichkeit lernen sie auch
von ihnen. Hier wird die organische Struktur der Familie deutlich sichtbar,
und es offenbart sich die Grundbedeutung des vierten Gebotes.
Das »Wir« der Eltern, des Ehemannes und der Ehefrau, entfaltet sich
durch die Erziehung im »Wir« der Familie, die sich in die voraufgehenden
Generationen einfügt, aber offen ist für eine schrittweise und fortschreitende
Erweiterung. Eine besondere Rolle spielen in diesem Zusammenhang einerseits
die Eltern der Eltern und andererseits die Kindeskinder.
Wenn die Eltern im Weiterschenken des Lebens am Schöpfungswerk Gottes
teilnehmen, haben sie vermittels der Erziehung Anteil an seiner väterlichen
und zugleich mütterlichen Erziehung. Die göttliche Vaterschaft stellt nach
dem hl. Paulus das urgründliche Vorbild jeder Elternschaft im Kosmos dar
(vgl. Eph 3,14–15), insbesondere der menschlichen Vater- und Mutterschaft.
Über die göttliche Erziehung hat uns auf vollkommene Weise das ewige Wort
des Vaters belehrt, das in seiner Menschwerdung dem Menschen die wahre
und vollständige Dimension seines Menschseins enthüllt hat: die Gotteskindschaft.
Und so hat es auch bekanntgemacht, worin die wahre Bedeutung der Erziehung
des Menschen besteht. Durch Christus wird alle Erziehung, innerhalb der
Familie wie auberhalb, in die heilschaffende Dimension der göttlichen Pädagogik
hineingestellt, die auf die Menschen und auf die Familien ausgerichtet
ist und ihren Gipfel findet im österlichen Geheimnis von Tod und Auferstehung
des Herrn. Von diesem »Herzen« unserer Erlösung nimmt jeder christliche
Erziehungsprozeb seinen Ausgang, der zu gleicher Zeit immer Erziehung zu
voller Menschlichkeit ist.
Die Eltern sind die ersten und hauptsächlichen Erzieher der eigenen
Kinder und haben auch in diesem Bereich grundlegende Zuständigkeit: Sie
sind Erzieher, weil sie Eltern sind. Sie teilen ihren Erziehungsauftrag
mit anderen Personen und Institutionen wie der Kirche und dem Staat; dies
mub jedoch immer in korrekter Anwendung des Prinzips der Subsidiarität
geschehen. Dieses impliziert die Legitimität, ja die Verpflichtung, den
Eltern Hilfe anzubieten, findet jedoch in deren vorgängigem Recht und in
ihren tatsächlichen Möglichkeiten aus sich heraus seine unüberschreitbare
Grenze. Das Prinzip der Subsidiarität stellt sich also in den Dienst der
Liebe der Eltern und kommt dem Wohl der Familie in ihrem Innersten entgegen.
In der Tat sind die Eltern nicht in der Lage, allein jedem Erfordernis
des gesamten Erziehungsprozesses zu entsprechen, insbesondere was die Ausbildung
und das breite Feld der Sozialisation betrifft. So vervollständigt die
Subsidiarität die elterliche Liebe, indem sie deren Grundcharakter bestätigt,
denn jeder andere Mitwirkende am Erziehungsprozeb kann nur im Namen der
Eltern, auf Grund ihrer Zustimmung, und in einem gewissen Mabe sogar in
ihrem Auftrag tätig werden.
Der Weg der Erziehung führt auf die Phase der Selbsterziehung zu, die
erreicht wird, wenn sich der Mensch dank eines entsprechenden Niveaus psychophysischer
Reife »allein zu erziehen« beginnt. Mit der Zeit geht die Selbsterziehung
über die vorher im Erziehungsprozeb erreichten Ziele hinaus, in dem sie
aber weiterhin verwurzelt bleibt. Der Heranwachsende begegnet neuen Personen
und neuen Milieus, im besonderen den Lehrern und Mitschülern, die auf sein
Leben einen Einflub ausüben, der sich als erzieherisch oder erziehungsfeindlich
erweisen kann. In dieser Entwicklungsphase löst sich der Jugendliche bis
zu einem gewissen Grad von der in der Familie empfangenen Erziehung und
nimmt manchmal den Eltern gegenüber eine kritische Haltung ein. Trotz allem
jedoch wird der Selbsterziehungsprozeb von dem erzieherischen Einflub,
der von der Familie und von der Schule auf das Kind und auf den Jugendlichen
ausgeübt wird, gekennzeichnet bleiben. Selbst wenn sich der Jugendliche
wandelt und einen Weg in der eigenen Richtung einschlägt, bleibt er weiterhin
mit seinen existentiellen Wurzeln zutiefst verbunden.
Vor diesem Hintergrund zeichnet sich auf neue Weise die Bedeutung des
vierten Gebotes ab: »Ehre deinen Vater und deine Mutter« (Ex 20,12); es
bleibt mit dem ganzen Erziehungsprozeb organisch verbunden. Die Elternschaft,
diese erste und fundamentale Gegebenheit bei der Weitergabe des Menschseins,
eröffnet vor den Eltern und Kindern neue und noch tiefgreifendere Perspektiven.
Fleischlich zeugen heibt, durch den ganzen Erziehungsprozeb eine weitere
»Generation«, stufenweise und umfassend, in Gang zu setzen. Das vierte
der Zehn Gebote verlangt vom Kind, dab es den Vater und die Mutter ehrt.
Aber wie oben gesagt, erlegt dasselbe Gebot den Eltern eine in gewissem
Sinne »symmetrische« Pflicht auf. Auch sie müssen ihre Kinder, sowohl kleine
wie grobe, »ehren«, eine unerläbliche Haltung auf dem gesamten Erziehungsweg,
einschlieblich dem der Schulzeit. Das »Prinzip der Ehrerbietung«, das heibt
die Anerkennung und Respektierung des Menschen als Menschen, ist die grundlegende
Voraussetzung für jeden echten Erziehungsprozeb.
Im Bereich der Erziehung hat die Kirche eine eigene Rolle zu erfüllen.
Im Lichte der Tradition und des Konzilslehramtes kann man sagen, dab es
nicht nur darum geht, der Kirche die religiöse und sittliche Erziehung
des Menschen anzuvertrauen, sondern »zusammen mit« der Kirche den gesamten
Erziehungsprozeb der Person zu fördern. Die Familie ist aufgerufen, ihre
Erziehungsaufgabe »innerhalb der Kirche« durchzuführen und auf diese Weise
am kirchlichen Leben und an ihrer Sendung teilzunehmen. Die Kirche möchte
vor allem durch die Familie erziehen, die dazu durch das Sakrament der
Ehe befähigt ist, mit der »Standesgnade«, die sie daraus erlangt, und mit
dem spezifischen »Charisma«, das der gesamten Familiengemeinschaft eigen
ist.
Ein Bereich, wo die Familie unersetzlich ist, ist sicherlich die religiöse
Erziehung, dank welcher die Familie als »Hauskirche« wächst. Die religiöse
Erziehung und die Katechese der Kinder stellen die Familie als ein echtes
Subjekt der Evangelisierung und des Apostolats in den Bereich der Kirche.
Es handelt sich um ein Recht, das zutiefst mit dem Prinzip der Religionsfreiheit
verbunden ist. Die Familien, und konkreter die Eltern, haben die freie
Ermächtigung, für ihre Kinder eine bestimmte, ihren eigenen Überzeugungen
entsprechende Form religiöser und sittlicher Erziehung zu wählen. Doch
auch wenn sie diese Aufgaben kirchlichen Institutionen oder von Ordenspersonal
geführten Schulen anvertrauen, ist es notwendig, dab ihre erzieherische
Präsenz weiterhin beständig und aktiv ist.
Nicht übergangen werden darf im Rahmen der Erziehung auch die wesentliche
Frage der Wahl einer Berufung, und dabei insbesondere die der Vorbereitung
auf das Eheleben. Beachtlich sind die von der Kirche durchgeführten Anstrengungen
und Initiativen für die Ehevorbereitung, z.B. in Form von Kursen und Tagungen,
die für die Brautleute durchgeführt werden. Das alles ist wirkungsvoll
und notwendig. Es darf aber nicht vergessen werden, dab die Vorbereitung
auf das künftige Eheleben vor allem Aufgabe der Familie ist. Gewib können
sich nur die in geistlicher Hinsicht gereiften Familien dieser Aufgabe
in angemessener Weise stellen. Und darum mub die Forderung nach einer besonderen
Solidarität zwischen den Familien unterstrichen werden, die sich durch
verschiedene Organisationsformen, wie die Vereinigungen von Familien für
Familien, äubern kann. Die Institution Familie schöpft Kraft aus dieser
Solidarität, die nicht nur einzelne Personen, sondern auch die Gemeinschaften
einander näherbringt und sie dazu anhält, miteinander zu beten und durch
den Beitrag aller nach Antworten auf die wesentlichen Fragen zu suchen,
die im Leben auftauchen. Ist das nicht eine wertvolle Form von Apostolat
der Familien untereinander? Es ist wichtig, dab die Familien untereinander
Solidaritätsbande aufzubauen versuchen. Dies ermöglicht ihnen auberdem,
sich gegenseitig bei der Erziehung zu helfen: Die Eltern werden durch andere
Eltern erzogen, die Kinder durch die Kinder. Auf diese Weise entsteht eine
eigene Erziehungstradition, die aus der Wesenseigenschaft der »Hauskirche«,
die der Familie eigen ist, Kraft schöpft.
Das Evangelium der Liebe ist die unerschöpfliche Quelle all dessen,
von dem sich die menschliche Familie als »Personengemeinschaft« nährt.
In der Liebe findet der ganze Erziehungsprozeb Unterstützung und endgültigen
Sinn als reife Frucht der gegenseitigen Hingabe der Eltern. Durch die Mühen,
die Leiden und die Enttäuschungen, die die Erziehung des Menschen begleiten,
wird die Liebe unaufhörlich einer beständigen Prüfung unterzogen. Um diese
Probe zu bestehen, bedarf es einer Quelle geistlicher Kraft, die nur bei
dem zu finden ist, der »liebte bis zur Vollendung« (Joh 13,1). Somit
ordnet sich die Erziehung vollkommen in den Horizont der »Zivilisation
der Liebe« ein; von ihr hängt sie ab und trägt in hohem Mabe zu ihrem Aufbau
bei.
Das unaufhörliche und zuversichtliche Gebet der Kirche während des Jahres
der Familie gilt der Erziehung des Menschen, damit die Familien in dem
Bemühen um Erziehung trotz aller mitunter so grob und unüberwindbar erscheinenden
Schwierigkeiten mit Mut, Vertrauen und Hoffnung fortfahren. Die Kirche
betet darum, dab die aus der Quelle der göttlichen Liebe entspringenden
Kräfte der »Zivilisation der Liebe« siegen; Kräfte, die die Kirche unaufhörlich
zum Wohl der ganzen Menschheitsfamilie einsetzt.
Die Familie und die Gesellschaft
17. Die Familie ist eine Gemeinschaft von Personen, die kleinste soziale
Zelle und als solche eine für das Leben jeder Gesellschaft fundamentale
Institution.
Was erwartet die Familie als Institution von der Gesellschaft? Vor allem
in ihrer Identität anerkannt und in ihrer sozialen Subjektivität angenommen
zu werden. Diese Subjektivität ist an die Identität gebunden, die der Ehe
und der Familie eigen ist. Die Ehe, die der Familie als Institution zugrunde
liegt, wird durch den Bund hergestellt, mit dem »Mann und Frau unter sich
die Gemeinschaft des ganzen Lebens begründen, welche durch ihre natürliche
Eigenart auf das Wohl der Ehegatten und auf die Zeugung und die Erziehung
von Nachkommenschaft hingeordnet ist«.40 Nur eine solche Verbindung kann
als »Ehe« in der Gesellschaft anerkannt und bestätigt werden. Nicht können
dies die anderen zwischenmenschlichen Verbindungen, die den oben in Erinnerung
gebrachten Bedingungen nicht entsprechen, auch wenn sich heute über diesen
Punkt Tendenzen verbreiten, die für die Zukunft der Familie und selbst
der Gesellschaft sehr gefährlich sind.
Keine menschliche Gesellschaft darf sich in Grundfragen, die das Wesen
der Ehe und Familie betreffen, in die Gefahr des Permissivismus begeben!
Ein ähnlicher moralischer Permissivismus mub den authentischen Erfordernissen
des Friedens und der Gemeinschaft unter den Menschen Schaden zufügen. Es
ist somit begreiflich, warum die Kirche die Authentizität der Familie verteidigt
und die zuständigen Institutionen, insbesondere die verantwortlichen Politiker,
wie auch die internationalen Organisationen dazu anregt, nicht der Versuchung
einer scheinbaren und falschen Modernität nachzugeben.
Als Liebes- und Lebensgemeinschaft ist die Familie eine tief verwurzelte
soziale Realität und in ganz besonderer Weise eine, wenn auch in verschiedener
Hinsicht bedingte, souveräne Gesellschaft. Die Bejahung der Souveränität
der Institution Familie und die Anerkennung ihrer vielfältigen Bedingtheiten
veranlabt dazu, von den Rechten der Familie zu reden. Diesbezüglich hat
der Heilige Stuhl im Jahre 1983 die Charta der Familienrechte veröffentlicht,
die auch heute ihre ganze Aktualität behält. Die Rechte der Familie sind
eng verknüpft mit den Menschenrechten: Wenn nämlich die Familie Personengemeinschaft
ist, so hängt ihre Selbstverwirklichung ganz mabgebend von der gerechten
Anwendung der Rechte der sie bildenden Personen ab. Einige dieser Rechte
betreffen unmittelbar die Familie, wie das Recht der Eltern auf verantwortete
Zeugung und Erziehung des Nachwuchses; andere Rechte hingegen betreffen
auf nur indirekte Weise den Familienkern: darunter sind von besonderer
Bedeutung: das Recht auf Eigentum, besonders auf das sogenannte Familieneigentum,
und das Recht auf Arbeit.
Die Rechte der Familie sind jedoch nicht einfach die mathematische Summe
der Rechte der Personen, ist doch die Familie etwas mehr als die Summe
ihrer einzeln genommenen Mitglieder. Sie ist Gemeinschaft von Eltern und
Kindern; mitunter Gemeinschaft mehrerer Generationen. Darum schafft ihre
Subjektivität, die sich auf der Grundlage des Planes Gottes aufbaut, die
Grundlage ihrer eigenen und spezifischen Rechte und fordert sie. Die Charta
der Familienrechte, ausgehend von den genannten Moralprinzipien, festigt
die Existenz der Institution Familie innerhalb der Sozial- und Rechtsordnung
der »groben« Gesellschaft: der Nation, des Staates und der internationalen
Gemeinschaften. Jede dieser »groben« Gesellschaften ist zumindest indirekt
von der Existenz der Familie abhängig und beeinflubt; deshalb ist die Definition
von Aufgaben und Pflichten der »groben« Gesellschaft gegenüber der Familie
eine äuberst wichtige und wesentliche Frage.
An erster Stelle steht die nahezu organische Bindung zwischen Familie
und Nation. Natürlich kann man nicht in jedem Fall von Nation im eigentlichen
Sinn sprechen. Dennoch gibt es ethnische Gruppen, die sich zwar nicht als
wirkliche Nationen betrachten können, aber in gewissem Mabe die Funktion
einer »groben« Gesellschaft erfüllen. Sowohl bei der einen wie bei der
anderen Annahme beruht die Bindung der Familie zur ethnischen Gruppe oder
zur Nation vor allem auf der Teilnahme an der Kultur. Die Eltern zeugen
die Kinder gewissermaben auch für die Nation, weil sie deren Mitglieder
sind und an ihrem Geschichts- und Kulturerbe teilhaben. Von Anfang an zeichnet
sich die Identität der Familie gewissermaben auf Grund der Identität der
Nation ab, der sie angehört.
Durch ihre Teilhabe am Kulturerbe der Nation trägt die Familie zu jener
besonderen Souveränität bei, die ihrer Kultur und Sprache entspringt. Ich
habe über dieses Thema vor der UNESCO-Vollversammlung in Paris im Jahr
1980 gesprochen und bin darauf in Anbetracht seiner unzweifelhaften Bedeutung
später wiederholt zurückgekommen. Über die Kultur und die Sprache findet
nicht nur die Nation, sondern jede Familie zu ihrer geistigen Souveränität.
Anders lieben sich viele Ereignisse der Geschichte der Völker, insbesondere
der europäischen, schwer erklären; alte und moderne, herausragende und
schmerzliche Geschehnisse, Siege und Niederlagen, an denen sichtbar wird,
wie organisch die Familie an die Nation und die Nation an die Familie gebunden
ist. Gegenüber dem Staat ist diese Bindung der Familie zum Teil ähnlich
und zum Teil andersartig. Der Staat unterscheidet sich nämlich von der
Nation durch seine weniger »familiäre« Struktur, die wie ein politisches
System und eher »bürokratisch« organisiert ist. Nichtsdestoweniger besitzt
auch das staatliche System in gewissem Sinn seine »Seele« in dem Mabe,
in dem es seinem Wesen als rechtlich geordnete »politische Gemeinschaft«
in Hinordnung auf das Gemeinwohl entspricht.41 Mit dieser »Seele« steht
die Familie in engem Zusammenhang, die mit dem Staat eben kraft des Subsidiaritätsprinzips
verbunden ist. Die Familie ist in der Tat eine soziale Wirklichkeit, die
nicht über alle für die Realisierung ihrer Ziele, auch im Bereich von Unterricht
und Erziehung, notwendigen Mittel verfügt. Der Staat ist daher aufgerufen,
entsprechend dem erwähnten Prinzip zu intervenieren: Dort, wo die Familie
sich selbst genügt, soll man sie selbständig handeln lassen; ein überzogenes
Eingreifen des Staates würde sich als schädlich und über eine Mibachtung
hinaus als eine offene Verletzung der Rechte der Familie erweisen; nur
dort, wo sie selbst wirklich nicht hinreichend ist, hat der Staat die Möglichkeit
und die Pflicht zum Eingreifen.
Abgesehen vom Bereich der Erziehung und des Unterrichts auf allen Stufen
findet die staatliche Hilfe, die Initiativen von Privaten jedenfalls nicht
ausschlieben darf, zum Beispiel in den Einrichtungen ihren Ausdruck, deren
Ziel und Zweck es ist, das Leben und die Gesundheit der Bürger zu schützen,
und besonders in den die Arbeitswelt betreffenden Vorsorgemabnahmen. Die
Arbeitslosigkeit stellt in unseren Tagen eine der ernstesten Bedrohungen
für das Familienleben dar und erfüllt zu Recht alle Gesellschaften mit
Sorge. Sie stellt eine Herausforderung für die Politik der einzelnen Staaten
und einen Gegenstand aufmerksamen Nachdenkens für die Soziallehre der Kirche
dar. Es ist daher unerläblicher und dringender denn je, hier mit mutigen
Lösungen Abhilfe zu schaffen, die auch über nazionale Grenzen hinauszublicken
verstehen zu den vielen Familien, für die das Fehlen von Arbeit zu einem
dramatischen Elend wird.42
Wenn von der Arbeit in bezug auf die Familie gesprochen wird, ist es
richtig, die Bedeutung und die Belastung der Arbeitstätigkeit der Frauen
innerhalb der Kernfamilie hervorzuheben:43 Sie mübte in höchstem Mabe anerkannt
und aufgewertet werden. Die »Mühen« der Frau, die, nachdem sie ein Kind
zur Welt gebracht hat, dieses nährt und pflegt und sich besonders in den
ersten Jahren um seine Erziehung kümmert, sind so grob, dab sie den Vergleich
mit keiner Berufsarbeit zu fürchten brauchen. Das wird klar anerkannt und
nicht weniger geltend gemacht als jedes andere mit der Arbeit verbundene
Recht. Die Mutterschaft und all das, was sie an Mühen mit sich bringt,
mub auch eine ökonomische Anerkennung erhalten, die wenigstens der anderer
Arbeiten entspricht, von denen die Erhaltung der Familie in einer derart
heiklen Phase ihrer Existenz abhängt.
Es mub jede Anstrengung unternommen werden, damit sie als anfängliche
Gesellschaft und in gewissem Sinn als »souverän« anerkannt wird! Ihre »Souveränität«
ist für das Wohl der Gesellschaft unerläblich. Eine wahrhaft souveräne
und geistig starke Nation besteht immer aus starken Familien, die sich
ihrer Berufung und ihrer Sendung in der Geschichte bewubt sind. Die Familie
steht im Zentrum aller dieser Probleme und Aufgaben: Sie in eine untergeordnete
und nebensächliche Rolle zu versetzen, sie aus der ihr in der Gesellschaft
gebührenden Stellung auszuschlieben, heibt, dem echten Wachstum des gesamten
Sozialgefüges einen schweren Schaden zufügen.
II.
DER BRÄUTIGAM IST BEI EUCH
Zu Kana in Galiläa
18. Im Gespräch mit den Jüngern des Johannes spielt Jesus eines Tages
auf die Einladung zu einer Hochzeit und auf die Anwesenheit des Bräutigams
unter den Hochzeitsgästen an: »Der Bräutigam ist bei ihnen« (Mt
9,15). Er wies so auf die Erfüllung des Bildes vom göttlichen Bräutigam
in seiner Person hin, das bereits im Alten Testament benutzt wurde, um
das Geheimnis Gottes als Geheimnis der Liebe vollkommen zu enthüllen.
Dadurch, dab er sich als »Bräutigam« bezeichnete, enthüllt Jesus also
das Wesen Gottes und bekräftigt seine unendliche Liebe zum Menschen. Doch
wirft die Wahl dieses Bildes indirekt auch ein Licht auf die tiefe Wahrheit
der ehelichen Liebe. Während er es in der Tat dazu benutzt, um von Gott
zu sprechen, zeigt Jesus, wieviel Väterlichkeit und wieviel Liebe Gottes
sich in der Liebe eines Mannes und einer Frau widerspiegeln, die sich in
der Ehe vereinen. Dazu ist Jesus am Beginn seiner Sendung in Kana in Galiläa,
um zusammen mit Maria und den ersten Jüngern an einem Hochzeitsmahl teilzunehmen
(vgl. Joh 2,1–11). Er will auf diese Weise zeigen, wie tief die
Wahrheit der Familie in die Offenbarung Gottes und in die Heilsgeschichte
eingeschrieben ist. Im Alten Testament und besonders bei den Propheten
stehen sehr schöne Worte über die Liebe Gottes: eine zuvorkommende Liebe
wie diejenige einer Mutter zu ihrem Kind, zartfühlend wie die des Bräutigams
zur Braut, aber gleichzeitig ebenso zutiefst eifersüchtig; nicht in erster
Linie eine Liebe, die bestraft, sondern vergibt; eine Liebe, die sich,
wie die zwischen dem Vater und dem verschwenderischen Sohn, zum Menschen
hinabbeugt und ihn aufrichtet, indem sie ihn am göttlichen Leben teilhaben
läbt. Eine Liebe, die in Erstaunen versetzt: eine Neuheit, die der ganzen
heidnischen Welt bis dahin unbekannt gewesen war.
In Kana in Galiläa ist Jesus Verkünder der göttlichen Wahrheit über
die Ehe; der Wahrheit, auf die sich die menschliche Familie stützen und
von der sie sich gegen alle Prüfungen des Lebens stärken lassen kann. Jesus
verkündet diese Wahrheit mit seiner Anwesenheit bei der Hochzeit von Kana
und durch das erste von ihm gewirkte »Zeichen«: das zu Wein verwandelte
Wasser.
Wiederum verkündet er die Wahrheit über die Ehe, als er im Gespräch
mit den Pharisäern diesen erklärt, dab die Liebe, die von Gott ist, die
zarte und bräutliche Liebe, Quelle von grundlegenden und tiefgreifenden
Anforderungen ist. Weniger anspruchsvoll war Mose gewesen, der erlaubt
hatte, eine Scheidungsurkunde auszustellen. Als sich die Pharisäer in der
bekannten Auseinandersetzung auf Mose berufen, antwortet Christus entschieden:
»Im Anfang war das nicht so« (Mt 19,8). Und er ruft ihnen in Erinnerung:
Der Schöpfer des Menschen hat diesen als Mann und Frau geschaffen und bestimmt:
»Darum verläbt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau,
und die zwei werden ein Fleisch« (Gen 2,24). Mit logischer Konsequenz
zieht Christus den Schlub: »Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins.
Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen« (Mt
19,6). Auf den Einwand der Pharisäer, die sich auf das mosaische Gesetz
stützen, antwortet er: »Nur weil ihr so hartherzig seid, hat Mose euch
erlaubt, eure Frauen aus der Ehe zu entlassen. Am Anfang war das nicht
so« (Mt 19, 8).
Jesus beruft sich auf den »Anfang« und findet in den Ursprüngen der
Schöpfung selbst den Plan Gottes wieder, auf den sich die Familie und durch
sie die gesamte Geschichte der Menschheit stützt. Die natürliche Wirklichkeit
der Ehe wird nach dem Willen Christi zum wahren und eigentlichen Sakrament
des Neuen Bundes, das mit dem Siegel des Blutes des Erlösers Christus versehen
ist. Eheleute und Familien, erinnert euch, um welchen Preis ihr »erkauft«
worden seid! (vgl. 1 Kor 6,20).
Es ist jedoch von seiten des Menschen her schwer, diese wunderbare Wahrheit
aufzunehmen und zu leben. Wie sollte man sich darüber wundern, dab Mose
den Forderungen seiner Landsleute nachgab, wenn selbst die Apostel, als
sie die Worte des Meisters hörten, antworteten: »Wenn das die Stellung
des Mannes in der Ehe ist, dann ist es nicht gut zu heiraten« (Mt
19,10)! Trotzdem bekräftigt Jesus, um des Wohles des Mannes und der Frau,
der Familie und der ganzen Gesellschaft willen, die von Gott von Anfang
an gestellte Forderung. Gleichzeitig jedoch nimmt er die Gelegenheit wahr,
um den Wert der Entscheidung zur Ehelosigkeit im Hinblick auf das Reich
Gottes geltend zu machen: Auch diese Entscheidung läbt »Zeugung« zu, wenn
auch auf andere Art. Von dieser Entscheidung nehmen das geweihte Leben,
die Orden und die religiösen Kongregationen im Orient und im Abendland
ebenso ihren Ausgang wie die Regelung des priesterlichen Zölibats gemäb
der Tradition der lateinischen Kirche. Es ist also nicht wahr, dab »es
nicht gut ist zu heiraten«, aber die Liebe für das Himmelreich kann einen
auch dazu bringen, nicht zu heiraten (vgl. Mt 19,12).
Zu heiraten bleibt dennoch die gewöhnliche Berufung des Menschen, die
vom gröbten Teil des Gottesvolkes wahrgenommen wird. In der Familie bilden
sich die lebendigen Steine des geistigen Hauses heraus, von denen der Apostel
Petrus spricht (vgl. 1 Petr 2,5). Die Körper der Eheleute sind Wohnstatt
des Heiligen Geistes (vgl. 1 Kor 6,19). Da die Weitergabe des göttlichen
Lebens jene des menschlichen Lebens voraussetzt, werden in der Ehe nicht
nur die Kinder der Menschen geboren, sondern kraft der Taufe auch Adoptivkinder
Gottes, die von dem neuen Leben leben, das sie von Christus durch seinen
Geist empfangen.
Auf diese Weise, liebe Brüder und Schwestern, Eheleute und Eltern, ist
der Bräutigam bei euch. Ihr wibt, dab Er der Gute Hirte ist, und ihr kennt
seine Stimme. Ihr wibt, wohin Er euch führt, wie Er kämpft, um euch die
Weiden zu verschaffen, auf denen ihr das Leben findet und es in Fülle findet;
ihr wibt, dab Er sich den raubgierigen Wölfen entgegenstellt, stets bereit,
ihrem Rachen die Schafe zu entreiben: jeden Ehemann und jede Ehefrau, jeden
Sohn und jede Tochter, jedes Mitglied eurer Familien. Ihr wibt, dab Er
als Guter Hirte bereit ist, sein Leben hinzugeben für die Herde (vgl. Joh
10,11). Er führt euch Wege, die nicht jene abschüssigen und heimtückischen
vieler moderner Ideologien sind; Er wiederholt die Wahrheit unverkürzt
für die heutige Welt, so wie Er sich an die Pharisäer wandte, wie Er sie
den Aposteln verkündete, die sie dann in der Welt verkündeten, indem sie
sie den Menschen ihrer Zeit, Juden wie Griechen, verkündeten. Die Jünger
waren sich wohl bewubt, dab Christus alles neu gemacht hatte; dab der Mensch
zu einer »neuen Schöpfung« geworden war: nicht mehr Jude und Grieche, nicht
mehr Sklave und Freier, nicht mehr Mann und Frau, sondern »einer« in Ihm
(vgl. Gal 3,28), ausgezeichnet mit der Würde eines Adoptivkindes
Gottes. Am Pfingsttag hat dieser Mensch den Tröstergeist, den Geist der
Wahrheit, empfangen; so begann das neue Volk Gottes, die Kirche, als Vorwegnahme
eines neuen Himmels und einer neuen Erde (vgl. Offb 21,1).
Die Apostel, die zuerst auch in bezug auf Ehe und Familie ängstlich
gewesen waren, sind mutig geworden. Sie haben begriffen, dab Ehe und Familie
eine echte, von Gott selbst stammende Berufung darstellen, ein Apostolat
sind: das Apostolat der Laien. Sie dienen der Umgestaltung der Erde und
der Erneuerung der Welt, der Schöpfung und der gesamten Menschheit.
Liebe Familien, auch ihr mübt mutig sein, stets bereit, Zeugnis zu geben
von jener Hoffnung, die euch erfüllt (vgl. 1 Petr 3,15), weil sie euch
vom Guten Hirten durch das Evangelium ins Herz gepflanzt wurde. Ihr mübt
bereit sein, Christus zu jenen Weiden zu folgen, die das Leben geben und
die Er selbst mit dem österlichen Geheimnis seines Todes und seiner Auferstehung
bereitet hat.
Habt keine Angst vor Gefahren! Die göttlichen Kräfte sind weitaus mächtiger
als eure Schwierigkeiten! Unermeblich gröber als das Böse, das in der Welt
Fub fabt, ist die Wirksamkeit des Sakraments der Wiederversöhnung, das
von den Kirchenvätern nicht zufällig »zweite Taufe« genannt wird. Viel
ausgeprägter als die Verderbtheit, die in der Welt gegenwärtig ist, ist
die göttliche Kraft des Sakraments der Firmung, die die Taufe zur Reifung
bringt. Unvergleichlich gröber ist vor allem die Macht der Eucharistie.
Die Eucharistie ist ein wahrhaft wunderbares Sakrament. In ihm hat Christus
sich selbst uns als Speise und Trank, als Quelle heilbringender Kraft hinterlassen.
Er hat sich selbst uns hinterlassen, damit wir das Leben haben und es in
Fülle haben (vgl. Joh 10,10): das Leben, das in Ihm ist und das
Er uns mit der Gabe des Heiligen Geistes in der Auferstehung am dritten
Tag nach seinem Tod mitgeteilt hat. Denn das Leben, das von Ihm kommt,
ist in der Tat für uns. Es ist für euch, liebe Eheleute, Eltern und Familien!
Hat Er die Eucharistie beim Letzten Abendmahl nicht in einer familiären
Umgebung eingesetzt? Wenn ihr euch zu den Mahlzeiten trefft und untereinander
einig seid, ist Christus bei euch. Und noch mehr ist Er der Emmanuel, der
Gott mit uns, wenn ihr euch zum eucharistischen Mahl begebt. Es kann geschehen,
dab man Ihn, wie in Emmaus, erst »beim Brechen des Brotes« erkennt (vgl.
Lk 24,35). Es kommt auch vor, dab Er lange vor der Tür steht und anklopft
in Erwartung, dab Ihm die Tür geöffnet werde, damit Er eintreten und mit
uns Mahl halten kann (vgl. Offb 3,20). Sein letztes Abendmahl und die dabei
gesprochenen Worte bewahren die ganze Macht und Weisheit des Opfers am
Kreuz. Es gibt keine andere Macht und keine andere Weisheit, durch die
wir gerettet werden können und durch die wir zur Rettung der anderen beitragen
können. Es gibt keine andere Macht und keine andere Weisheit, durch die
ihr, Eltern, eure Kinder und auch euch selbst erziehen könnt. Die erzieherische
Macht der Eucharistie hat sich durch die Generationen und Jahrhunderte
hindurch bestätigt.
Der Gute Hirte ist überall bei uns. Wie er in Kana in Galiläa als Bräutigam
unter den Brautleuten anwesend war, die sich einander für das ganze Leben
anvertrauten, so ist der Gute Hirte heute bei euch als Grund der Hoffnung,
als Kraft der Herzen, als Quelle immer neuer Begeisterung und als Zeichen
für den Sieg der »Zivilisation der Liebe«. Jesus, der Gute Hirte, wiederholt
für uns: Fürchtet euch nicht. Ich bin bei euch. »Ich bin bei euch alle
Tage bis zum Ende der Welt« (Mt 28,20). Woher soviel Kraft nehmen?
Woher die Gewibheit nehmen, dab du bei uns bist, obwohl sie dich, Sohn
Gottes, getötet haben und du gestorben bist wie jedes andere Menschenwesen?
Woher diese Gewibheit? Der Evangelist sagt: »Er liebte sie bis zur Vollendung«
(Joh 13,1). Du liebst uns also, Du bist der Erste und der Letzte,
der Lebendige; Du warst tot und lebst nun in alle Ewigkeit (vgl. Offb 1,17–18).
Das tiefe Geheimnis
19. Der hl. Paulus fabt das Thema Familienleben mit dem Wort: »tiefes
Geheimnis« (Eph 5,32) zusammen. Was er im Brief an die Epheser über
dieses »tiefe Geheimnis« schreibt, stellt, auch wenn es im Buch Genesis
und in der gesamten Tradition des Alten Testamentes verwurzelt ist, dennoch
einen neuen Ansatz dar, der sodann im Lehramt der Kirche seinen Niederschlag
finden wird.
Die Kirche bekennt, dab die Ehe als Sakrament des Bundes der Ehegatten
ein »tiefes Geheimnis« ist, da sich in ihr die bräutliche Liebe Christi
zu seiner Kirche ausdrückt. Der hl. Paulus schreibt: »Ihr Männer, liebt
eure Frauen, wie Christus die Kirche geliebt und sich für sie hingegeben
hat, um sie im Wasser und durch das Wort rein und heilig zu machen« (Eph
5,25–26). Der Apostel spricht hier von der Taufe, die er im Brief an die
Römer ausführlich behandelt und die er als Teilhabe am Tod Christi vorstellt,
um sein Leben zu teilen (vgl. Röm 6,3–4). In diesem Sakrament wird
der Gläubige als ein neuer Mensch geboren, da der Taufe die Kraft innewohnt,
ein neues Leben, das Leben Gottes, selbst zu vermitteln. Das göttlich-
menschliche Geheimnis wird in gewissem Sinne im Taufereignis zusammengefabt:
»Christus Jesus, unser Herr, Sohn Gottes – werden später der hl. Irenäus
und viele andere Kirchenväter im Osten und im Westen sagen –, ist Menschensohn
geworden, damit der Mensch Sohn Gottes werden kann.«44
Der Bräutigam ist also derselbe Gott, der Mensch geworden ist. Im Alten
Bund stellt sich Jahwe als Bräutigam Israels, des auserwählten Volkes,
vor: ein zartfühlender und anspruchsvoller, eifersüchtiger und treuer Bräutigam.
Alle Fälle vom Verrat, von der Abtrünnigkeit und dem Götzendienst Israels,
die von den Propheten mit eindrucksvoller Dramatik beschrieben werden,
bringen es nicht zuwege, die Liebe auszulöschen, mit der der Gott-Bräutigam
»bis zur Vollendung liebt« (vgl. Joh 13,1).
Die Bestätigung und die Erfüllung der bräutlichen Gemeinschaft zwischen
Gott und seinem Volk ereignet sich in Christus, im Neuen Bund. Christus
versichert uns, dab der Bräutigam bei uns ist (vgl. Mt 9,15). Er
ist bei uns allen, Er ist bei der Kirche. Die Kirche wird zur Braut: Braut
Christi. Diese Braut, von der der Epheserbrief spricht, vergegenwärtigt
sich in jedem Getauften und ist wie eine Person, die vor dem Blick ihres
Bräutigams erscheint: » . . . Wie Christus die Kirche geliebt und sich
für sie hingegeben hat ( . . .). So will er die Kirche herrlich vor sich
erscheinen lassen, ohne Flecken, Falten oder andere Fehler; heilig soll
sie sein und makellos« (Eph 5,25–27). Die Liebe, mit welcher der
Bräutigam der Kirche »seine Liebe bis zur Vollendung erwies«, bewirkt,
dab sie je neu heilig ist in ihren Heiligen, auch wenn sie weiterhin eine
Kirche von Sündern ist. Auch die Sünder, »die Zöllner und Dirnen«, sind
zur Heiligkeit berufen, wie Christus selbst im Evangelium bezeugt (vgl.
Mt 21,31). Alle sind dazu berufen, herrliche, heilige und makellose
Kirche zu werden. »Seid heilig – sagt der Herr –, weil ich heilig bin«
(Lev 11,44; vgl. 1 Petr 1,16).
Das ist die erhabenste Dimension des »tiefen Geheimnisses«, die innere
Bedeutung der sakramentalen Hingabe in der Kirche, der tiefste Sinn von
Taufe und Eucharistie. Sie sind die Früchte der Liebe, mit der der Bräutgam
geliebt hat bis zur Vollendung; Liebe, die sich ständig ausweitet, indem
sie die Menschen mit wachsender übernatürlicher Teilhabe am göttlichen
Leben beschenkt.
Nachdem der hl. Paulus gesagt hat: »Ihr Männer, liebt eure Frauen« (Eph
5,25), fügt er mit noch gröberer Nachdrücklichkeit hinzu: »Darum sind die
Männer verpflichtet, ihre Frauen so zu lieben wie ihren eigenen Leib. Wer
seine Frau liebt, liebt sich selbst. Keiner hat je seinen eigenen Leib
gehabt, sondern er nährt und pflegt ihn, wie auch Christus die Kirche.
Denn wir sind Glieder seines Leibes« (Eph 5,28–30). Und er ermahnt
die Eheleute mit den Worten: »Einer ordne sich dem andern unter in der
gemeinsamen Ehrfurcht vor Christus« (Eph 5,21).
Das ist gewib eine neue Darstellung der ewigen Wahrheit über die Ehe
und die Familie im Lichte des Neuen Bundes. Christus hat sie geoffenbart
im Evangelium, mit seiner Anwesenheit in Kana in Galiläa, mit dem Opfer
am Kreuz und den Sakramenten seiner Kirche. Die Eheleute finden somit in
Christus den Bezugspunkt ihrer ehelichen Liebe. Wenn der hl. Paulus von
Christus als dem Bräutigam der Kirche spricht, nimmt er in analoger Weise
auf die eheliche Liebe Bezug; er bezieht sich auf das Buch Genesis:
»Darum verläbt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau,
und die zwei werden ein Fleisch« (Gen 2,24). Das ist das »tiefe
Geheimnis« der ewigen Liebe, die bereits vor der Schöpfung gegenwärtig
war, in Christus geoffenbart und der Kirche anvertraut wurde. »Dies ist
ein tiefes Geheimnis – sagt der Apostel –; ich beziehe es auf Christus
und auf die Kirche« (Eph 5,32). Man kann daher die Kirche nicht
als mystischen Leib Christi, als Zeichen des Bundes des Menschen mit Gott
in Christus, als universales Sakrament des Heiles verstehen, ohne sich
auf das »tiefe Geheimnis« zu beziehen, das mit der Erschaffung des Menschen
als Mann und Frau und mit der Berufung der beiden zur ehelichen Liebe,
zur Elternschaft verbunden ist. Das »tiefe Geheimnis«, das die Kirche und
das Menschsein in Christus ist, existiert nicht ohne das »tiefe Geheimnis«,
das in dem »ein Fleisch sein« (vgl. Gen 2,24; Eph 5,31–32),
das heibt in der Wirklichkeit der Ehe und Familie, zum Ausdruck kommt.
Die Familie selbst ist das tiefe Geheimnis Gottes. Als »Hauskirche«
ist sie die Braut Christi. Die Universalkirche und in ihr jede Teilkirche
enthüllt sich ganz unmittelbar als Braut Christi in der »Hauskirche« und
in der in ihr gelebten Liebe: eheliche Liebe, elterliche Liebe, geschwisterliche
Liebe, Liebe einer Gemeinschaft von Personen und Generationen. Ist etwa
die menschliche Liebe ohne den Bräutigam und ohne die Liebe denkbar, mit
der Er zuerst geliebt hat bis zur Vollendung? Nur wenn sie an dieser Liebe
und an diesem »tiefen Geheimnis« teilnehmen, können die Eheleute lieben
»bis zur Vollendung«: Entweder werden sie zu Teilhabern an dieser Liebe,
oder sie lernen nicht bis ins Innerste kennen, was die Liebe ist und wie
radikal ihre Anforderungen sind. Das stellt zweifellos eine grobe Gefahr
für sie dar.
Die Lehre des Epheserbriefes versetzt uns wegen ihrer Tiefgründigkeit
und wegen ihrer ethischen Kraft in Erstaunen. Indem er die Ehe und indirekt
die Familie als das »tiefe Geheimnis« in bezug auf Christus und auf die
Kirche bezeichnet, kann der Apostel Paulus noch einmal bekräftigen, was
er vorher zu den Ehemännern gesagt hatte: »Jeder von euch liebe seine Frau
wie sich selbst!« Dann fügt er hinzu: »Die Frau aber ehre den Mann!« (Eph
5,33). Sie ehrt ihn, weil sie ihn liebt und sich wieder geliebt weib.
Kraft solcher Liebe werden sich die Eheleute gegenseitig zum Geschenk.
In der Liebe ist die Anerkennung der persönlichen Würde des anderen und
seiner unwiederholbaren Einzigartigkeit enthalten: Tatsächlich wurde jeder
von ihnen als menschliches Wesen unter allen Kreaturen auf Erden von Gott
um seiner selbst willen gewollt;45 jeder macht sich jedoch mit dem bewubten
und verantwortlichen Akt selbst und aus freien Stücken zum Geschenk an
den anderen und an die vom Herrn empfangenen Kinder. Bezeichnenderweise
fährt der hl. Paulus in seiner Ermahnung fort, indem er einen Zusammenhang
zum vierten Gebot herstellt: »Ihr Kinder, gehorcht euren Eltern, wie es
vor dem Herrn recht ist. Ehre deinen Vater und deine Mutter: Das ist ein
Hauptgebot, und ihm folgt die Verheibung: damit es dir gut geht und du
lange lebst auf der Erde. Ihr Väter, reizt eure Kinder nicht zum Zorn,
sondern erzieht sie in der Zucht und Weisung des Herrn!« (Eph 6,1–4).
Der Apostel sieht also im vierten Gebot folgerichtig den Auftrag zu gegenseitiger
Achtung zwischen Ehemann und Ehefrau, zwischen Eltern und Kindern und erkennt
so in ihm das Prinzip der gefestigten Geschlossenheit der Familie.
Die wunderbare paulinische Synthese über das »tiefe Geheimnis« stellt
sich gewissermaben als Zusammenfassung, als Summe der Lehre über Gott und
den Menschen dar, die Christus zu Ende geführt hat. Leider hat sich das
abendländische Denken mit der Entwicklung des modernen Rationalismus nach
und nach von dieser Lehre entfernt. Der Philosoph, der das Prinzip Cogito,
ergo sum »Ich denke, also bin ich«, formuliert hat, hat auch der modernen
Auffassung vom Menschen den dualistischen Charakter aufgeprägt, der sie
kennzeichnet. Zum Rationalismus gehört die radikale Gegeneinanderstellung
von Geist und Körper und Körper und Geist im Menschen. Der Mensch ist hingegen
Person in der Einheit von Körper und Geist.46 Der Körper darf niemals auf
reine Materie verkürzt werden: Er ist ein »von Geist erfüllter« Körper,
so wie der Geist so tief mit dem Körper verbunden ist, dab er ein »leibhaftiger«
Geist genannt werden kann. Die reichste Quelle für die Kenntnis des Körpers
ist das fleischgewordene Wort. Christus offenbart den Menschen dem Menschen.47
Diese Aussage des Zweiten Vatikanischen Konzils ist in gewissem Sinne die
lange erwartete Antwort der Kirche an den modernen Rationalismus.
Diese Antwort gewinnt eine grundlegende Bedeutung für das Verständnis
der Familie, besonders vor dem Hintergrund der heutigen Zivilisation, die,
wie schon gesagt wurde, in so vielen Fällen anscheinend darauf verzichtet
hat, eine »Zivilisation der Liebe« zu sein. Grob ist im modernen Zeitalter
der Fortschritt in der Kenntnis der materiellen Welt und auch der menschlichen
Psychologie gewesen; was aber seine innerste Dimension, die metaphysische
Dimension, betrifft, so bleibt der heutige Mensch für sich selbst grobenteils
ein unbekanntes Wesen; folglich bleibt auch die Familie eine unbekannte
Wirklichkeit. Dazu kommt es wegen der Entfernung von jenem »tiefen Geheimnis«,
von dem der Apostel spricht.
Die Trennung im Menschen zwischen Geist und Körper hatte zur Folge,
dab sich die Tendenz verstärkte, den menschlichen Leib nicht nach den Kategorien
seiner spezifischen Ähnlichkeit mit Gott zu behandeln, sondern nach den
Kategorien seiner Ähnlichkeit mit allen anderen in der Natur vorhandenen
Körpern, Körpern, die der Mensch als Material für seine auf die Herstellung
von Konsumgütern ausgerichtete Tätigkeit verwendet. Doch wird jeder unmittelbar
einsehen, dab die Anwendung solcher Kriterien auf den Menschen in Wirklichkeit
enorme Gefahren in sich birgt. Wenn der unabhängig von Geist und Denken
betrachtete menschliche Körper als Material wie der Körper von Tieren verwendet
wird – und das geschieht zum Beispiel bei den Manipulationen an Embryonen
und Föten –, gehen wir unausweichlich einer schrecklichen ethischen Niederlage
entgegen.
In einer solchen anthropologischen Perspektive erlebt die Menschheitsfamilie
soeben die Erfahrung eines neuen Manichäismus, in dem der Körper und der
Geist radikal einander entgegengesetzt werden. Weder lebt der Körper vom
Geist, noch belebt der Geist den Körper. Der Mensch hört so auf, als Person
und Subjekt zu leben. Trotz der Absichten und gegenteiligen Erklärungen
wird er ausschlieblich zu einem Objekt. Auf diese Weise hat diese neomanichäische
Zivilisation zum Beispiel dazu geführt, dab man in der menschlichen Sexualität
mehr ein Terrain der Manipulation und der Ausbeutung sieht als die Wirklichkeit
jenes anfänglichen Staunens, das Adam am Morgen der Schöpfung vor Eva sagen
lieb: »Das ist Fleisch von meinem Fleisch und Bein von meinem Gebein« (vgl.
Gen 2,23). Und das Staunen, das in den Worten des Hohenliedes anklingt:
»Verzaubert hast du mich, meine Schwester Braut, ja verzaubert mit einem
Blick deiner Augen« (Hld 4,9). Wie weit entfernt sind doch gewisse moderne
Auffassungen von dem tiefen Verständnis der Männlichkeit und Weiblichkeit,
das uns die christliche Offenbarung bietet! Sie läbt uns in der menschlichen
Sexualität einen Reichtum der Person entdecken, die die wahre Erschliebung
ihres Wertes in der Familie findet und ihre tiefe Berufung auch in der
Jungfräulichkeit und im Zölibat um des Himmelreiches willen zum Ausdruck
bringt.
Der moderne Rationalismus duldet das Geheimnis nicht. Er akzeptiert
das Geheimnis des Menschen, des Mannes und der Frau, nicht und will nicht
anerkennen, dab die volle Wahrheit über den Menschen in Jesus Christus
geoffenbart worden ist. Im besonderen duldet er nicht das im Epheserbrief
verkündete »tiefe Geheimnis« und bekämpft es auf radikale Weise. Selbst
wenn er im Rahmen eines unklaren Deismus die Möglichkeit eines höheren
oder göttlichen Wesens und sogar das Verlangen nach ihm anerkennt, weist
er die Vorstellung von einem Gott, der Mensch geworden ist, um den Menschen
zu erlösen, entschieden zurück. Für den Rationalismus ist es undenkbar,
dab Gott der Erlöser ist, schon gar nicht, dab er »der Bräutigam« ist,
die urgründliche und einzige Quelle der ehelichen Liebe des Menschen. Er
interpretiert die Erschaffung und den Sinn der menschlichen Existenz radikal
anders. Aber wenn dem Menschen der Ausblick auf einen Gott abhanden kommt,
der ihn liebt und ihn durch Christus dazu beruft, in Ihm und mit Ihm zu
leben, wenn der Familie nicht die Möglichkeit eröffnet wird, an dem »tiefen
Geheimnis« teilzuhaben, was bleibt dann anderes als die reine irdische
Dimension des Lebens? Es bleibt das irdische Leben als Gelände des Existenzkampfes,
die anstrengende Suche nach Gewinn, vor allem nach ökonomischem Gewinn.
Das »tiefe Geheimnis«, das Sakrament der Liebe und des Lebens, das seinen
Anfang in der Schöpfung und in der Erlösung hat und dessen Garant der Bräutigam
Christus ist, hat in der modernen Denkweise seine tiefsten Wurzeln verloren.
Es ist in uns und rings um uns bedroht. Möge das in der Kirche begangene
Jahr der Familie für die Eheleute zu einer geeigneten Gelegenheit werden,
es wiederzuentdecken und sich kraftvoll, mutig und mit Begeisterung wieder
dazu zu bekennen.
Die Mutter der schönen Liebe
20. Ihren Anfang nimmt die Geschichte der »schönen Liebe« mit der Verkündigung,
mit jenen wunderbaren Worten, die der Engel Maria überbracht hat, die dazu
berufen wird, die Mutter des Gottessohnes zu werden. Mit dem »Ja« Marias
wird Der, der »Gott von Gott und Licht vom Licht« ist, zum Menschensohn;
Maria ist seine Mutter, obwohl sie Jungfrau bleibt und »keinen Mann erkennt«
(vgl. Lk 1,34). Als Jungfrau und Mutter wird Maria Mutter der schönen
Liebe. Diese Wahrheit ist bereits in den Worten des Erzengels Gabriel geoffenbart,
aber ihre volle Bedeutung wird nach und nach vertieft und bestätigt werden,
wenn Maria ihrem Sohn auf dem Pilgerweg des Glaubens folgt.48
Die »Mutter der schönen Liebe« wurde von dem aufgenommen, der der Tradition
Israels entsprechend bereits ihr irdischer Gemahl war, Josef aus dem Stamm
Davids. Er hätte das Recht gehabt, sich Gedanken zu machen über das Eheversprechen
sowie über seine Frau und die Mutter seiner Kinder. In diese bräutliche
Verbindung greift jedoch Gott mit seiner Initiative ein: »Josef, Sohn Davids,
fürchte dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen; denn das Kind,
das sie erwartet, ist vom Heiligen Geist« (Mt 1,20). Josef weib,
ja er sieht mit eigenen Augen, dab in Maria ein neues Leben heranwächst,
das nicht von ihm stammt, und als gerechter Mann, der sich an das alte
Gesetz hält, das in diesem Fall ihm die Pflicht der Scheidung auferlegte,
will er in liebevoller Weise die Ehe auflösen (vgl. Mt 1,19). Der
Engel des Herrn läbt ihn wissen, dab das nicht seiner Berufung entspräche,
ja gegen die eheliche Liebe wäre, die ihn mit Maria verbindet. Diese gegenseitige
eheliche Liebe verlangt, um voll und ganz die »schöne Liebe« zu sein, dab
er Maria und ihren Sohn in sein Haus in Nazaret aufnimmt. Josef gehorcht
der göttlichen Botschaft und handelt so, wie ihm befohlen worden ist (vgl.
Mt 1,24). Auch dank Josefs wird das Geheimnis der Fleischwerdung
und zusammen mit ihm das Geheimnis der Heiligen Familie tief in die eheliche
Liebe des Mannes und der Frau und indirekt in die Genealogie jeder menschlichen
Familie eingeschrieben. Was Paulus das »tiefe Geheimnis« nennen wird, findet
in der Heiligen Familie seinen höchsten Ausdruck. Auf diese Weise steht
die Familie wahrhaftig im Zentrum des Neuen Bundes.
Man kann auch sagen, dab die Geschichte der »schönen Liebe« in gewissem
Sinne mit dem ersten Menschenpaar, mit Adam und Eva, begonnen hat. Die
Versuchung, der sie nachgaben, und die daraus folgende Ursünde, beraubt
sie nicht vollständig der Fähigkeit zur »schönen Liebe«. Das ahnt man,
wenn man zum Beispiel im Buch Tobit liest, dab die Neuvermählten Tobias
und Sara, als sie über den Sinn ihrer Vereinigung nachdachten, sich auf
die Voreltern Adam und Eva beriefen (vgl. Tob 8,6). Im Neuen Bund bezeugt
das auch der hl. Paulus, wenn er von Christus als neuem Adam spricht (vgl.
1 Kor 15,45): Christus kommt nicht, um den ersten Adam und die erste
Eva zu verdammen, sondern um sie zu erlösen; er kommt, um das zu erneuern,
was im Menschen Geschenk Gottes ist, was in ihm ewig, gut und schön ist
und die Grundlage der schönen Liebe bildet. Die Geschichte der »schönen
Liebe« ist in gewissem Sinne die Geschichte der Heilsrettung des Menschen.
Die »schöne Liebe« nimmt immer mit der Selbstoffenbarung der Person
ihren Anfang. In der Schöpfung offenbart sich Eva dem Adam, wie Adam sich
Eva offenbart. Im Laufe der Geschichte offenbaren sich die neuen Bräute
ihren Gatten, die neuen Menschenpaare sagen sich gegenseitig: »Wir wollen
miteinander durch's Leben gehen.« So beginnt die Familie als Bund der beiden
und kraft des Sakramentes als neue Gemeinschaft in Christus. Damit sie
wirklich schön ist, mub die Liebe Hingabe Gottes sein, ausgegossen vom
Heiligen Geist in die menschlichen Herzen und in ihnen ständig genährt
(vgl. Röm 5,5). Die Kirche, die darum weib, bittet im Ehesakrament
den Heiligen Geist, die menschlichen Herzen heimzusuchen. Damit es wirklich
»schöne Liebe«, das heibt Hingabe der Person an die Person, ist, mub sie
von dem kommen, der selbst Hingabe und Quelle aller Hingabe ist.
So geschieht es im Evangelium, was Maria und Josef betrifft, die an
der Schwelle des Neuen Bundes die Erfahrung der im Hohenlied beschriebenen
»schönen Liebe« wieder erleben. Josef denkt und sagt von Maria: »Meine
Schwester Braut« (vgl. Hld 4,9). Maria, Gottesmutter, empfängt durch den
Heiligen Geist, und von ihm kommt die »schöne Liebe«, die das Evangelium
feinsinnigerweise in den Zusammenhang des »tiefen Geheimnisses« stellt.
Wenn wir von der »schönen Liebe« reden, reden wir damit von der Schönheit:
Schönheit der Liebe und Schönheit des Menschenwesens, das kraft des Heiligen
Geistes zu solcher Liebe fähig ist. Wir reden von der Schönheit des Mannes
und der Frau: von ihrer Schönheit als Bruder oder Schwester, als Brautleute,
als Ehegatten. Das Evangelium klärt nicht nur über das Geheimnis der »schönen
Liebe« auf, sondern auch über das nicht weniger tiefe Geheimnis der Schönheit,
die wie die Liebe von Gott kommt. Von Gott sind der Mann und die Frau,
Personen, dazu berufen, sich gegenseitig zum Geschenk zu werden. Aus dem
Urgeschenk des Geistes, »der das Leben gibt«, entspringt das gegenseitige
Geschenk, Ehemann oder Ehefrau zu sein, nicht weniger als das Geschenk,
Bruder oder Schwester zu sein.
Das alles findet seine Bestätigung im Geheimnis der Fleischwerdung,
das in der Geschichte der Menschen zur Quelle einer neuen Schönheit geworden
ist, die unzählige künstlerische Meisterwerke inspiriert hat. Nach dem
strengen Verbot, den unsichtbaren Gott in Bildern darzustellen (vgl. Dtn
4,15–20), hat das christliche Zeitalter dagegen für die künstlerische Darstellung
des menschgewordenen Gottes, seiner Mutter Maria und Josefs, der Heiligen
des Alten wie des Neuen Bundes und überhaupt der gesamten von Christus
erlösten Schöpfung gesorgt und auf diese Weise einen neuen Bezug zur Welt
der Kultur und der Kunst hergestellt. Man kann sagen, der neue Kunstkanon,
in seiner Achtsamkeit für die Tiefendimensionen des Menschen und für seine
Zukunft beginnt mit dem Geheimnis der Inkarnation Christi und läbt sich
von den Geheimnissen seines Lebens inspirieren: die Geburt von Betlehem,
die Verborgenheit in Nazaret, das öffentliche Wirken, Golgota, die Auferstehung
und seine endgültige Rückkehr in Herrlichkeit. Die Kirche weib, dab ihre
Präsenz in der modernen Welt und im besonderen, dab ihr Beitrag und die
Unterstützung bei der Bewertung der Würde der Ehe und Familie eng mit der
Kulturentwicklung zusammenhängt; mit Recht macht sie sich darum Sorge.
Eben deshalb verfolgt die Kirche aufmerksam die Orientierungen der sozialen
Kommunikationsmittel, deren Aufgabe es ist, das grobe Publikum nicht nur
zu informieren, sondern zu formen.49 In Kenntnis der umfassenden und tiefgreifenden
Auswirkung dieser Medien wird sie nicht müde, jene, die im Kommunikationsbereich
tätig sind, vor den Gefahren der Manipulation der Wahrheit zu warnen. Was
für eine Wahrheit kann es in der Tat in Filmen, Schauspielen, Rundfunk-
und Fernsehprogrammen geben, in denen die Pornographie und die Gewalt vorherrschen?
Ist das ein guter Dienst an der Wahrheit über den Menschen? Das sind einige
Fragen, denen sich die Manager dieser Instrumente und die verschiedenen
Verantwortlichen für die Bearbeitung und Vermarktung ihrer Produkte nicht
entziehen können.
Durch eine solche kritische Reflexion mübte sich unsere Zivilisation,
obschon so viele positive Aspekte auf materieller wie auf kultureller Ebene
zu verzeichnen sind, bewubt werden, dab sie unter verschiedenen Gesichtspunkten
eine kranke Zivilisation ist, die tiefgreifende Entstellungen im Menschen
erzeugt. Warum kommt es dazu? Der Grund liegt darin, dab unsere Gesellschaft
sich von der vollen Wahrheit über den Menschen losgelöst hat, von der Wahrheit
über das, was der Mann und die Frau als Personen sind. Infolgedessen vermag
sie nicht angemessen zu begreifen, was die Hingabe der Personen in der
Ehe, eine dem Dienst der Elternschaft verantwortliche Liebe, die authentische
Gröbe der Elternschaft und der Erziehung wirklich sind. Ist es also übertrieben
zu behaupten, dab die Massenmedien, wenn sie sich nicht nach den gesunden
ethischen Prinzipien ausrichten, nicht der Wahrheit in ihrer wesentlichen
Dimension dienen? Das ist also das Drama: Die modernen Mittel der sozialen
Kommunikation sind der Versuchung ausgesetzt, durch Verfälschung der Wahrheit
über den Menschen die Botschaft zu manipulieren. Der Mensch ist nicht derjenige,
für den von der Werbung Reklame gemacht und der in den modernen Massenmedien
dargestellt wird. Er ist weit mehr als psychophysische Einheit, als ein
Wesen aus Seele und Leib, als Person. Er ist weit mehr durch seine Berufung
zur Liebe, die ihn als Mann und Frau in die Dimension des »tiefen Geheimnisses«
einführt.
Maria ist als erste in diese Dimension eingetreten und hat auch ihren
Gemahl Josef darin eingeführt. So sind sie zu den ersten Vorbildern jener
schönen Liebe geworden, die die Kirche für die Jugend, für die Eheleute
und für die Familien unaufhörlich anruft. Und auch die Jugend, die Eheleute,
die Familie mögen nicht müde werden, gleichfalls dafür zu beten. Wie sollte
man nicht an die Scharen alter und junger Pilger denken, die in den Marienheiligtümern
zusammenströmen und den Blick auf das Antlitz der Muttergottes richten,
auf das Antlitz der Mitglieder der Heiligen Familie, auf denen sich die
ganze Schönheit der Liebe widerspiegelt, die dem Menschen von Gott geschenkt
wird?
In der Bergpredigt erklärt Christus im Zusammenhang mit dem sechsten
Gebot: »Ihr habt gehört, dab gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe
brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat
in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen« (Mt 5,27–28).
In bezug auf die Zehn Gebote, die es auf die Verteidigung der traditionellen
Geschlossenheit von Ehe und Familie abgesehen haben, bezeichnen diese Worte
einen groben Sprung nach vorn. Jesus geht an die Quelle der Sünde des Ehebruchs:
Sie liegt im Innern des Menschen und wird an einer Weise des Schauens und
Denkens offenkundig, die von der Begierde beherrscht wird. Durch die Begierde
neigt der Mensch dazu, sich ein anderes Menschenwesen anzueignen, das nicht
ihm, sondern Gott gehört. Während sich Christus an seine Zeitgenossen wendet,
spricht er zu den Menschen aller Zeiten und aller Generationen; er spricht
im besonderen zu unserer Generation, die im Zeichen einer konsumistischen
und hedonistischen Zivilisation lebt.
Warum äubert sich Christus in der Bergpredigt in derart kraftvoller
und anspruchsvoller Weise? Die Antwort ist vollkommen klar: Christus will
die Heiligkeit der Ehe und der Familie gewährleisten, Er will die volle
Wahrheit über die menschliche Person und über ihre Würde verteidigen.
Nur im Lichte dieser Wahrheit kann die Familie bis ins letzte die grobe
»Offenbarung« sein, die erste Entdeckung des andern: die gegenseitige Entdeckung
der Ehegatten und dann jedes Sohnes bzw. jeder Tochter, die von ihnen zur
Welt gebracht werden. Was die Eheleute einander schwören, nämlich »die
Treue in guten und in bösen Tagen und sich zu lieben, zu achten und zu
ehren, solange sie leben«, ist nur in der Dimension der »schönen Liebe«
möglich. Sie kann der heutige Mensch nicht aus den Inhalten der modernen
Massenkultur lernen. Die »schöne Liebe« lernt man vor allem durch Beten.
Denn das Gebet ist, um eine Formulierung des hl. Paulus zu verwenden, immer
mit einer Art innerer Verborgenheit mit Christus in Gott verbunden: »Euer
Leben ist mit Christus verborgen in Gott« (Kol 3,3). Nur in einer solchen
Verborgenheit wirkt der Heilige Geist, Quelle der schönen Liebe. Nicht
nur in das Herz Marias und Josefs, er giebt diese Liebe auch in die Herzen
der Brautleute aus, die imstande sind, das Wort Gottes zu hören und es
zu bewahren (vgl. Lk 8,15). Die Zukunft jeder Kernfamilie hängt
von dieser »schönen Liebe« ab: gegenseitige Liebe der Ehegatten, der Eltern
und der Kinder, Liebe aller Generationen. Die Liebe ist die wahre Quelle
der Einheit und der Stärke der Familie.
Die Geburt und die Gefahr
21. Die kurze Erzählung über die Kindheit Jesu berichtet auf sehr bedeutsame
Weise fast gleichzeitig von seiner Geburt und von der Gefahr, der er gleich
entgegentreten mub. Lukas gibt die prophetischen Worte wieder, die der
greise Simeon anläblich der Darstellung des Kindes im Tempel, vierzig Tage
nach der Geburt, gesprochen hat. Er sprach von »Licht« und von einem »Zeichen,
dem widersprochen wird«; dann prophezeite er Maria: »Dir selbst aber wird
ein Schwert durch die Seele dringen« (vgl. Lk 2,32–35). Matthäus hingegen
hält bei dem hinterhältigen Vorgehen ein, das von seiten des Herodes gegen
Jesus angezettelt wurde: Als er von den Magiern, die aus dem Osten gekommen
waren, um den neuen König zu sehen, der geboren werden sollte, informiert
wurde (vgl. Mt 2,2), fühlte er sich in seiner Macht bedroht und
befahl nach der Abreise der Magier, alle Kinder unter zwei Jahren in Betlehem
und Umgebung zu töten. Jesus entging den Fängen des Herodes dank eines
besonderen göttlichen Eingreifens und dank der väterlichen Sorge Josefs,
der ihn zusammen mit seiner Mutter nach Ägypten brachte, wo sie bis zum
Tod des Herodes blieben. Dann kehrten sie in ihre Geburtsstadt Nazaret
zurück, wo für die Heilige Familie ein langer, von getreuer und grobherziger
Erfüllung der Alltagspflichten gekennzeichneter verborgener Lebensabschnitt
begann (vgl. Mt 2,1–23; Lk 2,39–52).
Von prophetischer Aussagekraft erscheint die Tatsache, dab Jesus von
Geburt an Drohungen und Gefahren ausgesetzt war. Er ist bereits als Kind
ein »Zeichen, dem widersprochen wird«. Prophetische Aussagekraft gewinnt
auberdem das Drama der auf Befehl des Herodes ermordeten unschuldigen Kinder
von Betlehem, die, nach der alten Liturgie der Kirche, zu Teilhabern an
der Geburt und dem erlösenden Leiden und Sterben Christi geworden sind.50
Durch ihre »Passion« ergänzen sie, »für den Leib Christi, die Kirche, was
an den Leiden Christi noch fehlt« (Kol 1,24).
Im Evangelium von der Kindheit wird also die Ankündigung des Lebens,
die sich auf wunderbare Weise im Ereignis der Geburt des Erlösers erfüllt,
in aller Deutlichkeit der Bedrohung des Lebens gegenübergestellt, eines
Lebens, das in seiner Vollständigkeit das Geheimnis der Fleischwerdung
und der gottmenschlichen Wirklichkeit Christi einschliebt. Das Wort ist
Fleisch geworden (vgl. Joh 1,14), Gott ist Mensch geworden. Auf
dieses erhabene Geheimnis beriefen sich die Kirchenväter oft: »Gott ist
Mensch geworden, damit der Mensch in ihm und durch ihn Gott werde.«51 Diese
Glaubenswahrheit ist gleichzeitig die Wahrheit über den Menschen. Sie legt
die Schwere jedes Anschlags auf das Leben des Kindes im Mutterschob an
den Tag. Hier, genau hier haben wir es mit dem Gegensatz zur »schönen Liebe«
zu tun. Wer es ausschlieblich auf den Genub abgesehen hat, kann soweit
gehen, die Liebe dadurch zu töten, dab er ihre Frucht tötet. Für die Kultur
des Genusses wird die »Frucht deines Leibes, die gesegnet ist« (Lk
1,42), in gewissem Sinne zu einer »Frucht, die verflucht ist«.
In diesem Zusammenhang sind auch die Verzerrungen in Erinnerung zu bringen,
die der sogenannte Rechtsstaat in zahlreichen Ländern erfahren hat. Das
Gesetz Gottes gegenüber dem menschlichen Leben ist eindeutig und entschieden.
Gott gebietet: »Du sollst nicht töten« (Ex 20,13). Kein menschlicher Gesetzgeber
kann daher behaupten: Du darfst töten, du hast das Recht zu töten, oder,
du solltest töten. Leider hat sich dies in der Geschichte unseres Jahrhunderts
bewahrheitet, als auch auf demokratische Weise an die Macht gekommene politische
Kräfte gegen das Recht eines jeden Menschen auf Leben gerichtete Gesetze
erlassen haben, und dies unter Berufung auf so anmabende wie abwegige eugenische,
ethnische oder ähnliche Gründe. Ein auch wegen seiner weithin von Gleichgültigkeit
oder Zustimmung seitens der öffentlichen Meinung begleitetes nicht minder
schwerwiegendes Phänomen ist das der Gesetzgebung, die das Recht auf Leben
von der Zeugung an nicht achtet. Wie könnte man Gesetze moralisch akzeptieren,
die es gestatten, das noch nicht geborene menschliche Wesen, das aber bereits
im mütterlichen Schob lebt, zu töten? Das Recht auf Leben wird zum ausschlieblichen
Vorrecht der Erwachsenen, die sich eben genau der Parlamente bedienen,
um ihre Vorhaben in die Tat umzusetzen und die eigenen Interessen zu verfolgen.
Das Recht auf Leben wird dem, der noch nicht geboren ist, verweigert, und
so sterben auf Grund dieser gesetzgeberischen Dispositionen Millionen Menschenwesen
auf der ganzen Welt.
Wir stehen vor einer enormen Bedrohung des Lebens: nicht nur einzelner
Individuen, sondern auch der ganzen Zivilisation. Die Behauptung, diese
Zivilisation sei unter gewissen Gesichtspunkten zu einer »Zivilisation
des Todes« geworden, erhält eine besorgniserregende Bestätigung. Ist es
etwa kein prophetisches Ereignis, dab die Geburt Christi von der Gefahr
für seine Existenz begleitet gewesen ist? Ja, auch das Leben dessen, der
gleichzeitig »Menschensohn« und »Sohn Gottes« ist, war bedroht, war von
Anfang an in Gefahr und ist nur durch ein Wunder dem Tod entronnen.
In den letzten Jahrzehnten sind jedoch einige tröstliche Anzeichen für
ein Wiedererwachen der Gewissen festzustellen: Das betrifft sowohl die
Welt des Denkens wie selbst die öffentliche Meinung. Besonders unter den
Jugendlichen wächst ein neues Bewubtsein der Ehrfurcht vor dem Leben von
der Empfängnis an; die Bewegungen für das Leben (pro life) breiten sich
aus. Das ist eine Triebkraft der Hoffnung für die Zukunft der Familie und
der ganzen Menschheit.
» . . . ihr habt mich aufgenommen«
22. Eheleute und Familien in aller Welt: Der Bräutigam ist bei euch!
Das vor allem will euch der Papst in dem Jahr sagen, das die Vereinten
Nationen und die Kirche der Familie widmen. »Gott hat die Welt so sehr
geliebt, dab er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt,
nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat. Denn Gott hat seinen
Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit
die Welt durch ihn gerettet wird« (Joh 3,16–17); »Was aus dem Fleisch
geboren ist, das ist Fleisch; was aber aus dem Geist geboren ist, das ist
Geist . . . Ihr mübt von neuem geboren werden« (Joh 3,6–7). Ihr
mübt »aus Wasser und Geist geboren werden« (Joh 3,5). Gerade ihr,
liebe Väter und Mütter, seid die ersten Zeugen und Diener dieser neuen
Geburt aus dem Heiligen Geist. Ihr, die ihr eure Kinder für die irdische
Heimat zeugt, vergebt nicht, dab ihr sie gleichzeitig für Gott zeugt. Gott
wünscht ihre Geburt aus dem Heiligen Geist; Er will sie als Adoptivkinder
in dem eingeborenen Sohn, der uns »Macht gibt, Kinder Gottes zu werden«
(Joh 1,12). Das Werk der Errettung dauert in der Welt an und wird
durch die Kirche verwirklicht. Das alles ist das Werk des Sohnes Gottes,
des göttlichen Bräutigams, der das Reich des Vaters an uns weitergegeben
hat und uns, seine Jünger, daran erinnert: »Das Reich Gottes ist (schon)
mitten unter euch!« (Lk 17,21).
Unser Glaube sagt uns, dab Jesus Christus, der »zur Rechten des Vaters
sitzt«, kommen wird, um die Lebenden und die Toten zu richten. Auf der
anderen Seite versichert uns der Evangelist Johannes, dab er nicht in die
Welt gesandt ist, »damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch
ihn gerettet wird« (Joh 3,17). Worin besteht also das Gericht? Christus
selbst bietet die Antwort: »Mit dem Gericht verhält es sich so: Das Licht
kam in die Welt ( . . . ). Wer die Wahrheit liebt, kommt zum Licht, damit
offenbar wird, dab seine Taten in Gott vollbracht sind« (Joh 3,19.21).
Das alles hat kürzlich die Enzyklika Veritatis splendor in Erinnerung gebracht.52
Ist Christus also Richter? Deine eigenen Taten werden dich im Licht der
Wahrheit richten, die du kennst. Die Väter und Mütter, die Söhne und Töchter
werden nach ihren Taten gerichtet werden. Jeder von uns wird nach den Geboten
gerichtet werden; auch nach jenen Geboten, die wir in diesem Schreiben
erwähnt haben: dem vierten, fünften, sechsten und neunten. Ein jeder von
uns wird jedoch vor allem nach der Liebe gerichtet werden, die den Sinn
und die Zusammenfassung der Gebote darstellt. »Am Abend unseres Lebens
werden wir nach der Liebe gerichtet werden« – schrieb der hl. Johannes
vom Kreuz.53 Christus, Erlöser und Bräutigam der Menschheit, »ist dazu
geboren und dazu in die Welt gekommen, dab er für die Wahrheit Zeugnis
ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf seine Stimme« (vgl. Joh
18,37). Er wird der Richter sein, aber so, wie er selbst es angezeigt
hat, als er vom Weltgericht sprach (vgl. Mt 25,31–46). Sein Gericht
wird ein Gericht über die Liebe sein, ein Gericht, das die Wahrheit endgültig
bestätigen wird, dab der Bräutigam bei uns war und wir es vielleicht nicht
gewubt haben.
Der Richter ist der Bräutigam der Kirche und der Menschheit. Darum richtet
er, indem er spricht: »Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid
( . . . ) Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich
war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos,
und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung
gegeben« (Mt 25,34–36). Diese Aufzählung liebe sich natürlich verlängern,
und in ihr könnte eine Unmenge von Problemen auftauchen, die das Ehe- und
Familienleben betreffen. Da würde man auch Äuberungen wie diese antreffen
können: »Ich war ein noch ungeborenes Kind, und ihr habt mich aufgenommen
und mich zur Welt kommen lassen; ich war ein verlassenes Kind, und ihr
seid mir eine Familie gewesen; ich war ein Waise, und ihr habt mich angenommen
und erzogen wie euer Kind.« Und weiter: »Ihr habt den zweifelnden oder
unter äuberem Druck stehenden Müttern geholfen, ihr ungeborenes Kind anzunehmen
und es zur Welt kommen zu lassen; ihr habt unzähligen Familien geholfen,
Familien, die Schwierigkeiten damit hatten, die Kinder, die Gott ihnen
geschenkt hatte, zu erhalten und zu erziehen.« Und wir könnten fortfahren
in einer langen und bunten Liste, die jede Art von wahrem moralischem und
menschlichem Guten enthält, in dem die Liebe zum Ausdruck kommt. Das ist
die grobe Ernte, die der Erlöser der Welt, dem der Vater das Gericht anvertraut
hat, einzuholen kommen wird: Es ist die reiche Ernte an Gnaden und guten
Werken, die im Lebenshauch des Bräutigams im Heiligen Geist gereift ist,
der in der Welt und in der Kirche nicht zu wirken aufhört. Dafür danken
wir dem Spende r alles Guten.
Wir wissen jedoch, dab es bei dem von dem Evangelisten Matthäus geschilderten
Endgericht noch eine andere Aufzählung gab, schwerwiegend und erschreckend:
»Weg von mir, ihr Verfluchten ( . . . ). Denn ich war hungrig, und ihr
habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir nichts
zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich nicht
aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir keine Kleidung gegeben« (Mt
25,41–43). Und auch in dieser Liste werden sich noch andere Haltungen finden
lassen, in denen Jesus einfach nur als der abgewiesene Mensch erscheint.
Auf diese Weise identifiziert Er sich mit den verlassenen Ehepartnern,
mit dem empfangenen und abgelehnten Kind: »Ihr habt mich nicht aufgenommen!«
Auch dieser Richterspruch geht mitten durch die Geschichte unserer Familien,
er geht mitten durch die Geschichte der Nationen und der Menschheit. Das
Wort Christi: »Ihr habt mich nicht aufgenommen«, trifft auch gesellschaftliche
Institutionen, Regierungen und internationale Organisationen.
Pascal hat geschrieben: »Jesus wird im Todeskampf stehen bis zum Ende
der Welt.«54 Der Todeskampf von Getsemane und der Todeskampf von Golgota
sind der Höhepunkt der Offenbarung der Liebe. Im einen wie im anderen offenbart
sich der Bräutigam, der bei uns ist, der stets von neuem liebt, der »liebt
bis zur Vollendung« (vgl. Joh 13,1). Die Liebe, die in ihm ist und
die von ihm über die Grenzen der persönlichen oder der Familiengeschichte
hinausgeht, überschreitet die Grenzen der Geschichte der Menschheit.
Während ich, liebe Brüder und Schwestern, am Ende dieser Überlegungen
an all das denke, was im Jahr der Familie von verschiedenen Stellen aus
öffentlich verkündet werden wird, möchte ich mit euch das Bekenntnis des
Petrus an Christus wiederholen: Allein »du hast Worte des ewigen Lebens«
(Joh 6,68). Gemeinsam sagen wir: Deine Worte, Herr, werden nicht
vergehen! (vgl. Mk 13,31). Was kann euch der Papst am Ende dieser
langen Betrachtung über das Jahr der Familie wünschen? Ich wünsche euch,
dab ihr alle euch wiederfindet in diesen Worten, die »Geist und Leben«
sind (Joh 6,63).
»Im Inneren an Kraft und Stärke zugenommen«
23. Ich beuge meine Knie vor dem Vater, nach dessen Namen jedes Geschlecht
benannt wird, »und bitte, er möge euch . . . schenken, dab ihr in eurem
Innern durch seinen Geist an Kraft und Stärke zunehmt« (Eph 3,16).
Ich möchte gern auf diese Worte des Apostels zurückkommen, auf die ich
im ersten Teil dieses Schreibens Bezug genommen habe. Sie sind in gewissem
Sinne Schlüsselwörter. Die Familie, die Elternschaft halten miteinander
Schritt. Zugleich ist die Familie die erste menschliche Umgebung, wo der
»innere Mensch« Gestalt annimmt, von dem der Apostel spricht. Die Festigung
seiner Kraft ist Geschenk des Vaters und des Sohnes im Heiligen Geist.
Das Jahr der Familie stellt uns in der Kirche vor eine enorme Aufgabe,
zwar nicht verschieden von jener, welche die Familie Jahr für Jahr und
Tag für Tag betrifft, die aber im Rahmen dieses Jahres besondere Bedeutung
und Wichtigkeit annimmt. Wir haben das Jahr der Familie in Nazaret begonnen,
am Fest der Heiligen Familie; wir wollen während dieses Jahres zu jenem
Gnadenort pilgern, der in der Geschichte der Menschheit zum Heiligtum der
Heiligen Familie geworden ist. Wir wollen diese Pilgerfahrt machen und
dabei das Wissen um das Erbgut an Wahrheit über die Familie wiedergewinnen,
die seit Anbeginn einen Schatz der Kirche darstellt. Es ist der Schatz,
der sich aus der reichen Tradition des Alten Bundes anhäuft, im Neuen Bund
vervollständigt und seinen vollen und sinnbildlichen Ausdruck im Geheimnis
der Heiligen Familie findet, in welcher der göttliche Bräutigam die Erlösung
aller Familien vollbringt. Von dort aus verkündet Jesus das »Evangelium
der Familie«. Aus diesem Wahrheitsschatz schöpfen alle Generationen der
Jünger Christi, angefangen von den Aposteln, von deren Lehre wir in diesem
Schreiben reichlich Gebrauch gemacht haben.
In unserer Zeit wird dieser Schatz in den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen
Konzils gründlich erforscht;55 interessante Analysen findet man auch in
den zahlreichen Ansprachen entwickelt, die Pius XII. dem Thema der Eheleute
widmete,56 in der Enzyklika Humanae vitae Pauls VI., in den Beiträgen
zu der Bischofssynode, die der Familie gewidmet war (1980), und in dem
nachsynodalen Apostolischen Schreiben Familiaris consortio. Auf
diese Aussagen des Lehramtes habe ich bereits Bezug genommen. Wenn ich
jetzt darauf zurückkomme, dann deshalb, um zu unterstreichen, wie umfassend
und reichhaltig der Schatz der christlichen Wahrheit über die Familie ist.
Die schriftlichen Zeugnisse allein genügen freilich nicht. Viel wichtiger
sind die lebendigen Zeugnisse. Paul VI. hat beobachtet, dab »der heutige
Mensch lieber auf Zeugen hört als auf Lehrmeister, oder, wenn er auf die
Lehrmeister hört, dann, weil sie Zeugen sind«.57 Es sind vor allem die
Zeugen, denen in der Kirche der Schatz der Familie anvertraut ist: jenen
Vätern und Müttern, Söhnen und Töchtern, die durch die Familie den Weg
ihrer menschlichen und christlichen Berufung, die Dimension des »inneren
Menschen« (Eph 3,16), von dem der Apostel spricht, gefunden und
somit die Heiligkeit erlangt haben. Die Heilige Familie ist der Anfang
vieler anderer heiliger Familien. Das Konzil hat daran erinnert, dab die
Heiligkeit die universale Berufung der Getauften ist.58 In unserer Zeit
wie in der Vergangenheit fehlt es nicht an Zeugen des »Evangeliums der
Familie«, auch wenn sie unbekannt sind oder von der Kirche nicht heiliggesprochen
worden sind. Das Jahr der Familie stellt die geeignete Gelegenheit dar,
das Bewubtsein für deren Existenz und deren grobe Anzahl zu mehren.
Durch die Familie hindurch fliebt die Geschichte des Menschen, die Geschichte
der Errettung der Menschheit. Ich habe auf diesen Seiten zu zeigen versucht,
dab sich die Familie im Zentrum des groben Kampfes zwischen Gut und Böse,
zwischen Leben und Tod, zwischen der Liebe und allem, was sich der Liebe
widersetzt, befindet. Der Familie ist die Aufgabe anvertraut, vor allem
für die Befreiung der Kräfte des Guten zu kämpfen, dessen Quelle sich in
Christus, dem Erlöser des Menschen, befindet. Es gilt darauf hinzuwirken,
dab diese Kräfte sich einem jeden Familienkern zuneigen werden, damit –
wie anläblich des Tausendjahrjubiläums der Christianisierung Polens gesagt
wurde – die Familie »Festung Gottes« sei.59 Das ist der Grund, warum sich
dieses Schreiben von den apostolischen Ermahnungen inspirieren lassen wollte,
die wir in den Schriften des Paulus (vgl. 1 Kor 7,1–40; Eph
5,21–6, 9; Kol 3,25) und in den Briefen des Petrus und des Johannes
(vgl. 1 Petr 3,1–7; 1 Joh 2,12–17) finden. Wie ähnlich sind
sich doch bei aller Verschiedenheit des geschichtlichen und kulturellen
Rahmens die Situationen der Christen und der Familien von damals und von
heute!
Ich habe daher eine Einladung: eine Einladung, die ich besonders an
euch, liebe Ehemänner und Ehefrauen, Väter und Mütter, Söhne und Töchter,
richte. Es ist eine Einladung an alle Teilkirchen, dab sie eins bleiben
in der Lehre der apostolischen Wahrheit; an die Brüder im Bischofsamt,
an die Priester, an die Ordensfamilien, an die geweihten Personen, an die
Bewegungen und Laienvereinigungen; an die Brüder und Schwestern, mit denen
uns der gemeinsame Glaube an Jesus Christus verbindet, auch wenn wir noch
nicht die volle, vom Erlöser gewollte Gemeinschaft erleben;60 an all jene,
die den Glauben Abrahams teilen und wie wir zu der groben Gemeinschaft
derer gehören, die an einen einzigen Gott glauben;61 an diejenigen, die
Erben anderer geistlicher und religiöser Traditionen sind; an jeden Mann
und jede Frau guten Willens.
Christus, der derselbe ist »gestern, heute und in Ewigkeit« (Hebr
13,8), sei bei uns, wenn wir die Knie beugen vor dem Vater, in dem
jede Elternschaft und jede menschliche Familie ihren Ursprung hat (vgl.
Eph 3,14–15), und mit denselben Worten des Gebetes zum Vater, das
Er selbst uns gelehrt hat, gebe er noch einmal das Zeugnis der Liebe, mit
der Er uns »geliebt hat bis zur Vollendung« (Joh 13,1)!
Ich spreche mit der Kraft seiner Wahrheit zum Menschen unserer Zeit,
damit er begreift, welche grobartigen Güter die Ehe, die Familie und das
Leben sind; welche grobe Gefahr die Mibachtung dieser Wirklichkeiten und
die geringe Rücksichtnahme auf die höchsten Werte darstellen, die die Familie
und die Würde des Menschen begründen.
Möge der Herr Jesus uns mit der Macht und der Weisheit des Kreuzes dies
erneut sagen, damit die Menschheit nicht der Versuchung des »Vaters der
Lüge« (Joh 8,44) nachgibt, der sie ständig auf breite und geräumige,
dem Anschein nach leicht begehbare angenehme Wege treibt, die aber in Wirklichkeit
voller Hinterhälte und Gefahren sind. Möge es uns gegeben sein, stets dem
zu folgen, der »der Weg, die Wahrheit und das Leben« ist (Joh 14,6).
Das, liebe Brüder und Schwestern, sei das Engagement der christlichen
Familien und die missionarische Sorge der Kirche während dieses an einzigartigen
göttlichen Gnaden reichen Jahres. Die Heilige Familie, Ikone und Vorbild
jeder menschlichen Familie, helfe jedem, im Geist von Nazaret zu wandeln;
sie helfe jeder Familie, ihre Sendung in Kirche und Gesellschaft durch
das Hören des Gotteswortes, das Gebet und das brüderliche Leben miteinander
zu vertiefen. Maria, Mutter der schönen Liebe, und Josef, Hüter des Erlösers,
mögen uns alle unablässig mit ihrem Schutz begleiten.
Mit diesen Empfindungen segne ich jede Familie im Namen der Heiligsten
Dreifaltigkeit, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.
Gegeben zu Rom, bei Sankt Peter, am 2. Februar des Jahres 1994.