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Wtorek, 5. Grudnia 2023 |
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Kongres odbêdzie siê za |
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Dokumenty |
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Ioannes Paulus PP. II Evangelium vitae An die Bischöfe, Priester und Diakone die Ordensleute und Laien sowie an alle Menschen guten Willens über den Wert und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens
1995.03.25
EINFÜHRUNG
1.
Das Evangelium vom Leben liegt der Botschaft Jesu am Herzen. Von der Kirche
jeden Tag liebevoll aufgenommen soll es mit beherzter Treue als Frohe Botschaft
allen Menschen jeden Zeitalters und jeder Kultur verkündet werden.
Am Beginn des
Heils steht die Geburt eines Kindes, die als frohe Nachricht verkündet wird: »Ich
verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll: Heute
ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr«
(Lk 2, 10-11). Gewiß ist es die Geburt des Erlösers, die diese »große
Freude« ausstrahlt; aber zu Weihnachten wird auch der volle Sinn jeder
menschlichen Geburt offenbar, und die messianische Freude erscheint so als
Fundament und Erfüllung der Freude über jedes Kind, das geboren wird (vgl. Joh
16, 21).
Den zentralen
Kern seines Erlösungsauftrags stellt Jesus mit den Worten vor: »Ich bin
gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben« (Joh 10, 10).
Tatsächlich bezieht Er sich auf jenes »neue« und »ewige« Leben, das in der
Gemeinschaft mit dem Vater besteht, zu der jeder Mensch im Sohn durch das
Wirken des heiligmachenden Geistes unentgeltlich gerufen ist. Doch eben in
diesem »Leben« gewinnen sämtliche Aspekte und Momente des Lebens des Menschen
ihre volle Bedeutung.
Der
unvergleichliche Wert der menschlichen Person
2.
Der Mensch ist zu einer Lebensfülle berufen, die weit über die Dimensionen
seiner irdischen Existenz hinausgeht, da sie in der Teilhabe am Leben Gottes
selber besteht. Die Erhabenheit dieser übernatürlichen Berufung enthüllt die Größe
und Kostbarkeit des menschlichen Lebens auch in seinem
zeitlich-irdischen Stadium. Denn das Leben in der Zeit ist Grundvoraussetzung,
Einstiegsmoment und integrierender Bestandteil des gesamten einheitlichen
Lebensprozesses des menschlichen Seins. Eines Prozesses, der unerwarteter-
und unverdienterweise von der Verheißung erleuchtet und vom Geschenk des
göttlichen Lebens erneuert wird, das in der Ewigkeit zu seiner vollen Erfüllung
gelangen wird (vgl. 1 Joh 3, 1-2). Zugleich unterstreicht diese übernatürliche
Berufung die Relativität des irdischen Lebens von Mann und Frau. In
Wahrheit ist es nicht »letzte«, sondern »vorletzte« Wirklichkeit; es ist also heilige
Wirklichkeit, die uns anvertraut wird, damit wir sie mit
Verantwortungsgefühl hüten und in der Liebe und Selbsthingabe an Gott sowie an
die Schwestern und Brüder zur Vollendung bringen.
Die Kirche weiß, dab dieses Evangelium vom Leben, das ihr von ihrem Herrn
anvertraut wurde, 1 im Herzen jedes gläubigen, aber auch nicht
gläubigen Menschen tiefen und überzeugenden Widerhall findet, weil es seinen
Erwartungen, während es unendlich über diese hinausgeht, überraschenderweise
entspricht. Selbst in Schwierigkeiten und Unsicherheiten vermag jeder Mensch,
der in ehrlicher Weise für die Wahrheit und das Gute offen ist, im Licht der
Vernunft und nicht ohne den geheimnisvollen Einfluß der Gnade im ins Herz
geschriebenen Naturgesetz (vgl. Röm 2, 14-15) den heiligen Wert des
menschlichen Lebens vom ersten Augenblick bis zu seinem Ende zu erkennen und
das Recht jedes Menschen zu bejahen, daß dieses sein wichtigstes Gut in
höchstem Mabe geachtet werde. Auf der Anerkennung dieses Rechtes beruht das
menschliche Zusammenleben und das politische Gemeinwesen.
Besonders
verteidigen und fördern müssen dieses Recht die Christgläubigen im
Bewußtsein
der wunderbaren Wahrheit, an die das II. Vatikanische Konzil erinnert: »Der
Sohn Gottes hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen
vereinigt«. 2 Denn in diesem Heils- ereignis offenbart sich der
Menschheit nicht nur die unendliche Liebe Gottes, der »die Welt so sehr geliebt
(hat), daß er seinen einzigen Sohn hingab« (Joh 3, 16), sondern auch der
unvergleichliche Wert jeder menschlichen Person.
Und während die
Kirche beharrlich das Geheimnis der Erlösung ergründet, erfaßt sie mit immer
neuem Staunen 3 diesen Wert und fühlt sich aufgerufen, dieses
»Evangelium«, Quelle unbesiegbarer Hoffnung und wahrer Freude für jede Epoche
der Geschichte, den Menschen aller Zeiten zu verkünden. Das Evangelium von
der Liebe Gottes zum Menschen, das Evangelium von der Würde der Person und das
Evangelium vom Leben sind ein einziges, unteilbares Evangelium.
Der Mensch, der
lebendige Mensch stellt den ersten und grundlegenden Weg der Kirche dar.
4
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Die neuen
Bedrohungen des menschlichen Lebens
3.
Jeder Mensch ist auf Grund des Geheimnisses vom fleischgewordenen Wort Gottes
(vgl. Joh 1, 14) der mütterlichen Sorge der Kirche anvertraut. Darum
muß
jede Bedrohung der Würde und des Lebens des Menschen eine Reaktion im Herzen
der Kirche auslösen, sie muß sie im Zentrum ihres Glaubens an die erlösende
Menschwerdung des Gottessohnes treffen, sie muß sie miteinbeziehen in ihren
Auftrag, in der ganzen Welt und allen Geschöpfen das Evangelium vom Leben zu
verkünden (vgl. Mk 16, 15).
Heute erweist
sich diese Verkündigung als besonders dringend angesichts der erschütternden
Vermehrung und Verschärfung der Bedrohungen des Lebens von Personen und Völkern,
vor allem dann, wenn es schwach und wehrlos ist. Zu den alten schmerzlichen
Plagen von Elend, Hunger, endemischen Krankheiten, Gewalt und Kriegen gesellen
sich andere unbekannter Art und von beunruhigenden Ausmaßen.
Schon das
Zweite Vatikanische Konzil beklagte an einer Stelle, die von geradezu
dramatischer Aktualität ist, nachdrücklich vielfältige Verbrechen und Angriffe
gegen das menschliche Leben. Wenn ich mir nun im Abstand von dreißig Jahren die
Worte der Konzilsversammlung zu eigen mache, erhebe ich im Namen der ganzen
Kirche und in der Gewißheit, damit dem echten Empfinden jedes reinen Gewissens
Ausdruck zu verleihen, noch einmal und mit gleichem Nachdruck klagend meine
Stimme: »Was ferner zum Leben selbst in Gegensatz steht, wie jede Art Mord,
Völkermord, Abtreibung, Euthanasie und auch der freiwillige Selbstmord; was
immer die Unantastbarkeit der menschlichen Person verletzt, wie Verstümmelung,
körperliche oder seelische Folter und der Versuch, psychischen Zwang auszuüben;
was immer die menschliche Würde angreift, wie unmenschliche Lebensbedingungen,
willkürliche Verhaftung, Verschleppung, Sklaverei, Prostitution, Mädchenhandel
und Handel mit Jugendlichen, sodann auch unwürdige Arbeitsbedingungen, bei
denen der Arbeiter als bloßes Erwerbsmittel und nicht als freie und
verantwortliche Person behandelt wird: all diese und andere ähnliche Taten sind
an sich schon eine Schande; sie sind eine Zersetzung der menschlichen Kultur,
entwürdigen weit mehr jene, die das Unrecht tun, als jene, die es erleiden.
Zugleich sind sie in höchstem Maße ein Widerspruch gegen die Ehre des
Schöpfers. 5
4.
Weit davon entfernt, sich einschränken zu lassen, ist dieses beunruhigende
Panorama statt dessen leider in Ausdehnung begriffen: mit den neuen, vom
wissenschaftlich-technologischen Fortschritt eröffneten Perspektiven entstehen
neue Formen von Anschlägen auf die Würde des Menschen, während sich eine neue
kulturelle Situation abzeichnet und verfestigt, die den Verbrechen gegen das
Leben einen bisher unbekannten und womöglich noch widerwärtigeren Aspekt verleiht
und neue ernste Sorgen auslöst: breite Schichten der öffentlichen Meinung
rechtfertigen manche Verbrechen gegen das Leben im Namen der Rechte der
individuellen Freiheit und beanspruchen unter diesem Vorwand nicht nur
Straffreiheit für derartige Verbrechen, sondern sogar die Genehmigung des
Staates, sie in absoluter Freiheit und unter kostenloser Beteiligung des
staatlichen Gesundheitswesens durchzuführen.
Das alles
bewirkt einen tiefgreifenden Wandel in der Betrachtungsweise des Lebens und der
zwischenmenschlichen Beziehungen. Der Umstand, daß die Gesetzgebung vieler
Länder sogar in Abweichung von den Grundprinzipien ihrer Verfassungen
zugestimmt hat, solche gegen das Leben gerichtete Praktiken nicht zu bestrafen
oder ihnen gar volle Rechtmäßigkeit zuzuerkennen, ist zugleich
besorgniserregendes Symptom und keineswegs nebensächliche Ursache für einen
schweren moralischen Verfall: Entscheidungen, die einst einstimmig als
verbrecherisch angesehen und vom allgemeinen sittlichen Empfinden abgelehnt
wurden, werden nach und nach gesellschaftlich als achtbar betrachtet. Selbst
die Medizin, die auf die Verteidigung und Pflege des menschlichen Lebens
ausgerichtet ist, verwendet sich in einigen ihrer Bereiche immer eingehender
für die Durchführung dieser Handlungen gegen die Person und entstellt auf diese
Weise ihr Gesicht, widerspricht sich selbst und verletzt die Würde all derer,
die sie ausüben. In einem solchen kulturellen und gesetzlichen Kontext sehen
sich auch die schwerwiegenden bevölkerungsstatistischen, sozialen oder
familiären Probleme, die auf zahlreichen Völkern der Welt lasten und eine
verantwortungsvolle und rührige Aufmerksamkeit seitens der nationalen und
internationalen Gemeinschaften erfordern, falschen und illusorischen
Lösungsversuchen ausgesetzt, die zur Wahrheit und zum Wohl der Menschen und der
Nationen im Widerspruch stehen.
Das Ergebnis,
zu dem man gelangt, ist dramatisch: so schwerwiegend und beunruhigend das
Phänomen der Beseitigung so vieler menschlicher Leben vor der Geburt oder auf
dem Weg zum Tod auch sein mag, so ist die Tatsache nicht weniger schwerwiegend
und beunruhigend, daß selbst das Gewissen, als wäre es von so weitreichenden
Konditionierungen verfinstert, immer träger darin wird, die Unterscheidung
zwischen Gut und Böse wahrzunehmen im Hinblick auf den fundamentalen Wert des
menschlichen Lebens.
|
In
Gemeinschaft mit allen Bischöfen der Welt
5.
Dem Problem der Bedrohungen des menschlichen Lebens in unserer Zeit war das außerordentliche
Konsistorium der Kardinäle gewidmet, das vom 4. bis 7. April 1991 in Rom
stattgefunden hat. Nach einer umfassenden und gründlichen Erörterung des
Problems und der Herausforderungen, die sich der ganzen Menschheitsfamilie und
im besonderen der christlichen Gemeinschaft stellen, haben mich die Kardinäle
einstimmig ersucht, den Wert des menschlichen Lebens und seine Unantastbarkeit
unter Bezugnahme auf die gegenwärtigen Umstände und die Angriffe, von denen es
heute bedroht wird, mit der Autorität des Nachfolgers Petri zu bekräftigen.
Nach Annahme
dieses Vorschlags habe ich zu Pfingsten 1991 ein persönliches Schreiben an
jeden Mitbruder gerichtet mit der Bitte, er möge mir im Geiste der
bischöflichen Kollegialität im Hinblick auf die Erstellung eines eigenen
Dokuments seine Mitarbeit zukommen lassen. 6 Ich bin allen Bischö-
fen, die geantwortet haben und mir wertvolle Informationen, Ratschläge und
Vorschläge zugehen lieben, zutiefst dankbar. Sie haben so auch ihre einmütige
und überzeugte Teilnahme am Lehr- und Pastoralauftrag der Kirche in bezug auf
das Evangelium vom Leben unter Beweis gestellt.
In demselben
Brief habe ich, wenige Tage vor der Hundertjahrfeier der Veröffentlichung der
Enzyklika Rerum novarum, die Aufmerksamkeit aller auf diese einzigartige
Analogie gelenkt: »Wie es vor einem Jahrhundert die Arbeiterklasse war, die, in
ihren fundamentalsten Rechten unterdrückt, von der Kirche mit großem Mut in
Schutz genommen wurde, indem diese die heiligen Rechte der Person des Arbeiters
herausstellte, so weiß sie sich auch jetzt, wo eine andere Kategorie von
Personen in ihren grundlegenden Lebensrechten unterdrückt wird, verpflichtet,
mit unvermindertem Mut den Stimmlosen Stimme zu sein. Für immer hat sie sich
den Ruf des Evangeliums nach dem Schutz der Armen zu eigen gemacht, deren
Menschenrechte bedroht, mißachtet und verletzt werden«. 7
Das
fundamentale Recht auf Leben wird heute bei einer großen Zahl schwacher und
wehrloser Menschen, wie es insbesondere die ungeborenen Kinder sind, mit Füßen
getreten. Wenn die Kirche am Ende des vorigen Jahrhunderts angesichts der
damals vorherrschenden Ungerechtigkeiten nicht schweigen durfte, so kann sie
heute noch weniger schweigen, wo sich in vielen Teilen der Welt zu den leider
noch immer nicht überwundenen sozialen Ungerechtigkeiten der Vergangenheit noch
schwerwiegendere Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen gesellen, die
möglicherweise mit Elementen des Fortschritts im Hinblick auf die Gestaltung
einer neuen Weltordnung verwechselt werden.
Die vorliegende
Enzyklika, Frucht der Zusammenarbeit des Episkopates jedes Landes der Welt,
will also eine klare und feste Bekräftigung des Wertes des menschlichen
Lebens und seiner Unantastbarkeit und zugleich ein leidenschaftlicher
Appell im Namen Gottes an alle und jeden einzelnen sein: achte, verteidige,
liebe das Leben, jedes menschliche Leben und diene ihm! Nur auf diesem Weg
wirst du Gerechtigkeit, Entwicklung, echte Freiheit, Frieden und Glück finden!
Mögen diese
Worte alle Söhne und Töchter der Kirche erreichen! Mögen sie alle Menschen
guten Willens erreichen, die um das Wohl jedes Mannes und jeder Frau und um das
Schicksal der ganzen Gesellschaft besorgt sind!
6.
In tiefer Verbundenheit mit jeder Schwester und jedem Bruder im Glauben und von
aufrichtiger Freundschaft für alle beseelt, möchte ich das Evangelium vom
Leben neu überdenken und verkünden, als Glanz der Wahrheit, das die
Gewissen erleuchtet, als helles Licht, das den verfinsterten Blick erhellt, als
unerschöpfliche Quelle der Beständigkeit und des Mutes, um den immer neuen
Herausforderungen entgegenzutreten, denen wir auf unserem Weg begegnen.
Und während ich
an die im Verlauf des Jahres der Familie gesammelte reiche Erfahrung denke,
blicke ich, gleichsam als gedankliche Ergänzung des Briefes, den ich »an
jede konkrete Familie jeder Region der Erde« 8 gerichtet hatte, mit
neuem Vertrauen auf alle Hausgemeinschaften und wünsche mir, daß auf allen
Ebenen der Einsatz aller für die Unterstützung der Familie wieder auflebe und
sich verstärke, damit diese auch heute — trotz zahlreicher Schwierigkeiten und
schwerwiegender Bedrohungen — dem Plan Gottes entsprechend immer als »Heiligtum
des Lebens« 9 erhalten bleibe.
Alle Mitglieder
der Kirche, des Volkes des Lebens und für das Leben, lade ich ganz
dringend ein, miteinander dieser unserer Welt neue Zeichen der Hoffnung zu
geben, indem wir bewirken, daß Gerechtigkeit und Solidarität wachsen und sich
durch den Aufbau einer echten Zivilisation der Wahrheit und der Liebe eine neue
Kultur des menschlichen Lebens durchsetzt.
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I. KAPITEL - DAS BLUT DEINES BRUDERS SCHREIT ZU MIR
VOM ACKERBODEN - DIE GEGENWÄRTIGEN BEDROHUNGEN DES MENSCHLICHEN LEBENS
»Kain
griff seinen Bruder Abel an und erschlug ihn« (Gen 4, 8): an der
Wurzel der Gewalt gegen das Leben
7.
»Denn Gott hat den Tod nicht gemacht und hat keine Freude am Untergang der
Lebenden. Zum Dasein hat er alles geschaffen... Gott hat den Menschen zur
Unvergänglichkeit geschaffen und ihn zum Bild seines eigenen Wesens
gemacht. Doch durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt, und
ihn erfahren alle, die ihm angehören« (Weish 1, 13-14; 2, 23-24).
Im Widerspruch
zum Evangelium vom Leben, das am Anfang mit der Erschaffung des Menschen
nach dem Ebenbild Gottes zu einem vollen und vollkommenen Leben (vgl. Gen 2,
7; Weish 9, 2-3) erschallte, steht die qualvolle Erfahrung des Todes,
der in die Welt kommt und auf das ganze Dasein des Menschen den Schatten
des Un-Sinnes wirft. Der Tod kommt durch den Neid des Teufels (vgl. Gen 3,
1.4-5) und die Sünde der Stamm- eltern (vgl. Gen 2, 17; 3, 17-19) in die
Welt. Und er kommt gewaltsam mit der Ermordung Abels durch seinen Bruder Kain:
»Als sie auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und erschlug
ihn« (Gen 4, 8).
Dieser erste
Mord wird in einer beispielhaften Episode des Buches Genesis mit einzigartiger
Beredtheit geschildert: eine Episode, die jeden Tag pausenlos und in
bedrückender Wiederholung neu ins Buch der Geschichte der Völker geschrieben
wird.
Wir wollen
miteinander diesen Passus aus der Bibel wieder lesen, der trotz seines
archaischen Charakters und seiner äußersten Schlichtheit höchst lehrreich
erscheint.
»Abel wurde
Schafhirt und Kain Ackerbauer. Nach einiger Zeit brachte Kain dem Herrn ein
Opfer von den Früchten des Feldes dar; auch Abel brachte eines dar von den
Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Der Herr schaute auf Abel und sein
Opfer, aber auf Kain und sein Opfer schaute er nicht.
Da überfiel
es Kain ganz heiß, und sein Blick senkte sich. Der Herr sprach zu Kain: 'Warum
überläuft es dich heiß, und warum senkt sich dein Blick? Nicht wahr, wenn du
recht tust, darfst du aufblicken; wenn du nicht recht tust, lauert an der Tür
die Sünde als Dämon. Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde Herr über
ihn!?
Hierauf
sagte Kain zu seinem Bruder Abel: Gehen wir aufs Feld! Als sie auf dem Feld
waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und erschlug ihn.
Da sprach
der Herr zu Kain: 'Wo ist dein Bruder Abel?? Er entgegnete: 'Ich weiß es nicht.
Bin ich der Hüter meines Bruders?? Der Herr sprach: 'Was hast du getan? Das
Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden. So bist du verflucht,
verbannt vom Ackerboden, der seinen Mund aufgesperrt hat, um aus deiner Hand
das Blut deines Bruders aufzunehmen. Wenn du den Ackerboden bestellst, wird er
dir keinen Ertrag mehr bringen. Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde
sein.?
Kain antwortete
dem Herrn: 'Zu groß ist meine Schuld, als daß ich sie tragen könnte. Du hast
mich heute vom Ackerland verjagt, und ich muß mich vor deinem Angesicht
verbergen; rastlos und ruhelos werde ich auf der Erde sein, und wer mich
findet, wird mich erschlagen.?
Der Herr
aber sprach zu ihm: 'Darum soll jeder, der Kain erschlägt, siebenfacher Rache
verfallen.? Darauf machte der Herr dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner
erschlage, der ihn finde. Dann ging Kain vom Herrn weg und ließ sich im Land
Nod nieder, östlich von Eden« (Gen 4, 2-16).
8.
Kain »überlief es ganz heiß« und sein Blick »senkte sich», weil »der Herr auf
Abel und sein Opfer schaute« (Gen 4, 4). Der biblische Text enthüllt
zwar nicht, aus welchem Grund Gott das Opfer Abels jenem Kains vorzieht; er
weist jedoch mit aller Klarheit darauf hin, daß Gott trotz der Bevorzugung von
Abels Gabe den Dialog mit Kain nicht abbricht. Er ermahnt ihn, indem
er ihn an seine Freiheit gegenüber dem Bösen erinnert: der Mensch ist
keineswegs für das Böse vorherbestimmt. Sicherlich wird er, wie schon Adam, von
der verderblichen Macht der Sünde in Versuchung geführt, die, einer wilden
Bestie gleich, an der Pforte seines Herzens lauert und darauf wartet, über die
Beute herzufallen. Aber Kain bleibt der Sünde gegenüber frei. Er kann und er
soll Herr über sie sein: »Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde Herr über
ihn!« (Gen 4, 7).
Eifersucht
und Zorn gewinnen Oberhand über die Mahnung des Herrn, und so greift Kain seinen
eigenen Bruder an und erschlägt ihn. Im Katechismus der katholischen Kirche lesen
wir: »Im Bericht über die Ermordung Abels durch seinen Bruder Kain offenbart
die Schrift, daß im Menschen schon von Anfang seiner Geschichte an Zorn und
Eifersucht als Folgen der Erbsünde wirksam sind. Der Mensch ist zum Feind des
Mitmenschen geworden«. 10
Der Bruder
tötet den Bruder. Wie beim ersten Brudermord wird bei jedem Mord die »geistige«
Verwandtschaft geschändet, die die Menschen zu einer einzigen großen Familie
vereinigt, 11 da sie alle an demselben grundlegenden Gut teilhaben:
der gleichen Personwürde. Nicht selten wird auch die Verwandtschaft »des
Fleisches und Blutes« geschändet, wenn zum Beispiel die Bedrohungen des
Lebens im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ausbrechen, wie es bei der
Abtreibung geschieht, oder wenn im weitesten Familien- und Verwandtenkreis die
Euthanasie befürwortet oder dazu angestiftet wird.
Am Anfang jeder
Gewalt gegen den Nächsten steht ein Nachgeben gegenüber der »Logik« des Bösen,
das heißt desjenigen, der »von Anfang an ein Mörder war« (Joh 8, 44), wie uns
der Apostel Johannes in Erinnerung ruft: »Denn das ist die Botschaft, die ihr
von Anfang an gehört habt: Wir sollen einander lieben und nicht wie Kain
handeln, der von dem Bösen stammte und seinen Bruder erschlug« (1 Joh 3,
11-12). Die Ermordung des Bruders ist also von Beginn der Geschichte an das
traurige Zeugnis dafür, wie das Böse mit beeindruckender Geschwindigkeit
voranschreitet: zum Aufbegehren des Menschen gegen Gott im irdischen Paradies
gesellt sich der tödliche Kampf des Menschen gegen den Menschen.
Nach dem
Verbrechen greift Gott ein, um den Ermordeten zu rächen. Gott gegenüber,
der sich nach dem Schicksal Abels erkundigt, weicht Kain in Überheblichkeit der
Frage aus, statt sich verlegen zu zeigen und um Verzeihung zu bitten: »Ich
weiß
es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?« (Gen 4, 9). »Ich
weiß es
nicht«: mit der Lüge versucht Kain das Verbrechen zu verdecken. So ist es
oft geschehen und geschieht es, wenn Ideologien verschiedenster Art dazu
dienen, um die schrecklichsten Verbrechen gegen die Person zu rechtfertigen und
zu bemänteln. »Bin ich der Hüter meines Bruders?«: Kain will nicht an
den Bruder denken und lehnt es ab, jene Verantwortung, die jeder Mensch
gegenüber dem anderen hat, zu leben. Das läßt uns unwillkürlich an heutige
Bestrebungen denken, die den Menschen seiner Verantwortung gegenüber seinem
Mitmenschen entheben wollen; Anzeichen dafür sind unter anderem das Nachlassen
der Solidarität gegenüber den schwächsten Gliedern der Gesellschaft, wie den
Alten, den Kranken, den Einwanderern, den Kindern gegenüber, und die häufig zu
bemerkende Gleichgültigkeit in den Beziehungen der Völker untereinander, selbst
dann, wenn fundamentale Werte wie das Überleben, die Freiheit und der Friede
auf dem Spiel stehen.
9.
Doch Gott kann das Verbrechen nicht ungestraft lassen: vom Ackerboden,
auf dem es vergossen wurde, verlangt das Blut des Erschlagenen, daß Er
Gerechtigkeit widerfahren lasse (vgl. Gen 37, 26; Jes 26, 21; Ez
24, 7f). Aus diesem Text hat die Kirche die Bezeichnung »himmelschreiende
Sünden« abgeleitet und in diese vor allem den beabsichtigten Mord einbezogen.
12 Für die Juden ist, wie für viele Völker der Antike, das Blut der
Sitz des Lebens, ja »das Blut ist Lebenskraft« (Dtn 12, 23), und das
Leben, besonders das menschliche Leben, gehört allein Gott: wer daher nach
dem Leben des Menschen trachtet, trachtet Gott selbst nach dem Leben.
Kain ist von Gott und ebenso
vom Ackerboden, der ihm seinen Ertrag verweigert, verflucht (vgl. Gen 4,
11-12). Und er wird bestraft: er soll in der Steppe und in der Wüste
wohnen. Die mörderische Gewalttätigkeit verändert das Lebensmilieu des Menschen
tiefgreifend. Aus dem »Garten von Eden« (Gen 2, 15), einem Ort des
Überflusses, der unbeschwerten zwischenmenschlichen Beziehungen und der
Freundschaft mit Gott, wird die Erde zum »Land Nod« (Gen 4, 16), Ort des
»Elends», der Einsamkeit und der Gottferne. Kain wird »rastlos und ruhelos auf
der Erde« sein (Gen 4, 14): Unsicherheit und Unbeständigkeit werden ihn immer
begleiten.
Gott jedoch,
der stets Barmherzige, auch wenn Er straft, »machte dem Kain ein Zeichen, damit
ihn keiner erschlage, der ihn finde« (Gen 4, 15): Er versieht ihn also
mit einem Zeichen, das nicht den Zweck hat, ihn zur Verabscheuung durch die
anderen Menschen zu verdammen, sondern ihn vor allen zu schützen und zu
verteidigen, die ihn töten wollen, und wäre es auch, um den Tod Abels zu
rächen. Nicht einmal der Mörder verliert seine Personwürde, und Gott
selber leistet dafür Gewähr. Tatsächlich offenbart sich hier das paradoxe
Geheimnis von der barmherzigen Gerechtigkeit Gottes, wie der hl. Ambrosius
schreibt: »Nachdem in dem Augenblick, als sich die Sünde eingeschlichen hatte,
ein Brudermord, also das größte Verbrechen, begangen worden war, mußte sofort
das Gesetz von der göttlichen Barmherzigkeit erweitert werden; damit es nicht
geschähe, daß die Menschen, obwohl die Strafe den Schuldigen unmittelbar
getroffen hatte, beim Bestrafen weder Toleranz noch Milde walten lassen,
sondern die Schuldigen unverzüglich der Strafe ausliefern würden. (...) Gott
verstieß Kain von seinem Angesicht und verbannte den von seinen Eltern
Abtrünnigen an einen anderen Wohnort, weil er von der menschlichen Zahmheit zur
tierischen Wildheit übergegangen war. Doch Gott wollte den Mörder nicht durch
einen Mord bestrafen, da Er mehr die Reue des Sünders will als seinen Tod«.
13
|
»Was hast
du getan?« (Gen 4, 10): die Verfinsterung des Wertes des Lebens
10.
Der Herr sprach zu Kain: »Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu
mir vom Ackerboden!« (Gen 4, 10). Das von den Menschen vergossene
Blut hört nicht auf zu schreien, von Generation zu Generation nimmt dieses
Schreien andere und immer neue Töne und Akzente an.
Die Frage des
Herrn »Was hast du getan?«, der Kain nicht entgehen kann, ist auch an den
heutigen Menschen gerichtet, damit er sich den Umfang und die Schwere der
Angriffe auf das Leben bewußt mache, von denen die Geschichte der Menschheit
weiterhin gekennzeichnet ist; damit er auf die Suche nach den vielfältigen
Ursachen gehe, die diese Bedrohungen hervorrufen und fördern; damit er mit
größtem Ernst über die Folgen nachdenke, die sich aus diesen Anschlägen für die
Existenz der Menschen und der Völker ergeben.
Manche
Bedrohungen stammen aus der Natur selbst, werden aber durch die schuldhafte
Unbekümmertheit und Nachlässigkeit der Menschen, die nicht selten Abhilfe
schaffen könnten, verschlimmert; andere hingegen sind das Ergebnis von
Gewaltsituationen, Haß und gegensätzlichen Interessen, die die Menschen
veranlassen, mit Mord, Krieg, Blutbädern und Völkermord über andere Menschen
herzufallen.
Und wie sollte
man nicht an die Gewalt denken, die dem Leben von Millionen von Menschen,
besonders Kindern, zugefügt wird, die wegen der ungerechten Verteilung der
Reichtümer unter den Völkern und sozialen Klassen zu Elend, Unterernährung und
Hunger gezwungen sind? Oder an die Gewalt, die, noch ehe Kriege ausbrechen,
einem skandalösen Waffenhandel anhaftet, der einer Spirale von zahllosen
bewaffneten Konflikten, die die Welt in Blut tauchen, Vorschuß leistet? Oder an
die Todessaat, die durch die unbedachte Zerstörung des ökologischen
Gleichgewichts, durch die kriminelle Verbreitung der Drogen und dadurch
zustande kommt, daß Muster für die Sexualität Unterstützung finden, die nicht
nur in moralischer Hinsicht unannehmbar, sondern auch Vorboten schwerwiegender
Gefahren für das Leben sind? Es ist gar nicht möglich, die umfangreiche Skala der
Bedrohungen des menschlichen Lebens vollständig aufzuzählen, so zahlreich sind
die offen zutage tretenden oder heimtückischen Formen, die sie in unserer Zeit
annehmen!
11.
Unsere Aufmerksamkeit will sich aber im besonderen auf eine andere Art von
Angriffen konzentrieren, die das werdende und das zu Ende gehende Leben
betreffen, Angriffe, die im Vergleich zur Vergangenheit neue Merkmale
aufweisen und ungewöhnlich ernste Probleme aufwerfen: deshalb, weil die
Tendenz besteht, daß sie im Bewußtsein der Öffentlichkeit den
»Verbrechenscharakter« verlieren und paradoxerweise »Rechtscharakter« annehmen,
so daß eine regelrechte gesetzliche Anerkennung durch den Staat und die
darauf folgende Durchführung mittels des kostenlosen Eingriffs durch das im
Gesundheitswesen tätige Personal verlangt wird. Diese Angriffe treffen das
menschliche Leben in äußerst bedenklichen Situationen, wo es völlig wehrlos
ist. Noch schwerwiegender ist die Tatsache, daß sie großenteils gerade in der
und durch die Familie ausgetragen werden, die doch grundlegend dazu berufen
ist, »Heiligtum des Lebens« zu sein.
Wie hat es zu
einer solchen Situation kommen können? Dabei müssen vielfältige Faktoren in
Betracht gezogen werden. Im Hintergrund steht eine tiefe Kulturkrise, die Skepsis
selbst an den Fundamenten des Wissens und der Ethik hervorruft und es immer
schwieriger macht, den Sinn des Menschen, seiner Rechte und seiner Pflichten
klar zu erfassen. Dazu kommen die verschiedensten existentiellen und
Beziehungsschwierigkeiten, die noch verschärft werden durch die Wirklichkeit
einer komplexen Gesellschaft, in der die Personen, die Ehepaare, die Familien
oft mit ihren Problemen allein bleiben. Es fehlt nicht an Situationen von
besonderer Armut, Bedrängnis oder Verbitterung, in denen der Kampf um das
Überleben, der Schmerz bis an die Grenzen der Erträglichkeit, die besonders von
Frauen erlittenen Gewaltakte den Entscheidungen zur Verteidigung und Förderung
des Lebens bisweilen geradezu Heroismus abverlangen.
Das alles
erklärt wenigstens zum Teil, daß der Wert des Lebens heute eine Art
»Verfinsterung« erleiden kann, mag auch das Gewissen nicht aufhören, ihn als
heiligen und unantastbaren Wert anzuführen, wie die Tatsache beweist, daß man
geneigt ist, manche Verbrechen gegen das werdende oder zu Ende gehende Leben
mit medizinischen Formulierungen zu bemänteln, die den Blick von der Tatsache
ablenken, daß das Existenzrecht einer konkreten menschlichen Person auf dem
Spiel steht.
12.
Mögen auch viele und ernste Aspekte der heutigen sozialen Problematik das Klima
verbreiteter moralischer Unsicherheit irgendwie erklären und manchmal bei den
einzelnen die subjektive Verantwortung schwächen, so trifft es tatsächlich
nicht weniger zu, daß wir einer viel weiter reichenden Wirklichkeit
gegenüberstehen, die man als wahre und ausgesprochene Struktur der Sünde betrachten
kann, gekennzeichnet von der Durchsetzung einer Anti-Solidaritätskultur, die
sich in vielen Fällen als wahre »Kultur des Todes« herausstellt. Sie wird aktiv
gefördert von starken kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Strö-
mungen, die eine leistungsorientierte Auffassung der Gesellschaft vertreten.
Wenn man die
Dinge von diesem Gesichtspunkt her betrachtet, kann man in gewisser Hinsicht
von einem Krieg der Mächtigen gegen die Schwachen sprechen: das Leben,
das mehr Annahme, Liebe und Fürsorge verlangen würde, wird für nutzlos gehalten
oder als eine unerträgliche Last betrachtet und daher auf vielerlei Weise
abgelehnt. Wer durch seine Krankheit, durch seine Behinderung oder, noch viel
einfacher, durch sein bloßes Dasein den Wohlstand oder die Lebensgewohnheiten
derer in Frage stellt, die günstiger dastehen, wird zunehmend als Feind
angesehen, gegen den man sich verteidigen bzw. den man ausschalten muß. Auf
diese Weise wird eine Art »Verschwörung gegen das Leben« entfesselt. Sie
involviert nicht nur die einzelnen Personen in ihren individuellen, familiären
oder Gruppenbeziehungen, sondern geht darüber hinaus, um schließlich auf
Weltebene den Beziehungen zwischen den Völkern und Staaten zu schaden und sie
durcheinanderzubringen.
13.
Um die Verbreitung der Abtreibung zu erleichtern, wurden und werden
weiterhin ungeheuere Summen investiert, die für die Abstimmung
pharmazeutischer Präparate bestimmt sind, die die Tötung des Fötus im
Mutterleib ermöglichen, ohne die Hilfe eines Arztes in Anspruch nehmen zu
müssen. Die diesbezügliche wissenschaftliche Forschung scheint fast
ausschließlich darum bemüht zu sein, zu immer einfacheren und wirksameren Produkten
gegen das Leben zu gelangen, die zugleich die Abtreibung jeder Form sozialer
Kontrolle und Verantwortung entziehen sollen.
Es wird häufig
behauptet, die sichere und allen zugänglich gemachte Empfängnisverhütung sei
das wirksamste Mittel gegen die Abtreibung. Sodann wird die katholische Kirche
beschuldigt, de facto der Abtreibung Vorschuß zu leisten, weil sie
weiter hartnäckig die moralische Unerlaubtheit der Empfängnisverhütung lehrt.
Bei genauerer Betrachtung erweist sich der Einwand tatsächlich als trügerisch.
Denn es mag sein, daß viele auch in der Absicht zu Verhütungsmitteln greifen,
um in der Folge die Versuchung der Abtreibung zu vermeiden. Doch die der
»Verhütungsmentalität« — die sehr wohl von der verantwortlichen, in Achtung vor
der vollen Wahrheit des ehelichen Aktes ausgeübten Elternschaft zu
unterscheiden ist — innewohnenden Pseudowerte verstärken nur noch diese
Versuchung angesichts der möglichen Empfängnis eines unerwünschten Lebens. In
der Tat hat sich die Abtreibungskultur gerade in Kreisen besonders entwickelt,
die die Lehre der Kirche über die Empfängnisverhütung ablehnen. Sicherlich sind
vom moralischen Gesichtspunkt her Empfängnisverhütung und Abtreibung ihrer
Art nach verschiedene Übel: die eine widerspricht der vollständigen
Wahrheit des Geschlechtsaktes als Ausdruck der ehelichen Liebe, die andere
zerstört das Leben eines Menschen; die erste widersetzt sich der Tugend der
ehelichen Keuschheit, die zweite widersetzt sich der Tugend der Gerechtigkeit
und verletzt direkt das göttliche Gebot »du sollst nicht töten«.
Aber trotz
dieses Unterschieds in ihrer Natur und moralischen Bedeutung stehen sie, als
Früchte ein und derselben Pflanze, sehr oft in enger Beziehung zueinander.
Sicherlich gibt es Fälle, in denen jemand unter dem Druck mannigfacher
existentieller Schwierigkeiten zu Empfängnisverhütung und selbst zur Abtreibung
schreitet; selbst solche Schwierigkeiten können jedoch niemals von der Bemühung
entbinden, das Gesetz Gottes voll und ganz zu befolgen. Aber in sehr vielen
anderen Fällen haben solche Praktiken ihre Wurzeln in einer Mentalität, die von
Hedonismus und Ablehnung jeder Verantwortlichkeit gegenüber der Sexualität
bestimmt wird, und unterstellen einen egoistischen Freiheitsbegriff, der in der
Zeugung ein Hindernis für die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit sieht. Das
Leben, das aus der sexuellen Begegnung hervorgehen könnte, wird so zum Feind,
das absolut vermieden werden muß, und die Abtreibung zur einzig möglichen
Antwort und Lösung bei einer mißlungenen Empfängnisverhütung.
Leider tritt
der enge Zusammenhang, der mentalitätsmäßig zwischen der Praxis der
Empfängnisverhütung und jener der Abtreibung besteht, immer mehr zutage; das
beweisen auf alarmierende Weise auch die Anwendung chemischer Präparate, das
Anbringen mechanischer Empfängnishemmer in der Gebärmutter und der Einsatz von
Impfstoffen, die ebenso leicht wie Verhütungsmittel verbreitet werden und in
Wirklichkeit als Abtreibungsmittel im allerersten Entwicklungsstadium des neuen
menschlichen Lebens wirken.
14.
Auch die verschiedenen Techniken künstlicher Fortpflanzung, die sich
anscheinend in den Dienst am Leben stellen und die auch nicht selten mit dieser
Absicht gehandhabt werden, öffnen in Wirklichkeit neuen Anschlägen gegen das
Leben Tür und Tor. Unabhängig von der Tatsache, daß sie vom moralischen
Standpunkt aus unannehmbar sind, da sie die Zeugung von dem gesamtmenschlichen
Zusammenhang des ehelichen Aktes trennen, 14 verzeichnen diese
Techniken hohe Prozentsätze an Mißerfolgen: das betrifft nicht so sehr die
Befruchtung als die nachfolgende Entwicklung des Embryos, der der Gefahr
ausgesetzt ist, meist innerhalb kürzester Zeit zu sterben. Zudem werden
mitunter Embryonen in größerer Zahl erzeugt, als für die Einpflanzung in den
Schoß der Frau notwendig sind, und diese sogenannten »überzähligen Embryonen«
werden dann umgebracht oder für Forschungszwecke verwendet, die unter dem
Vorwand des wissenschaftlichen oder medizinischen Fortschritts in Wirklichkeit
das menschliche Leben zum bloßen »biologischen Material« degradieren, über das
man frei verfügen könne.
Die vorgeburtlichen
Diagnosen, gegen die es keine moralischen Bedenken gibt, sofern sie
vorgenommen werden, um eventuell notwendige Behandlungen an dem noch
ungeborenen Kind fest- zustellen, werden allzu oft zum Anlaß, die Abtreibung
anzuraten oder vorzunehmen. Die angebliche Rechtmäßigkeit der eugenischen
Abtreibung entsteht in der öffentlichen Meinung aus einer Mentalität — sie wird
zu Unrecht für kohärent mit den Ansprüchen der »Behandelbarkeit mit Aussicht
auf Heilung« gehalten —, die das Leben nur unter bestimmten Bedingungen annimmt
und Begrenztheit, Behinderung und Krankheit ablehnt.
Infolge eben
dieser Logik ist man soweit gegangen, Kindern, die mit schweren Schäden oder
Krankheiten geboren wurden, die elementarsten üblichen Behandlungen und sogar
die Ernährung zu verweigern. Noch bestürzender wird das moderne Szenarium
darüber hinaus durch da und dort auftauchende Vorschläge, auf derselben Linie
wie das Recht auf Abtreibung sogar die Kindestötung für rechtmäßig zu
erklären: damit würde man in ein Stadium der Barbarei zurückfallen, das man für
immer überwunden zu haben hoffte.
15.
Nicht minder schwerwiegende Bedrohungen kommen auch auf die unheilbar
Kranken und auf die Sterbenden in einem Sozial- und Kulturgefüge zu, das
bei einer sich immer schwieriger gestaltenden Auseinandersetzung mit dem Leiden
und seinem Ertragen die Versuchung verstärkt, das Problem des Leidens
dadurch zu lösen, daß man es an der Wurzel ausreibt und den Tod in dem
Augenblick vorwegnimmt, den man selbst für den geeignetsten hält.
In diese
Entscheidung fließen oft verschiedene Elemente ein, die leider diesem
schrecklichen Ausgang zustreben. Entscheidend mag beim Kranken Angstgefühl sowie
das Gespür von Verbitterung, ja Verzweiflung sein, hervorgerufen durch die
Erfahrung eines intensiven und langen Schmerzes. Dies stellt das manchmal
ohnehin schon ins Wanken geratene Gleichgewicht des persönlichen und familiären
Lebens auf eine harte Probe, so daß der Kranke einerseits trotz der immer
wirksamer werdenden Mittel medizinischer und sozialer Assistenz Gefahr läuft,
sich von der eigenen Gebrechlichkeit erdrückt zu fühlen; andererseits kann bei
denen, die ihm liebevoll verbunden sind, ein Gefühl verständlichen, wenn auch
mißverstandenen Mitleids wirksam sein. Dies alles wird von einem kulturellen
Umfeld verschlimmert, das im Leid keinerlei Bedeutung oder Wert sieht; im
Gegenteil, es betrachtet das Leid als das Übel schlechthin, das es um jeden
Preis auszumerzen gilt; diese Haltung tritt vor allem dann ein, wenn man keine
religiöse Einstellung hat, die helfen kann, das Geheimnis des Schmerzes positiv
zu deuten.
Aber es wird
nicht versäumt, dem kulturellen Gesamthorizont auch eine Art Prometheushaltung
des Menschen einzuprägen, der sich derart der Illusion hingibt, Herr über Leben
und Tod werden zu können, daß er über sie entscheidet, während er in
Wirklichkeit von einem Tod überwunden und erdrückt wird, der sich jeder
Sinnperspektive und jeder Hoffnung unrettbar verschließt. Einem tragischen
Ausdruck von alledem begegnen wir in der Verbreitung der maskiert und
schleichend oder offen durchgeführten und sogar legalisierten Euthanasie. Sie
wird mit einem angeblichen Mitleid angesichts des Schmerzes des Patienten und
darüber hinaus mit einem utilitaristischen Argument gerechtfertigt, nämlich um
unproduktive Ausgaben zu vermeiden, die für die Gesellschaft zu belastend
seien. So schlägt man die Beseitigung der mißgestalteten Neugeborenen, der
geistig und körperlich Schwerstbehinderten, der Leistungsunfähigen, der Alten,
vor allem wenn sie sich nicht mehr selbst versorgen können, und der Kranken
vor, deren Leben zu Ende geht. Und auch angesichts anderer, heimlicherer, aber
nicht minder schwerwiegender und realer Formen von Euthanasie dürfen wir nicht
schweigen. Sie könnten sich zum Beispiel dann ereignen, wenn man, um mehr
Organe für Transplantationen zur Verfügung zu haben, die Entnahme dieser Organe
vornimmt, ohne die objektiven und angemessenen Kriterien für die Feststellung
des Todes des Spenders zu respektieren.
16.
Ein weiteres aktuelles Phänomen, mit dem häufig Bedrohungen und Angriffe
gegen das Leben einhergehen, ist das Bevölkerungswachstum. Es stellt
sich in den verschiedenen Teilen der Welt in unterschiedlicher Weise dar: in
den reichen und entwickelten Ländern verzeichnet man einen besorgniserregenden
Geburtenrückgang oder -einbruch; die armen Länder dagegen weisen im
allgemeinen eine hohe Wachstumsrate der Bevölkerung auf, die auf dem
Hintergrund geringer wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung oder gar
schwerwiegender Unterentwicklung kaum tragbar ist. Angesichts der
Überbevölkerung der armen Länder fehlt es auf internationaler Ebene an
weltweiten Maßnahmen — eine ernsthafte Familien- und Sozialpolitik, Programme
kultureller Entwicklung und einer gerechten Produktion und Verteilung der
Ressourcen —, während weiter eine geburtenfeindliche Politik betrieben wird.
Empfängnisverhütung,
Sterilisation und Abtreibung müssen gewiß zu den Ursachen gezählt werden, die
zum Zustand des starken Geburtenrückganges beitragen und ihn wesentlich
bestimmen. Die Versuchung, dieselben Methoden und Angriffe gegen das Leben auch
in Situationen von »Bevölkerungsexplosion« anzuwenden, mag auf der Hand liegen.
Der alte
Pharao, der die Anwesenheit der Söhne Israels und ihre Vermehrung als Alptraum
empfand, setzte sie jeder nur möglichen Unterdrückung aus und befahl, jedes
männliche Neugeborene der jüdischen Frauen zu töten (vgl. Ex 1, 7-22).
Genauso verhalten sich heutzutage viele Mächtige der Erde. Sie empfinden die
derzeitige Bevölkerungsentwicklung als Alptraum und befürchten, daß die
kinderreicheren und ärmeren Völker eine Bedrohung für den Wohlstand und die
Sicherheit ihrer Länder darstellen. Statt diese schwerwiegenden Probleme
aufzugreifen und sie unter Achtung der Würde der einzelnen und der Familien und
des unantastbaren Rechtes jedes Menschen auf Leben zu lösen, fördern sie daher
lieber eine massive Geburtenplanung und setzen sie mit jeglichem Mittel durch.
Selbst die Wirtschaftshilfen, die zu leisten sie bereit wären, werden
ungerechterweise von der Annahme einer geburtenfeindlichen Politik abhängig
gemacht.
17.
Die heutige Menschheit bietet uns ein wahrhaft alarmierendes Schauspiel, wenn
wir nicht nur an die verschiedenen Bereiche denken, in denen die Angriffe auf
das Leben ausbrechen, sondern auch an ihr einzigartiges Zahlenverhältnis sowie
an die mannigfache und machtvolle Unterstützung, die ihnen durch das
weitgehende Einverständnis der Gesellschaft, durch die häufige gesetzliche
Anerkennung, durch die Einbeziehung eines Teils des im Gesundheitswesen tätigen
Personals zuteil wird.
Wie ich
anläßlich des VIII. Weltjugendtreffens in Denver mit allem Nachdruck sagen
mußte, »nehmen die Bedrohungen des Lebens im Laufe der Zeit nicht ab. Im
Gegenteil, sie nehmen immer größere Ausmaße an. Es handelt sich nicht nur um
Bedrohungen des Lebens von außen, von den Kräften der Natur her oder von
weiteren 'Kains?, die die 'Abels? töten«; nein, es handelt sich um
wissenschaftlich und systematisch geplante Bedrohungen. Das 20. Jahrhundert
wird als eine Epoche massiver Angriffe auf das Leben, als endlose Serie von
Kriegen und andauernde Vernichtung unschuldiger Menschenleben gelten. Die
falschen Propheten und Lehrer erfreuen sich des größtmöglichen Erfolges.
15 Jenseits der Absichten, die unterschiedlicher Art sein und
möglicherweise sogar im Namen der Solidarität überzeugende Formen annehmen
können, stehen wir tatsächlich einer objektiven »Verschwörung gegen das
Leben« gegenüber, die auch internationale Institutionen einschließt, die
mit großem Engagement regelrechte Kampagnen für die Verbreitung der
Empfängnisverhütung, der Sterilisation und der Abtreibung anregen und planen.
Schließlich läßt sich nicht leugnen, daß sich die Massenmedien häufig zu
Komplizen dieser Verschwörung machen, indem sie jener Kultur, die die Anwendung
der Empfängnisverhütung, der Sterilisation, der Abtreibung und selbst der
Euthanasie als Zeichen des Fortschritts und als Errungenschaft der Freiheit
hinstellt, in der öffentlichen Meinung Ansehen verschaffen, während sie
Positionen, die bedingungslos für das Leben eintreten, als freiheits- und
entwicklungsfeindlich beschreibt.
|
»Bin ich
der Hüter meines Bruders?« (Gen 4, 9): eine entartete Vorstellung
von Freiheit
18.
Das beschriebene Panorama macht erforderlich, daß es nicht nur in den
Todeserscheinungen erkannt wird, die es kennzeichnen, sondern auch in den vielfältigen
Ursachen, die es bestimmen. Die Frage des Herrn »Was hast du getan?« (Gen
4, 10) scheint gleichsam eine Aufforderung an Kain zu sein, den materiellen
Charakter seiner Mordtat hinter sich zu lassen und ihre ganze Schwere in den
ihr zugrunde liegenden Motivationen und in den aus ihr erwachsenden Folgen
zu erfassen.
Die
Entscheidungen gegen das Leben entstehen bisweilen aus schwierigen oder
geradezu dramatischen Situationen tiefen Leides, der Einsamkeit, des völligen
Fehlens wirtschaftlicher Perspektiven, der Depression und Zukunftsangst. Solche
Umstände können die subjektive Verantwortlichkeit und die daraus folgende
Schuld derer vermindern, die diese in sich verbrecherischen Entscheidungen
treffen. Trotzdem geht das Problem heute weit über die, wenn auch gebotene
Anerkennung dieser persönlichen Situationen hinaus. Es stellt sich auch auf
kultureller, sozialer und politischer Ebene, wo es sein subversivstes und
verwirrendstes Gesicht in der immer weiter um sich greifenden Tendenz zeigt,
die erwähnten Verbrechen gegen das Leben als legitime Äußerungen der
individuellen Freiheit auszulegen, die als wahre und eigene Rechte anerkannt
und geschützt werden müssen.
Auf diese Weise
gelangt ein langer historischer Prozeß an einen Wendepunkt mit tragischen
Folgen, ein Prozeß, der nach Entdeckung der Idee der »Menschenrechte« — als
Rechte, die zu jeder Person gehören und jeder Verfassung und Gesetzgebung der
Staaten vorausgehen — heute in einen überraschenden Widerspruch gerät:
gerade in einer Zeit, in der man feierlich die unverletzlichen Rechte der
Person verkündet und öffentlich den Wert des Lebens geltend macht, wird
dasselbe Recht auf Leben, besonders in den sinnbildhaftesten Augenblicken des
Daseins, wie es Geburt und Tod sind, praktisch verweigert und unterdrückt.
Auf der einen
Seite sprechen die verschiedenen Menschenrechtserklärungen und die vielfältigen
Initiativen, die von ihnen inspiriert werden, von der Durchsetzung einer
moralischen Sensibilität auf Weltebene, die sorgfältiger darauf achtet, den
Wert und die Würde jedes Menschen als solchen anzuerkennen, ohne jede
Unterscheidung von Rasse, Nationalität, Religion, politischer Meinung und
sozialem Stand.
Auf der anderen
Seite setzt man diesen edlen Proklamationen leider in den Taten ihre tragische
Verneinung entgegen. Diese ist noch bestürzender, ja skandalöser, weil sie sich
in einer Gesellschaft abspielt, die die Durchsetzung und den Schutz der
Menschenrechte zu ihrem Hauptziel und zugleich zu ihrem Ruhmesblatt macht. Wie
lassen sich diese wiederholten Grundsatzbeteuerungen mit der ständigen
Vermehrung und verbreiteten Legalisierung der Angriffe auf das menschliche
Leben in Einklang bringen? Wie lassen sich diese Erklärungen in Einklang
bringen mit der Ablehnung des Schwächsten, des Bedürftigsten, des Alten, des
soeben im Mutterschoß Empfangenen? Diese Angriffe gehen in die genau
entgegengesetzte Richtung wie die Achtung vor dem Leben und stellen eine frontale
Bedrohung der gesamten Kultur der Menschenrechte dar. Eine Bedrohung, die
letzten Endes imstande ist, selbst die Bedeutung des demokratischen
Zusammenlebens aufs Spiel zu setzen: unsere Städte laufen Gefahr, aus einer
Gesellschaft von »zusammenlebenden Menschen« zu einer Gesellschaft von
Ausgeschlossenen, an den Rand Gedrängten, Beseitigten und Unterdrückten zu
werden. Muß man, wenn sich der Blick dann auf einen Welthorizont ausweitet,
nicht daran denken, daß selbst die Beteuerung der Rechte der Personen und der
Völker, wie sie bei ranghohen internationalen Zusammenkünften erfolgt, zu
fruchtloser rhetorischer Übung wird, wenn nicht der Egoismus der reichen
Länder, die den armen Ländern den Zugang zur Entwicklung verschließen oder ihn
an die Bedingung absurder Fortpflanzungsverbote knüpfen und so die Entwicklung
gegen den Menschen richten, die Maske fallen läßt? Muß man vielleicht nicht
selbst die Wirtschaftsmodelle in Frage stellen, die von den Staaten häufig auch
für Druckmaßnahmen und Konditionierungen auf internationaler Ebene angewandt
werden und die Unrechts– und Gewalt- situationen verursachen und fördern, in
denen das menschliche Leben ganzer Völker erniedrigt und mit Füßen getreten
wird?
19.
Wo liegen die Wurzeln eines derart paradoxen Widerspruchs?
Wir können sie
in kulturellen und moralischen Gesamtbewertungen feststellen, angefangen bei
jener Mentalität, die unterVerschärfung und sogar Entstellung des
Subjektivitätsbegriffs nur den als Inhaber von Rechten anerkennt, der mit
voller oder zumindest mit ersten Anzeichen von Autonomie auftritt und den
Zustand totaler Abhängigkeit von den anderen hinter sich läßt. Aber wie läßt
sich dieser Ansatz mit der Verherrlichung des Menschen als »unverfügbares«
Wesen in Einklang bringen? Die Theorie der Menschenrechte beruht gerade auf
der Erwägung der Tatsache, daß der Mensch zum Unterschied von den Tieren und
den Sachen nicht der Herrschaft von irgend jemandem unterworfen werden kann. Es
muß auch auf jene Logik hingewiesen werden, die dazu neigt, die Personwürde
mit der Fähigkeit zu verbaler, ausdrücklicher, auf alle Fälle erprobbarer Kommunikation
gleichzusetzen. Es ist klar, daß unter solchen Voraussetzungen in der Welt
kein Raum für den ist, der, wie das ungeborene Kind oder der Sterbende, ein von
seiner physischen Konstitution her schwaches Wesen ist, auf Gedeih und Verderb
anderen Menschen ausgeliefert und radikal von ihnen abhängig ist und mit dem
Kommunikation nur durch die stumme Sprache einer tiefen Symbiose liebender
Zuneigung möglich ist. Damit wird die Stärke zum Entscheidungs– und
Handlungskriterium in den zwischenmenschlichen Beziehungen und im sozialen
Zusammenleben. Doch das ist das genaue Gegenteil von dem, was den Rechtsstaat
historisch als Gemeinschaft bestätigt hat, in der an die Stelle des »Rechts der
Stärke« die »Stärke des Rechts« tritt.
Auf einer
anderen Ebene liegen die Wurzeln des Widerspruchs zwischen der feierlichen
Bestätigung der Menschenrechte und ihrer tragischen Verweigerung in der Praxis
in einer Auffassung von Freiheit, die
das einzelne Individuum zum
Absoluten erhebt und es nicht zur Solidarität, zur vollen Annahme des
anderen
und zum Dienst an ihm veranlaßt. Wenn es wahr ist, daß sich die
Auslöschung des
ungeborenen oder zu Ende gehenden Lebens mitunter auch den Anstrich
eines mißverstandenen Gefühls von Altruismus und menschlichen Erbarmens
gibt, so kann
man nicht bestreiten, daß eine solche Kultur des Todes in ihrer
Gesamtheit eine
ganz individualistische Freiheitsauffassung enthüllt, die schließlich
die
Freiheit der »Stärkeren« gegen die zum Unterliegen bestimmten Schwachen
ist.
Genau in diesem
Sinn kann man die Antwort Kains auf die Frage des Herrn »Wo ist dein Bruder
Abel?« auslegen: »Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?«
(Joh 4, 9). Jawohl, jeder Mensch ist »Hüter seines Bruders», weil Gott
den Menschen dem Menschen anvertraut. Und im Hinblick auf dieses Anvertrauen
schenkt Gott auch jedem Menschen die Freiheit, die eine wesentliche
Beziehungsdimension besitzt. Sie ist ein großes Geschenk des Schöpfers, so
sie in den Dienst der Person und ihrer Verwirklichung durch die Selbsthingabe
und die Annahme des anderen gestellt wird; wenn die Freiheit jedoch in
individualistischer Weise verabsolutiert wird, wird sie ihres ursprünglichen
Inhalts entleert und steht im Widerspruch zu ihrer Berufung und Würde.
Noch einen
tiefgehenderen Aspekt gilt es zu unterstreichen: die Freiheit verleugnet sich
selber, zerstört sich selber und macht sich zur Vernichtung des anderen bereit,
wenn sie ihre grundlegende Verbindung mit der Wahrheit nicht anerkennt
und nicht mehr respektiert. Jedesmal, wenn die Freiheit sich von jeder
Tradition und Autorität befreien will und sich den wesentlichen Klarheiten
einer objektiven und gemeinsamen Wahrheit als dem Fundament für das persönliche
und soziale Leben verschließt, hört der Mensch auf, als einzigen und
unanfechtbaren Anhaltspunkt für seine Entscheidungen nicht mehr die Wahrheit
über Gut und Böse anzunehmen, sondern nur noch seine subjektive und wandelbare
Meinung oder gar sein egoistisches Interesse und seine Laune.
20.
In dieser Auffassung von Freiheit wird das soziale Zusammenleben
tiefgreifend entstellt. Wenn die Förderung des eigenen Ich als absolute
Autonomie verstanden wird, gelangt man unvermeidlich zur Verneinung des
anderen, der als Feind empfunden wird, gegen den man sich verteidigen muß. Auf
diese Weise wird die Gesellschaft zu einer Gesamtheit von
nebeneinanderstehenden Individuen, die aber keine gegenseitigen Beziehungen
haben: ein jeder will sich unabhängig vom anderen behaupten, ja seinen eigenen
Interessen Vorteil verschaffen. Angesichts gleichartiger In- teressen des
anderen muß man jedoch nachgeben und eine Art Kompromiß suchen, wenn man in der
Gesellschaft jedem die größtmögliche Freiheit garantieren will. So schwindet
jeder Bezug zu gemeinsamen Werten und zu einer für alle geltenden absoluten Wahrheit:
das gesellschaftliche Leben läuft Gefahr, in einen vollkommenen Relativismus
abzudriften. Da läßt sich alles vereinbaren, über alles verhandeln: auch
über das erste Grundrecht, das Recht auf Leben.
Das geschieht
denn auch in der Tat im eigentlich politisch-staatlichen Bereich: das
ursprüngliche, unveräußerliche Recht auf Leben wird auf Grund einer
Parlamentsabstimmung oder des Willens eines — sei es auch mehrheitlichen —
Teiles der Bevölkerung in Frage gestellt oder verneint. Es ist das unheilvolle Ergebnis
eines unangefochten herrschenden Relativismus: das »Recht« hört auf Recht zu
sein, weil es sich nicht mehr fest auf die unantastbare Würde der Person
gründet, sondern dem Willen des Stärkeren unterworfen wird. Auf diese Weise
beschreitet die Demokratie ungeachtet ihrer Regeln den Weg eines substantiellen
Totalitarismus. Der Staat ist nicht mehr das »gemeinsame Haus«, in dem alle
nach den Prinzipien wesentlicher Gleichheit leben können, sondern er verwandelt
sich in einen tyrannischen Staat, der sich anmaßt, im Namen einer
allgemeinen Nützlichkeit — die in Wirklichkeit nichts anderes als das Interesse
einiger weniger ist — über das Leben der Schwächsten und Schutzlosesten, vom
ungeborenen Kind bis zum alten Menschen, verfügen zu können.
Alles geschieht
scheinbar ganz auf dem Boden der Legalität, zumindest wenn über die Gesetze zur
Freigabe der Abtreibung und der Euthanasie nach den sogenannten demokratischen
Regeln abgestimmt wird. In Wahrheit stehen wir lediglich einem tragischen
Schein von Legalität gegenüber, und das demokratische Ideal, das es tatsächlich
ist, wenn es denn die Würde jeder menschlichen Person anerkennt und schützt, wird
in seinen Grundlagen selbst verraten: »Wie kann man noch von Würde jeder
menschlichen Person reden, wenn die Tötung des schwächsten und unschuldigsten
Menschen zugelassen wird? Im Namen welcher Gerechtigkeit begeht man unter den
Menschen die ungerechteste aller Diskriminierungen, indem man einige von ihnen
für würdig erklärt verteidigt zu werden, während anderen diese Würde
abgesprochen wird?«. 16 Wenn diese Zustände eintreten, sind bereits
jene Dynamismen ausgelöst, die zum Zerfall eines echten menschlichen
Zusammenlebens und zur Zersetzung der staatlichen Realität führen.
Das Recht auf
Abtreibung, Kindestötung und Euthanasie zu fordern und es gesetzlich
anzuerkennen heißt der menschlichen Freiheit eine perverse, abscheuliche
Bedeutung zuzuschreiben: nämlich die einer absoluten Macht über die
anderen und gegen die anderen. Aber das ist der Tod der wahren Freiheit:
»Amen, amen, das sage ich euch: Wer die Sünde tut, ist Sklave der Sünde« (Joh
8, 34).
|
»Ich muß
mich vor deinem Angesicht verbergen« (Gen 4, 14): die
Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen
21.
Auf der Suche nach den tiefsten Wurzeln des Kampfes zwischen der »Kultur des
Lebens« und der »Kultur des Todes« dürfen wir nicht bei der oben erwähnten
perversen Freiheitsvorstellung stehen bleiben. Wir müssen zum Herzen des Dramas
vorstoßen, das der heutige Mensch erlebt: die Verfinsterung des Sinnes für
Gott und den Menschen, wie sie für das vom Säkularismus beherrschte soziale
und kulturelle Umfeld typisch ist, der mit seinen durchdringenden Fangarmen
bisweilen sogar christliche Gemeinschaften auf die Probe stellt. Wer sich von
dieser Atmosphäre anstecken läßt, gerät leicht in den Strudel eines furchtbaren
Teufelskreises: wenn man den Sinn für Gott verliert, verliert man bald auch
den Sinn für den Menschen, für seine Würde und für sein Leben; die
systematische Verletzung des Moralgesetzes, besonders was die Achtung vor dem
menschlichen Leben und seiner Würde betrifft, erzeugt ihrerseits eine Art
fortschreitender Verdunkelung der Fähigkeit, die lebenspendende und rettende
Gegenwart Gottes wahrzunehmen.
Und wieder können
wir dem Bericht von der Ermordung Abels durch seinen Bruder folgen. Nach dem
von Gott über ihn verhängten Fluch wendet sich Kain mit den Worten an den
Herrn: »Zu groß ist meine Schuld, als daß ich sie tragen könnte! Du hast mich
heute vom Ackerland verjagt, und ich muß mich vor deinem Angesicht verbergen;
rastlos und ruhelos werde ich auf der Erde sein, und wer mich findet, wird mich
erschlagen« (Gen 4, 13-14). Kain glaubt, daß seine Sünde beim Herrn
keine Vergebung erfahren kann und daß es sein unvermeidliches Schicksal sein
wird, »sich vor seinem Angesicht verbergen« zu müssen. Wenn es Kain
fertigbringt zu bekennen, daß seine Schuld »zu groß« ist, dann deshalb, weil er
weiß, daß er Gott und seinem gerechten Rich- terspruch gegenübersteht.
Tatsächlich vermag der Mensch nur vor dem Herrn seine Sünde zu erkennen und
ihre ganze Schwere zu erfassen. Das ist die Erfahrung Davids, der, nachdem er
»gegen den Herrn gesündigt hat«, auf die Vorwürfe des Propheten Natan (vgl. 2
Sam 11-12) ausruft: »Ich erkenne meine bösen Taten, meine Sünde steht mir
immer vor Augen. Gegen dich allein habe ich gesündigt, ich habe getan, was dir
mißfällt« (Ps 51 1, 5-6).
22.
Darum wird, wenn der Sinn für Gott schwindet, auch der Sinn für den Menschen
bedroht und verdorben, wie das Zweite Vatikanische Konzil lapidar feststellt:
»Denn das Geschöpf sinkt ohne den Schöpfer ins Nichts... Überdies wird das
Geschöpf selbst durch das Vergessen Gottes unverständlich«. 17 Der
Mensch vermag sich nicht mehr als »in geheimnisvoller Weise anders« als die
verschiedenen irdischen Lebewesen wahrzunehmen; er sieht sich als eines der
vielen Lebewesen, als einen Organismus, der bestenfalls eine sehr hohe
Vollkommenheitsstufe erreicht hat. In den engen Horizont seiner Körperlichkeit
eingeschlossen, wird er gewissermaßen zu »einer Sache« und beachtet nicht mehr
den »trans- zendenten« Charakter seines »Existierens als Mensch«. Er sieht das
Leben nicht mehr als ein großartiges Geschenk Gottes an, als eine »heilige«
Wirklichkeit, die seiner Verantwortung und damit seiner liebevollen Obhut,
seiner »Verehrung« anvertraut ist. Es wird einfach zu »einer Sache«, die er als
sein ausschließliches, total beherrschbares und manipulierbares Eigentum
beansprucht.
Er ist daher
nicht mehr in der Lage, sich angesichts des Lebens, das geboren wird, und des
Lebens, das stirbt, nach dem wahren Sinn seines Daseins fragen zu lassen, indem
er diese entscheidenden Augenblicke des eigenen »Seins« in echter Freiheit
annimmt. Er kümmert sich nur um das »Machen« und bemüht sich unter Zuhilfenahme
jeder Art von Technologie um die Planung, Kontrolle und Beherrschung von Geburt
und Tod. Aus ursprünglichen Erfahrungen, die »gelebt« werden sollen, werden
Geburt und Tod zu Dingen, die man sich einfach zu »besitzen« oder »abzulehnen«
anmaßt.
Wenn im übrigen
einmal der Bezug zu Gott ausgeschlossen ist, überrascht es nicht, daß der Sinn
aller Dinge tief entstellt zum Vorschein kommt, und die Natur selbst, nicht mehr
»mater«, zu einem »Material« entwürdigt wird, das allen Manipulationen
offensteht. Zu diesem Punkt scheint eine gewisse in der modernen Kultur
vorherrschende technisch-wissenschaftliche Rationalität zu führen, die selbst
die Vorstellung einer Wahrheit vom Schöpfer, der anzuerkennen ist, oder eines
Planes Gottes vom Leben, das zu achten ist, leugnet. Und dies gilt genauso,
wenn die Angst vor den Ergebnissen dieser »Freiheit ohne Gesetz« manche zur
entgegengesetzten Vorstellung von einem »Gesetz ohne Freiheit« verleitet, wie
es z.B. in den Ideologien der Fall ist, die die Rechtmäßigkeit eines jeden
Eingriffes in die Natur gleichsam im Namen ihrer »Vergöttlichung« bestreiten;
eine Vorstellung, die wiederum die Abhängigkeit vom Plan des Schöpfers
mißachtet.
Wenn der Mensch
wirklich lebt, »als ob es Gott nicht gäbe«, so kommt ihm nicht nur der Sinn für
das Geheimnis Gottes, sondern auch für das Geheimnis der Welt und seines
eigenen Seins abhanden.
23.
Die Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen führt unvermeidlich zum praktischen
Materialismus, in dem der Individualismus, der Utilitarismus und der
Hedonismus gedeihen. Auch hier offenbart sich die ewige Gültigkeit dessen, was
der Apostel schreibt: »Und da sie sich weigerten, Gott anzuerkennen, lieferte
Gott sie einem verworfenen Denken aus, so daß sie tun, was sich nicht gehört« (Röm
1, 28). Auf diese Weise werden die Werte des Seins durch jene des Habens
ersetzt. Das einzige Ziel, auf das es ankommt, ist die Erlangung des
eigenen materiellen Wohlergehens. Die sogenannte »Lebensqualität« wird
vorwiegend oder ausschließlich als wirtschaftliche Leistung, hemmungsloser
Konsumismus, Schönheit und Genuß des physischen Lebens ausgelegt, wobei die
tiefer reichenden — beziehungsmäßigen, geistigen und religiösen — Dimensionen
des Daseins in Vergessenheit geraten.
In einem
solchen Gesamtrahmen wird das Leiden, eine unvermeidbare Belastung der
menschlichen Existenz, aber auch ein Faktor möglichen personalen Wachstums,
»beanstandet», als unnütz zurückgewiesen, ja als immer und auf jeden Fall zu
vermeidendes Übel bekämpft. Kann man es nicht überwinden und schwindet die
Aussicht wenigstens auf künftiges Wohlergehen, dann scheint das Leben jede
Bedeutung verloren zu haben, und im Menschen wächst die Versuchung, das Recht
zu seiner Beseitigung geltend zu machen.
Im selben
kulturellen Umfeld wird der Körper nicht mehr als für die Person
typische Wirklichkeit, nämlich als Zeichen und Ort der Beziehung zu den
anderen, zu Gott und zur Welt, wahrge- nommen. Er ist auf einen rein
materiellen Charakter verkürzt: er ist nur ein Komplex von Organen, Funktionen
und Kräften, die nach reinen Kriterien von Genuß und Leistung zu gebrauchen
sind. Infolgedessen wird auch die Sexualität entpersönlicht und instrumentalisiert:
aus Zeichen, Ort und Sprache der Liebe, das heißt der Selbsthingabe und der
Annahme des anderen, wie sie dem ganzen Reichtum der Person entspricht, wird
sie immer mehr zu einer Gelegenheit und einem Werkzeug der Bestätigung des
eigenen Ich und der egoistischen Befriedigung der eigenen Begierden und
Instinkte. So wird der ursprüngliche Inhalt der menschlichen Sexualität
entstellt und verfälscht, und die zwei Bedeutungen, die das Wesen des ehelichen
Aktes ausmachen, nämlich Vereinigung und Zeugung, werden künstlich getrennt:
auf diese Weise wird die Vereinigung verraten, und die Fruchtbarkeit wird der
Willkür des Mannes und der Frau unterworfen. Da wird die Zeugung zum »Feind«,
die es bei der Ausübung der Sexualität zu vermeiden gilt: wenn man sie zuläßt,
dann nur deshalb, weil sie den eigenen Wunsch oder geradezu den eigenen Willen
zum Ausdruck bringt, »um jeden Preis« ein Kind zu haben, jedoch nicht, weil sie
totale Annahme des anderen und damit Offenheit für die Lebensfülle besagt,
deren Träger das Kind ist.
In der bisher
beschriebenen materialistischen Sicht erfahren die zwischenmenschlichen
Beziehungen eine schwerwiegende Verarmung. Die Ersten, die unter den
Schäden dieser Verarmung zu leiden haben, sind die Frau, das Kind, der kranke
oder leidende und der alte Mensch. An die Stelle des eigentlichen Kriteriums
der Personwürde — nämlich das der Achtung, der Unentgeltlichkeit und des
Dienstes — tritt das Kriterium der Leistungsfähigkeit, der Zweckmäßigkeit und
der Nützlichkeit: der andere wird nicht für das anerkannt und geschätzt, was er
»ist«, sondern für das, was er »hat, tut und leistet«. Das ist die Herrschaft
des Stärkeren über den Schwächeren.
24.
Die Verfinsterung des Sinnes für Gott und für den Menschen mit allen ihren
mannigfachen, verhängnisvollen Auswirkungen auf das Leben vollzieht sich im
Innern des sittlichen Gewissens. Dabei geht es zunächst um das Gewissen jedes
einzelnen Menschen, der in seiner Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit
allein mit Gott ist. 18 Doch es geht in gewissem Sinne auch um das
»sittliche Gewissen« der Gesellschaft: sie ist irgendwie verantwortlich,
nicht nur weil sie gegen das Leben gerichtete Haltungen duldet oder
unterstützt, sondern auch weil sie durch die Schaffung und Festigung
regelrechter »Sündenstrukturen« gegen das Leben die »Kultur des Todes« fördert.
Das sittliche Gewissen sowohl des einzelnen wie der Gesellschaft ist heute auch
wegen des aufdringlichen Einflusses vieler sozialer Kommunikationsmittel einer sehr
ernsten und tödlichen Gefahr ausgesetzt: der Gefahr der Verwirrung
zwischen Gut und Böse in bezug auf das fundamentale Recht auf Leben. Ein
Großteil der heutigen Gesellschaft zeigt sich ähnlich jener Menschheit, die
Paulus im Römerbrief beschreibt. Sie besteht aus »Menschen, die die Wahrheit
durch Ungerechtigkeit niederhalten« (1, 18): nachdem sie von Gott abgefallen
sind und glaubten, das irdische Gemeinwesen ohne Ihn aufbauen zu können,
»verfielen sie in ihrem Denken der Nichtigkeit, und ihr unverständiges Herz wurde
verfinstert« (1, 21); »sie behaupteten weise zu sein, und wurden zu Toren« (1,
22); sie wurden zu Urhebern todesträchtiger Werke und »tun sie nicht nur
selber, sondern stimmen bereitwillig auch denen zu, die so handeln« (1, 32).
Wenn das Gewissen, dieses leuchtende Auge der Seele (vgl. Mt 6, 22-23),
»das Gute böse und das Böse gut« nennt (Jes 5, 20), dann ist es auf dem
Weg besorgniserregender Entartung und finsterster moralischer Blindheit.
Doch sämtlichen
Konditionierungen und Anstrengungen, das Schweigen durchzusetzen, gelingt es
nicht, die Stimme des Herrn zu ersticken, die sich im Gewissen jedes Menschen
vernehmen läßt: von diesem inneren Heiligtum des Gewissens kann immer wieder
ein neuer Weg der Liebe, der Annahme und des Dienstes für das menschliche Leben
seinen Ausgang nehmen.
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»Ihr seid
hingetreten zum Blut der Besprengung« (vgl. Hebr 12, 22. 24): Zeichen
der Hoffnung und Einladung zum Engagement
25.
»Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden!« (Gen 4, 10).
Nicht nur das Blut Abels, des ersten unschuldig getöteten Menschen, schreit zu
Gott, Quelle und Verteidiger des Lebens. Auch das Blut jedes anderen ermordeten
Menschen nach Abel schreit zum Herrn. In absolut einmaliger Weise schreit zu
Gott das Blut Christi, dessen prophetische Gestalt Abel in seiner
Unschuld ist, wie der Verfasser des Hebräerbriefes ausführt: »Ihr seid vielmehr
zum Berg Zion hingetreten, zur Stadt des lebendigen Gottes..., zum Mittler
eines neuen Bundes, Jesus, und zum Blut der Besprengung, das mächtiger ruft als
das Blut Abels« (12, 22. 24).
Es ist das
Blut der Besprengung. Symbol und Vorauszeichen dafür war das Blut der Opfer
des Alten Bundes gewesen, durch die Gott seinen Willen kundtat, den Menschen
sein Leben durch ihre Reinigung und Heiligung mitzuteilen (vgl. Ex 24,
8; Lev 17, 11). Das alles erfüllt und bewahrheitet sich nun in Christus:
sein Blut ist das Blut der Besprengung, das erlöst, reinigt und rettet; das
Blut des Mittlers des Neuen Bundes, »das für viele vergossen wird zur Vergebung
der Sünden« (Mt 26, 28). Dieses Blut, das am Kreuz aus der durchbohrten
Seite Christi fließt (vgl. Joh 19, 34), »ruft mächtiger« als das Blut
Abels; es bringt in der Tat eine tiefere »Gerechtigkeit« zum Ausdruck und
verlangt sie, doch vor allem erfleht es
Barmherzigkeit,
19 es tritt beim Vater für die Brüder ein (vgl.Hebr 7, 25), es
ist Quelle vollkommener Erlösung und Geschenk neuen Lebens.
Während das
Blut Christi die Größe der Liebe des Vaters enthüllt, macht es offenbar, wie
kostbar der Mensch in den Augen Gottes ist und welch unschätzbaren Wert sein
Leben besitzt. Daran erinnert uns der Apostel Petrus: »Ihr wißt, daß ihr
aus eurer sinnlosen, von den Vätern ererbten Lebensweise nicht um einen
vergänglichen Preis losgekauft wurdet, nicht um Silber oder Gold, sondern mit
dem kostbaren Blut Christi, des Lammes ohne Fehl und Makel« (1 Petr 1,
18-19). Beim Betrachten des kostbaren Blutes Christi, Zeichen seiner Hingabe
aus Liebe (vgl. Joh 13, 1), lernt der Gläubige die gleichsam göttliche
Würde jedes Menschen kennen und schätzen und kann mit immer neuem und dankbarem
Staunen ausrufen: »Welchen Wert muß der Mensch in den Augen des Schöpfers
haben, wenn "er verdient hat, einen solchen und so großen Erlöser zu
haben" (Exultet der Osternacht), wenn "Gott seinen Sohn
hingegeben hat", damit er, der Mensch, "nicht verlorengeht, sondern
das ewige Leben hat" (vgl. Joh 3, 16)!«. 20
Zudem offenbart
das Blut Christi dem Menschen, daß seine Größe und damit seine Berufung in der aufrichtigen
Selbsthingabe besteht. Da es als Geschenk des Lebens vergossen wird, ist
das Blut Christi nicht mehr Zeichen des Todes, der endgültigen Trennung von den
Brüdern, sondern Werkzeug einer Verbundenheit, die für alle Fülle des Lebens
bedeutet. Wer im Sakrament der Eucharistie dieses Blut trinkt und in Jesus
bleibt (vgl. Joh 6, 56), wird mithineingenommen in seinen Dynamismus der
Liebe und der Hingabe des Lebens, um die ursprüngliche Berufung zur Liebe zu
erfüllen, die zu jedem Menschen gehört (vgl. Gen 1, 27; 2, 18-24).
Noch immer ist
es das Blut Christi, aus dem alle Menschen die Kraft schöpfen, um
sich für das Leben einzusetzen. Dieses Blut ist der stärkste Grund der
Hoffnung, ja das Fundament der absoluten Gewißheit, daß nach Gottes Plan das
Leben siegen wird. »Der Tod wird nicht mehr sein«, ruft die laute Stimme,
die vom Thron Gottes im himmlischen Jerusalem erschallt (Offb 21, 4).
Und der hl. Paulus versichert uns, daß der zeitliche Sieg über die Sünde
Zeichen und Vorwegnahme des endgültigen Sieges über den Tod ist, wenn »sich das
Wort der Schrift erfüllen wird: Ver- schlungen ist der Tod vom Sieg. Tod, wo
ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?« (1
Kor 15, 54-55).
26. In der Tat fehlt es nicht an Vorzeichen
dieses Sieges in unseren Gesellschaften und Kulturen, obwohl sie so stark von
der »Kultur des Todes« gezeichnet sind. Man würde daher ein einseitiges Bild
entwerfen, das zu fruchtloser Entmutigung verleiten könnte, wenn man zu der
Brandmarkung der Bedrohungen des Lebens nicht die Darstellung der positiven
Zeichen hinzufügte, die in der gegenwärtigen Situation der Menschheit
wirksam sind.
Leider fällt es
diesen positiven Zeichen oft schwer, sich darzustellen und erkannt zu werden,
vielleicht auch deshalb, weil sie in den Massenmedien keine entsprechende
Aufmerksamkeit finden. Aber wie viele Initiativen zur Hilfe und Unterstützung
für die schwächsten und schutzlosesten Menschen sind in der christlichen
Gemeinschaft und in der bürgerlichen Gesellschaft auf lokaler, nationaler und
internationaler Ebene von einzelnen, von Gruppen, Bewegungen und
verschiedenartigen Organisationen ergriffen worden und werden weiterhin in die
Wege geleitet!
Noch immer gibt
es zahlreiche Eheleute, die mit tiefer Verantwortung die Kinder als »die
kostbarste Gabe der Ehe« 21 annehmen. Und es fehlt auch nicht an Familien,
die über ihren täglichen Dienst am Leben hinaus die Offenheit besitzen,
sich verlassener Kleinkinder, in Notlagen befindlicher Kinder und Jugendlicher,
behinderter Personen und allein gebliebener alter Menschen anzunehmen. Nicht
wenige Zentren für Lebenshilfe oder ähnliche Einrichtungen werden von
Personen und Gruppen gefördert, die mit bewundernswerter Hingabe und
Aufopferung Müttern in schwieriger Lage, die versucht sind, eine Abtreibung
vornehmen zu lassen, moralische und materielle Hilfe anbieten. Auch entstehen
und verbreiten sich engagierte Freiwilligengruppen, die Menschen
Gastfreundschaft gewähren, die keine Familie haben, die sich in einer besonders
mißlichen Lage befinden oder eines erzieherischen Milieus bedürfen, das ihnen
hilft, zerstörerische Gewohnheiten zu überwinden und den Sinn des Lebens
zurückzugewinnen.
Die von den
Forschern und Fachleuten des Berufs mit großem Einsatz geförderte Medizin setzt
ihre Anstrengungen fort, immer wirksamere Mittel für die Heilung und Pflege in
Krankheiten zu finden: für das entstehende Leben, für leidende Menschen und für
die Kranken in akutem Zustand oder in der Endphase werden heute Ergebnisse
erzielt, die einst ganz unvorstellbar waren und vielversprechende Perspektiven
eröffnen. Verschiedene Einrichtungen und Organisationen setzen sich in
Bewegung, um auch den am schwersten von Elend und von endemischen Krankheiten
betroffenen Ländern die Vorzüge der neuesten Medizin zu bringen. So werden auch
nationale und internationale Ärztevereinigungen tätig, um den von
Naturkatastrophen, Seuchen oder Kriegen heimgesuchten Bevölkerungen rechtzeitig
Hilfe zu leisten. Warum sollte man nicht, auch wenn eine tatsächliche
internationale Gerechtigkeit bei der Verteilung der medizinischen Ressourcen
von ihrer vollen Verwirklichung noch weit entfernt ist, in den bisher
durchgeführten Schritten das Zeichen einer wachsenden Solidarität unter den
Völkern, einer wertvollen menschlichen und moralischen Sensibilität und einer
größeren Achtung vor dem Leben erkennen?
27.
Angesichts von Gesetzgebungen zur Freigabe der Abtreibung und da und dort
erfolgreichen Versuchen, die Euthanasie zu legalisieren, sind in der ganzen
Welt Bewegungen und Initiativen zur sozialen Sensibilisierung für das Leben entstanden.
Wenn solche Bewegungen in Übereinstimmung mit ihrer glaubwürdigen Inspiration
mit entschiedener Standhaftigkeit, aber ohne Anwendung von Gewalt handeln,
fördern sie damit eine breitere Bewußtmachung des Wertes des Lebens. Außerdem
regen sie einen entschiedeneren Einsatz zu seiner Verteidigung an und setzen
ihn in die Praxis um.
Muß man nicht
auch an alle jene täglichen Gesten von Annahme, Opfer, selbstloser Sorge erinnern,
die eine unübersehbare Anzahl von Personen voll Liebe in den Familien, in den
Krankenhäusern, in den Waisenhäusern, in den Altersheimen und in anderen
Zentren oder Gemeinschaften zum Schutz des Lebens vollbringt? Die Kirche, die
sich vom Beispiel Jesu vom »barmherzigen Samariter« (vgl. Lk 10, 29-37)
leiten läßt und von seiner Kraft gestärkt wird, ist an diesen Fronten der
Nächstenliebe immer in vorderster Linie gestanden: viele ihrer Töchter und
Söhne, besonders Ordensleute, weihten und weihen auch heute noch in alten und
immer neuen Formen ihr Leben Gott, indem sie es aus Liebe zum schwächsten und
bedürftigsten Nächsten hingeben.
Diese Gesten
bauen von innen her jene »Zivilisation der Liebe und des Lebens« auf, ohne die
die Existenz der Menschen und der Gesellschaft ihre im wahrsten Sinne
menschliche Bedeutung verliert. Auch wenn sie von niemandem bemerkt und den
meisten verborgen bleiben würden, versichert der Glaube, daß der Vater, »der
auch das Verborgene sieht« (Mt 6, 4), sie nicht nur dereinst belohnen
wird, sondern sie schon jetzt mit bleibenden Früchten für alle ausstattet.
Zu den
Hoffnungszeichen muß auch eine in breiten Schichten der öffentlichen Meinung
zunehmende neue Sensibilität gezählt werden, die immer mehr gegen den
Krieg als Instrument zur Lösung von Konflikten zwischen den Völkern
gerichtet ist und nach wirksamen, aber »gewaltlosen« Mitteln sucht, um den
bewaffneten Angreifer zu blockieren. In dasselbe Blickfeld gehört auch die
immer weiter verbreitete Abneigung der öffentlichen Meinung gegen die
Todesstrafe selbst als Mittel sozialer »Notwehr«, in Anbetracht der
Möglichkeiten, über die eine moderne Gesellschaft verfügt, um das Verbrechen
wirksam mit Methoden zu unterdrücken, die zwar den, der es begangen hat,
unschädlich machen, ihm aber nicht endgültig die Möglichkeit nehmen, wieder zu
Ehren zu kommen.
Wohlwollend zu
begrüben ist auch die erhöhte Aufmerksamkeit für die Qualität des Lebens und
die Umwelt, die vor allem in den hochentwickelten Gesellschaften
festzustellen ist, in denen sich die Erwartungen der Menschen nicht mehr so
sehr auf die Probleme des Überlebens, als vielmehr auf die Suche nach einer
globalen Verbesserung der Lebensbedingungen konzentrieren. Besonders bedeutsam
ist das Erwachen bzw. Wiederaufleben einer ethischen Reflexion über das Leben:
durch das Aufkommen der Bioethik und ihre immer mehr intensivierte
Entwicklung und Ausweitung werden — unter Gläubigen und Nichtgläubigen wie auch
zwischen den Gläubigen verschiedener Religionen — die Reflexion und der Dialog
über grundlegende ethische Probleme gefördert, die das Leben des Menschen
betreffen.
28.
Dieser Horizont von Licht und Schatten muß uns allen voll bewußt machen, daß
wir einer ungeheuren und dramatischen Auseinandersetzung zwischen Bösem und Gutem,
Tod und Leben, der »Kultur des Todes« und der »Kultur des Lebens«
gegenüberstehen. Wir stehen diesem Konflikt nicht nur »gegenüber«, sondern
befinden uns notgedrungen »mitten drin«: wir sind alle durch die
unausweichliche Verantwortlichkeit in die bedingungslose Entscheidung für
das Leben involviert und daran beteiligt.
Auch an uns
ergeht klar und nachdrücklich die Einladung des Mose: »Hiermit lege ich dir
heute das Leben und das Glück, den Tod und das Unglück vor...; Leben und Tod
lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du
und deine Nachkommen« (Dtn 30, 15. 19). Es ist eine Einladung, die
wohl auch für uns gilt, die wir uns jeden Tag zwischen der »Kultur des Lebens«
und der »Kultur des Todes« entscheiden müssen. Doch der Appell des Buches
Deuteronomium ist noch tiefgründiger, weil er uns zu einer im eigentlichen Sinn
religiösen und moralischen Entscheidung anhält. Es geht darum, dem eigenen
Dasein eine grundsätzliche Orientierung zu geben und in Treue und Übereinstimmung
mit dem Gesetz des Herrn zu leben: »... die Gebote des Herrn deines Gottes, auf
die ich dich heute verpflichte, ... indem du den Herrn deinen Gott liebst,
auf seinen Wegen gehst und auf seine Gebote, Gesetze und
Rechtsvorschriften achtest ... Wähle also das Leben, damit du lebst, du
und deine Nachkommen. Liebe den Herrn, deinen Gott, höre auf seine Stimme, und
halte dich an ihm fest; denn er ist dein Leben. Er ist die Länge deines
Lebens« (30, 16. 19-20).
Die Fülle ihrer
religiösen und moralischen Bedeutung erreicht die bedingungslose Entscheidung
für das Leben dann, wenn sie aus dem Glauben an Christus erwächst, von
ihm geformt und gefördert wird. Bei einer positiven Auseinandersetzung mit dem
Konflikt zwischen Tod und Leben, in dem wir stecken, hilft uns nichts so sehr
wie der Glaube an den Sohn Gottes, der Mensch geworden und zu den Menschen
gekommen ist, »damit sie das Leben haben und es in Fülle haben« (Joh 10,
10): es ist der Glaube an den Auferstandenen, der den Tod besiegt hat; es
ist der Glaube an das Blut Christi, »das mächtiger ruft als das Blut Abels« (Hebr
12, 24).
Durch das Licht
und die Kraft dieses Glaubens wird sich die Kirche angesichts der
Herausforderungen der gegenwärtigen Situation stärker der ihr vom Herrn
aufgetragenen Gnade und Verantwortung bewußt, das Evangelium vom Leben zu
verkünden, zu feiern und ihm zu dienen.
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II. KAPITEL - ICH BIN GEKOMMEN, DAMIT SIE DAS LEBEN
HABEN - DIE CHRISTLICHE BOTSCHAFT ÜBER DAS LEBEN
»Das Leben
wurde offenbart, wir haben es gesehen« (1 Joh 1, 2): der Blick
ist auf Christus, »das Wort des Lebens« gerichtet
29.
Angesichts der unzähligen ernsten Bedrohungen des Lebens in der modernen Welt
könnte man von einem Gefühl unüberwindlicher Ohnmacht übermannt werden: das
Gute wird nie die Kraft haben können, das Böse zu überwinden!
Das ist der
Augenblick, in dem das Volk Gottes und in ihm jeder Gläubige aufgerufen ist,
demütig und mutig seinen Glauben an Jesus Christus, »das Wort des Lebens« (1
Joh 1, 1), zu bekennen. Das Evangelium vom Leben ist nicht bloß
eine, wenn auch originelle und tiefgründige Reflexion über das menschliche
Leben; und es ist auch nicht nur ein Gebot, dazu bestimmt, das Gewissen zu sensibilisieren
und gewichtige Veränderungen in der Gesellschaft zu bewirken; und noch weniger
ist es eine illusorische Verheißung einer besseren Zukunft. Das Evangelium
vom Leben ist eine konkrete und personale Wirklichkeit, weil es in der
Verkündigung der Person Jesu selber besteht. Dem Apostel Thomas und in
ihm jedem Menschen zeigt sich Jesus mit den Worten: »Ich bin der Weg und die
Wahrheit und das Leben« (Joh 14, 6). Mit derselben Identität weist er
sich Marta, der Schwester des Lazarus gegenüber aus: »Ich bin die Auferstehung
und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder,
der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben« (Joh 11,
25-26). Jesus ist der Sohn, der von Ewigkeit her vom Vater das Leben empfängt
(vgl. Joh 5, 26) und zu den Menschen gekommen ist, um sie an diesem Geschenk
teilhaben zu lassen: »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in
Fülle haben« (Joh 10, 10).
Vom Wort, von
der Tat, und selbst von der Person Jesu wird also dem Menschen die Möglichkeit
gegeben, die ganze Wahrheit über den Wert des menschlichen Lebens zu
»erkennen«; aus jener »Quelle« erwächst ihm insbesondere die Fähigkeit,
vollkommen diese Wahrheit »zu tun« (vgl. Joh 3, 21), das heißt, die
Verantwortung zur Liebe des menschlichen Lebens und zum Dienst an ihm, zu
seiner Verteidigung und Förderung voll anzunehmen und zu verwirklichen. Denn in
Christus wird jenes bereits in der Offenbarung des Alten Testamentes
dargebotene und jedem Mann und jeder Frau sogar irgendwie ins Herz geschriebe Evangelium
vom Leben endgültig verkündet und in seiner Fülle verschenkt; es erfüllt
jedes sittliche Bewußtsein »von Anfang an», das heißt von der Erschaffung an,
so daß es trotz der negativen Beeinflussungen durch die Sünde in seinen
wesentlichen Zügen auch von der menschlichen Vernunft erkannt werden kann. Christus
ist es, wie das II. Vatikansche Konzil schreibt, »der durch sein ganzes Dasein
und seine ganze Erscheinung, durch Worte und Werke, durch Zeichen und Wunder,
vor allem aber durch seinen Tod und seine herrliche Auferstehung von den Toten,
schließlich durch die Sendung des Geistes der Wahrheit die Offenbarung erfüllt
und abschließt und durch göttliches Zeugnis bekräftigt, daß Gott mit uns ist,
um uns aus der Finsternis von Sünde und Tod zu befreien und zu ewigem Leben zu
erwecken«. 22
30.
Während wir den Blick auf den Herrn Jesus gerichtet haben, wollen wir also von
ihm wieder »die Worte Gottes« (Joh 3, 34) hören und neu nachdenken über
das Evangelium vom Leben. Den tieferen und ursprünglichen Sinn dieser
Meditation über die geoffenbarte Botschaft vom menschlichen Leben hat der
Apostel Johannes erfaßt, als er in seinem ersten Brief einleitend schrieb: »Was
von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen, was
wir geschaut und was unsere Hände angefaßt haben, das verkünden wir: das Wort
des Lebens. Denn das Wort wurde offenbart; wir haben gesehen und bezeugen und
verkünden euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbart wurde. Was
wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch, damit auch ihr
Gemeinschaft mit uns habt« (1, 1-3).
In Jesus, dem
»Wort des Lebens«, wird also das göttliche und ewige Leben verkündet und
mitgeteilt. Durch diese Verkündigung und dieses Geschenk gewinnt das physische
und geistige Leben des Menschen auch in seiner irdischen Phase vollen Wert und
Bedeutung: das göttliche und ewige Leben ist in der Tat das Ziel, auf das hin
der in dieser Welt lebende Mensch ausgerichtet und zu dem er berufen ist. Das Evangelium
vom Leben schließt somit alles ein, was die menschliche Erfahrung und die
Vernunft über den Wert des menschlichen Lebens sagen, nimmt es an, erhöht es
und bringt es zur Vollendung.
|
»Meine
Stärke und mein Lied ist der Herr, er ist für mich zum Retter geworden« (Ex
15, 2): das Leben ist immer ein Gut
31.
Die evangelische Fülle der Botschaft über das Leben ist in Wirklichkeit schon
im Alten Testament vorbereitet. Vor allem im Geschehen des Exodus, dem Kern der
Glaubenserfahrung des Alten Testamentes, entdeckt Israel, wie kostbar sein
Leben in Gottes Augen ist. Als es schon der Ausrottung preisgegeben zu sein
scheint, weil alle seine männlichen Neugeborenen vom Tod bedroht sind (vgl. Ex
1, 15-22), offenbart sich ihm der Herr als Retter, der den Hoffnungslosen
eine Zukunft sicherzustellen vermag. So wird in Israel ein klares Bewußtsein
geboren: sein Leben ist nicht einem Pharao ausgeliefert, der sich seiner
mit despotischer Willkür bedienen kann; es ist vielmehr das Objekt einer
zärtlichen und starken Liebe Gottes.
Die Befreiung
aus der Knechtschaft ist das Geschenk einer Identität, die Anerkennung einer
unauslöschlichen Würde und der Beginn einer neuen Geschichte, in der die
Entdeckung Gottes und Selbstentdeckung miteinander einhergehen. Das Erlebnis
des Exodus ist eine exemplarische Gründungserfahrung. Israel lernt dabei,
daß
es sich jedesmal, wenn es in seiner Existenz bedroht ist, nur mit neuem
Vertrauen an Gott zu wenden braucht, um bei Ihm wirksame Hilfe zu finden: »Ich
habe dich geschaffen, du bist mein Knecht; Israel, ich vergesse dich nicht« (Jes
44, 21).
Während Israel
so den Wert seiner Existenz als Volk erkennt, macht es auch Fortschritte in der
Wahrnehmung des Sinnes und Wertes des Lebens als solchen. Eine
Reflexion, die, ausgehend von der täglichen Erfahrung der Ungewißheit des
Lebens und von der Kenntnis der es gefährdenden Bedrohungen, besonders in den
Weisheitsbüchern entfaltet wird. Der Glaube wird angesichts der
Gegensätzlichkeiten des Daseins herausgefordert, eine Antwort anzubieten.
Vor allem das
Problem des Schmerzes setzt dem Glauben zu und stellt ihn auf die Probe. Soll
man etwa in der Meditation des Buches Ijob nicht das universale Stöhnen des
Menschen vernehmen? Der vom Leid geschlagene Unschuldige ist
verständlicherweise geneigt sich zu fragen: »Warum schenkt er dem Elenden Licht
und Leben denen, die verbittert sind? Sie warten auf den Tod, der nicht kommt,
sie suchen ihn mehr als verborgene Schätze« (3, 20-21). Aber auch in der
tiefsten Finsternis veranlaßt der Glaube zur vertrauensvollen und anbetenden
Erkenntnis des »Geheimnisses»: »Ich habe erkannt, daß du alles vermagst; kein
Vorhaben ist dir verwehrt« (Ijob 42, 2).
Nach und nach
macht die Offenbarung mit immer größerer Klarheit den Keim unsterblichen Lebens
begreiflich, der vom Schöpfer ins Herz der Menschen gelegt wurde: »Gott hat das
alles zu seiner Zeit auf vollkommene Weise getan. Überdies hat er die Ewigkeit
in alles hineingelegt« (Koh 3, 11). Dieser Keim von Ganzheit und
Fülle wartet darauf, sich in der Liebe zu offenbaren und sich durch die
unentgeltliche Hingabe Gottes in der Teilhabe an seinem ewigen Leben zu
verwirklichen.
|
»Der Name
Jesu hat diesen Mann zu Kräften gebracht« (Apg 3, 16): in der
Ungewißheit des menschlichen Daseins bringt Jesus den Sinn des Lebens zur
Vollendung
32.
Die Erfahrung des Bundesvolkes erneuert sich in der Erfahrung aller »Armen»,
die Jesus von Nazaret begegnen. Wie schon Gott, der »Freund des Lebens« (Weish
11, 26), Israel inmitten der Gefahren beruhigt hatte, so verkündet nun der
Gottessohn allen, die sich in ihrer Existenz bedroht und behindert fühlen,
daß
auch ihr Leben ein Gut ist, dem die Liebe des Vaters Sinn und Wert verleiht.
»Blinde sehen
wieder, Lahme gehen, und Aussätzige werden rein; Taube hören, Tote stehen auf,
und den Armen wird das Evangelium verkündet« (Lk 7, 22). Mit diesen
Worten des Propheten Jesaja (35, 5-6; 61, 1) legt Jesus die Bedeutung seiner
Sendung dar: so vernehmen alle, die unter einer irgendwie von Behinderung
gekennzeichneten Existenz leiden, von ihm die frohe Kunde von der
Anteilnahme Gottes ihnen gegenüber und finden bestätigt, daß auch ihr Leben
eine in den Händen des Vaters eifersüchtig gehütete Gabe ist (vgl. Mt 6,
25-34).
Es sind
besonders die »Armen», an die sich die Verkündigung und das Wirken Jesu
richtet. Die Massen von Kranken und Ausgegrenzten, die ihm folgen und ihn
suchen (vgl. Mt 4, 23-25), finden in seinem Wort und in seinen Taten
offenbart, welch großen Wert ihr Leben besitzt und wie begründet ihre
Heilserwartungen sind.
Nicht anders
geschieht es in der Sendung der Kirche seit ihren Anfängen. Sie, die Jesus als
den verkündet, der »umherzog, Gutes tat und alle heilte, die in der Gewalt des
Teufels waren; denn Gott war mit ihm« (Apg 10, 38), weiß sich als
Trägerin einer Heilsbotschaft, die in ihrer ganzen Neuartigkeit gerade in den
von Elend und Armut geprägten Lebenssituationen des Menschen zu vernehmen ist.
So macht es Petrus bei der Heilung des Gelähmten, der jeden Tag an die »Schöne
Pforte« des Tempels von Jerusalem gesetzt wurde, wo er um Almosen betteln
sollte: »Silber und Gold besitze ich nicht. Doch was ich habe, das gebe ich
dir: Im Namen Jesu Christi, des Nazoräers, geh umher!« (Apg 3, 6). Im
Glauben an Jesus, den »Urheber des Lebens« (Apg 3, 15), gewinnt das
verlassen und bedauernswert daniederliegende Leben wieder Selbstbewußtsein und
volle Würde.
Das Wort und
die Taten Jesu und seiner Kirche gelten nicht nur dem, der von Krankheit, von
Leiden oder von den verschiedenen Formen sozialer Ausgrenzung betroffen ist.
Tiefgehender berühren sie den eigentlichen Sinn des Lebens jedes Menschen in
seinen moralischen und geistlichen Dimensionen. Nur wer erkennt, daß sein
Leben von der Krankheit der Sünde gezeichnet ist, kann in der Begegnung mit dem
Retter Jesus die Wahrheit und Glaubwürdigkeit der eigenen Existenz entsprechend
dessen eigenen Worten wiederfinden: »Nicht die Gesunden brauchen den Arzt,
sondern die Kranken. Ich bin gekommen, um die Sünder zur Umkehr zu rufen, nicht
die Gerechten« (Lk 5, 31-32).
Wer hingegen
wie der reiche Landwirt im Gleichnis des Evangeliums meint, er könne sein Leben
durch den Besitz allein der materiellen Güter sichern, täuscht sich in
Wirklichkeit: das Leben entgleitet ihm, und er wird es sehr bald verlieren,
ohne dazu gekommen zu sein, seine wahre Bedeutung zu erfassen: »Du Narr! Noch
in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern. Wem wird dann all
das gehören, was du angehäuft hast?« (Lk
12, 20).
33. Im Leben Jesu selbst begegnet
man von Anfang bis Ende dieser einzigartigen »Dialektik« zwischen der Erfahrung
der Gefährdung des menschlichen Lebens und der Geltendmachung seines Wertes.
Denn gefährdet ist das Leben Jesu von seiner Geburt an. Gewiß findet er Aufnahme
von seiten der Gerechten, die sich dem bereiten und freudigen »Ja« Marias
anschließen (vgl. Lk 1, 38). Aber da ist auch sofort die Ablehnung durch
eine Welt, die feindselig auftritt und das Kind »zu töten« trachtet (Mt 2,
13) oder sich gegenüber der Erfüllung des Geheimnisses dieses Lebens, das in
die Welt eintritt, gleichgültig und achtlos verhält: »in der Herberge war kein
Platz für sie« (Lk 2, 7). Gerade aus dem Gegensatz zwischen den
Bedrohungen und Unsicherheiten einerseits und der Mächtigkeit des
Gottesgeschenkes andererseits leuchtet mit um so größerer Kraft die
Herrlichkeit, die vom Haus in Nazaret und von der Krippe in Betlehem
ausstrahlt: dieses hier geborene Leben bedeutet Heil für die ganze Menschheit
(vgl. Lk 2, 11).
Widersprüche
und Gefahren des Lebens werden von Jesus voll angenommen: »Er, der reich war,
wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen« (2 Kor 8,
9). Die Armut, von der Paulus spricht, besteht nicht nur darin, daß sich Jesus
der göttlichen Vorrechte entäußert, sondern auch die niedrigsten und
unsichersten Bedingungen menschlichen Lebens teilt (vgl. Phil 2, 6-7).
Jesus lebt diese Armut sein ganzes Leben hindurch bis zu dessen Höhepunkt am
Kreuz: »er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.
Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist
als alle Namen« (Phil 2, 8-9). Gerade in seinem Tod macht Jesus die
ganze Größe und den Wert des Lebens offenbar, weil sein Sichhingeben am
Kreuz zur Quelle neuen Lebens für alle Menschen wird (vgl. Joh 12, 32).
Auf diesem Pilger- weg durch die Widersprüche des Lebens und selbst bei dessen
Verlust läßt sich Jesus von der Gewißheit leiten, daß es in den Händen des
Vaters liegt. Darum kann er am Kreuz zu ihm sagen: »Vater, in deine Hände lege
ich meinen Geist« (Lk 23, 46), das heißt mein Leben. Der Wert des
menschlichen Lebens ist in der Tat groß, wenn der Sohn Gottes es angenommen und
zu dem Ort gemacht hat, an dem sich das Heil für die ganze Menschheit
verwirklicht!
|
»Sie sind
dazu bestimmt, an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben« (vgl. Röm
8, 29): die Herrlichkeit Gottes leuchtet auf dem Antlitz des Menschen
34.
Das Leben ist immer ein Gut. Das ist eine intuitive Ahnung oder sogar eine
Erfahrungstatsache, deren tiefen Grund zu erfassen der Mensch berufen ist.
Warum ist
das Leben ein Gut? Die Frage durchzieht die ganze Bibel und findet bereits
auf ihren ersten Seiten eine wirkungsvolle und wunderbare Antwort. Das Leben,
das Gott dem Menschen schenkt, ist anders und eigenständig gegenüber dem eines
jeden anderen Lebewesens, weil der Mensch, auch wenn er mit dem Staub der Erde
verwandt ist (vgl. Gen 2, 7; 3, 19; Ijob 34, 15; Ps 103 1,
14; 104 2, 29), in der Welt Offenbarung Gottes, Zeichen seiner Gegenwart,
Spur seiner Herrlichkeit ist (vgl. Gen 1, 26-27; Ps 8, 6).
Das wollte auch der hl. Irenäus von Lyon mit seiner berühmten Definition unterstreichen:
»Der lebendige Mensch ist die Herrlichkeit Gottes«. 23 Dem Menschen
wird eine erhabene Würde geschenkt, die ihre Wurzeln in den innigen
Banden hat, die ihn mit seinem Schöpfer verbinden: im Menschen erstrahlt ein
Widerschein der Wirklichkeit Gottes selbst.
Das führt das
erste Buch der Genesis im ersten Schöpfungsbericht aus, indem es den Menschen
als Höhepunkt des Schöpfungswerkes Gottes, als seine Krönung, an das Ende eines
Prozesses stellt, der vom unterschiedslosen Chaos zum vollkommensten Geschöpf
führt. Alles in der Schöpfung ist auf den Menschen hingeordnet und alles ist
ihm untergeordnet: »Bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht...
über alle Tiere, die sich auf dem Land regen« (1, 28), gebietet Gott dem Mann
und der Frau. Eine ähnliche Botschaft stammt auch aus dem zweiten
Schöpfungsbericht: »Gott, der Herr, nahm also den Menschen und setzte ihn in
den Garten von Eden, damit er ihn bebaue und hüte« (Gen 2, 15). So wird
die Vorrangstellung des Menschen über die Dinge bekräftigt: sie sind auf ihn
hin ausgerichtet und seiner Verantwortung anvertraut, während er selbst unter
keinen Umständen an seinesgleichen versklavt werden und gleichsam auf die Ebene
einer Sache herabgestuft werden kann.
In der
biblischen Erzählung wird die Unterscheidung des Menschen von den anderen
Geschöpfen vor allem dadurch herausgestellt, daß nur seine Erschaffung als
Frucht eines besonderen Entschlusses Gottes dargestellt wird, als Ergebnis
einer Entscheidung, die in der Herstellung einer eigenen und besonderen
Verbindung mit dem Schöpfer besteht: »Laß uns Menschen machen als unser
Abbild, uns ähnlich« (Gen 1, 26). Das Leben, das Gott dem Menschen
anbietet, ist ein Geschenk, durch das Gott sein Geschöpf an etwas von sich
selbst teilhaben läßt.
Israel wird
noch lange Fragen nach dem Sinn dieser eigenen und besonderen Bindung des
Menschen an Gott stellen. Auch das Buch Jesus Sirach räumt ein, daß Gott die
Menschen bei ihrer Erschaffung »ihm selbst ähnlich mit Kraft bekleidet und nach
seinem Abbild erschaffen hat« (17, 3). Darauf führt der Verfasser nicht nur
ihre Beherrschung der Welt zurück, sondern auch die wesentlichsten geistigen
Fähigkeiten des Menschen, wie Vernunft, Erkenntnis von Gut und Böse, den
freien Willen: »Mit kluger Einsicht erfüllte er sie und lehrte sie, Gutes und
Böses zu erkennen« (Sir 17, 7). Die Fähigkeit, Wahrheit und Freiheit
zu erlangen, sind Vorrechte des Menschen, geschaffen nach dem Abbild seines
Schöpfers, des wahren und gerechten Gottes (vgl. Dtn 32, 4). Unter allen
sichtbaren Kreaturen ist nur der Mensch »fähig, seinen Schöpfer zu erkennen und
zu lieben«. 24 Das Leben, das Gott dem Menschen schenkt, ist weit mehr
als ein zeitlich-irdisches Dasein. Es ist ein Streben nach einer Lebensfülle;
es ist Keim einer Existenz, die über die Grenzen der Zeit hinausgeht: »Gott
hat den Menschen zur Unvergänglichkeit erschaffen und ihn zum Bild seines
eigenen Wesens gemacht« (Weish 2, 23).
35.
Auch der jahwistische Schöpfungsbericht bringt dieselbe Überzeugung zum
Ausdruck. Die ältere Erzählung spricht nämlich von einem göttlichen Hauch, der
in den Menschen geblasen wird, damit er ins Leben trete: »Gott, der
Herr, formte den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den
Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen« (Gen 2, 7).
Der göttliche
Ursprung dieses Lebensgeistes erklärt das ständige Unbefriedigtsein, das den
Menschen in seinen Erdentagen begleitet. Da er von Gott geschaffen wurde und
eine unauslöschliche Spur Gottes in sich trägt, trachtet der Mensch natürlich
nach ihm. Jeder Mensch muß, wenn er die tiefe Sehnsucht seines Herzens
vernimmt, sich das Wort der vom hl. Augustinus ausgesprochenen Wahrheit zu
eigen machen: »Du, o Herr, hast uns für Dich geschaffen, und unruhig ist unser
Herz, bis es ruht in Dir«. 25
Äußerst
vielsagend ist das Unbefriedigtsein, von dem das Leben des Menschen im Garten
Eden geplagt wird, solange sein einziger Bezug die natürliche Welt der Pflanzen
und Tiere ist (vgl. Gen 2, 20). Erst das Auftreten der Frau, das heißt
eines Wesens, das Fleisch von seinem Fleisch und Bein von seinem Bein ist (vgl.
Gen 2, 23) und in dem ebenfalls der Geist des Schöpfergottes lebt,
vermag sein Verlangen nach interpersonalem Dialog, der für die menschliche
Existenz so wichtig ist, zu befriedigen. Im anderen, Mann oder Frau, spiegelt
sich Gott selbst, endgültiger und befriedigender Anlegepunkt jedes Menschen.
»Was ist der
Mensch, daß du an ihn denkst, des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst?«,
fragt der Psalmist (Ps 8, 5). Angesichts der Unermeßlichkeit des
Universums ist er klein und unbedeutend; aber gerade dieser Gegensatz läßt
seine Größe sichtbar werden: »Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott
(man könnte auch übersetzen: als die Engel), hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre
gekrönt« (Ps 8, 6). Die Herrlichkeit Gottes leuchtet auf dem Antlitz
des Menschen. In ihm findet der Schöpfer seine Ruhe, wie der hl. Ambrosius
voll Erstaunen und Ergriffenheit kommentiert: »Der sechste Tag ist zu Ende und
die Schöpfung der Welt wird mit der Gestaltung des Hauptwerkes abgeschlossen,
des Menschen, der die Herrschaft über alle Lebewesen ausübt und gleichsam der
Gipfel des Universums und die höchste Schönheit jedes geschaffenen Wesens ist.
Wir müßten wahrhaftig in verehrungsvollem Schweigen verharren, da sich der Herr
von jedem Werk der Welt ausruhte. Er ruhte sich dann im Innern des Menschen
aus, er ruhte sich aus in seinem Verstand und seinem Denken; denn er hatte den
Menschen erschaffen, ihn mit Vernunft ausgestattet und ihn befähigt, ihn
nachzuahmen, seinen Tugenden nachzueifern, nach den himmlischen Gnaden zu
dürsten. In diesen seinen Gaben ruht Gott, der gesagt hat: 'Was wäre das für
ein Ort, an dem ich ausruhen könnte?... Ich blicke auf den Armen und
Zerknirschten und auf den, der zittert vor meinem Wort? (Jes 66, 1-2).
Ich danke dem Herrn, unserem Gott, daß er ein so wunderbares Werk geschaffen
hat, in dem er den Ort zum Ausruhen finden kann«. 26
36.
Leider wird Gottes herrlicher Plan durch den Einbruch der Sünde in die
Geschichte getrübt. Mit der Sünde lehnt sich der Mensch gegen den Schöpfer auf,
bis er am Ende die Geschöpfe vergöttert: »Sie beteten das Geschöpf an
und verehrten es anstelle des Schöpfers« (Röm 1, 25). Auf diese Weise
entstellt der Mensch nicht nur in sich selbst das Bild Gottes, sondern ist
versucht, es auch in den anderen dadurch zu beleidigen, daß er die Beziehungen
der Gemeinschaft durch Verhaltensweisen wie Mißtrauen, Gleichgültigkeit,
Feindschaft bis hin zum mörderischen Haß ersetzt. Wenn man nicht Gott als
Gott anerkennt, verrät man die tiefe Bedeutung des Menschen und
beeinträchtigt die Gemeinschaft der Menschen untereinander.
Mit der
Menschwerdung des Gottessohnes erstrahlt im Leben des Menschen wieder das Bild
Gottes und offenbart sich in seiner ganzen Fülle: »Er ist das Ebenbild des
unsichtbaren Gottes« (Kol 1, 15), »der Abglanz seiner Herrlichkeit und
das Abbild seines Wesens« (Hebr 1, 3), lebt das vollkommene Ebenbild des
Vaters.
Der dem ersten
Adam übertragene Lebensplan findet schließlich in Christus seine Vollendung.
Während der Ungehorsam Adams Gottes Plan bezüglich des Lebens des Menschen
zerstört und entstellt und den Tod in die Welt bringt, ist der erlösende
Gehorsam Christi Quelle der Gnade, die sich über die Menschen ergießt, indem
sie für alle die Tore zum Reich des Leßens aufreißt (vgl. Röm 5, 12-21).
Der Apostel Paulus sagt: »Adam, der Erste Mensch, wurde ein irdisches
Lebewesen. Der Letzte Adam wurde lebendigmachender Geist« (1 Kor 15,
45).
Allen, die sich
zustimmend in die Nachfolge Christi stellen, wird die Fülle des Lebens
geschenkt: in ihnen wird das göttliche Bild wiederhergestellt, erneuert und zur
Vollendung geführt. Das ist der Plan Gottes mit den Menschen: daß sie »an Wesen
und Gestalt seines Sohnes teilhaben« (Röm 8, 29). Nur so, im Glanz
dieses Bildes, kann der Mensch von der Knechtschaft des Götzendienstes befreit
werden, die zerbrochene Brüderlichkeit wiederherstellen und seine Identität
wiederfinden.
|
»Jeder,
der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben« (Joh 11,
26): das Geschenk des ewigen Lebens
37.
Das Leben, das der Sohn Gottes den Menschen geschenkt hat, beschränkt sich
nicht bloß auf das zeitlich-irdische Dasein. Das Leben, das von Ewigkeit her
»in ihm« und »das Licht der Menschen« ist (Joh 1, 4), beruht darauf,
daß es aus Gott geboren ist und an der Fülle seiner Liebe teilhat: »Allen
aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen
Namen glauben, die nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches,
nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind« (Joh 1,
12-13).
Manchmal nennt
Jesus dieses Leben, das zu schenken er gekommen ist, einfach: »das Leben»; und stellt
die Geburt aus Gott als eine notwendige Bedingung dar, um das Ziel erreichen zu
können, für das Gott den Menschen erschaffen hat: »Wenn jemand nicht von neuem
geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen« (Joh 3, 3). Das
Geschenk dieses Lebens bildet den eigentlichen Zweck der Sendung Jesu: er ist
der, der »vom Himmel herabkommt und der Welt das Leben gibt« (Joh 6,
33), so daß er mit voller Wahrheit sagen kann: »Wer mir nachfolgt, ... wird das
Licht des Lebens haben« (Joh 8, 12).
An anderen Stellen
spricht Jesus vom »ewigen Leben», wobei das Adjektiv nicht nur auf eine
überirdische Perspektive verweist. »Ewig« ist das Leben, das Jesus
verheißt und
schenkt, weil es Fülle der Teilhabe am Leben des »Ewigen« ist. Jeder, der an
Jesus glaubt und in Gemeinschaft mit ihm tritt, hat das ewige Leben (vgl. Joh
3, 15; 6, 40), weil er von ihm die einzigen Worte hört, die seinem Dasein
Lebensfülle offenbaren und einflößen; es sind die »Worte des ewigen Lebens»,
die Petrus in seinem Glaubensbekenntnis anerkennt: »Herr, zu wem sollen wir
gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens. Wir sind zum Glauben gekommen und haben
erkannt: Du bist der Heilige Gottes« (Joh 6, 68-69). Worin dann das
ewige Leben besteht, erklärt Jesus selbst, wenn er sich im Hohenpriesterlichen
Gebet an den Vater wendet: »Das ist das ewige Leben: dich, den einzigen wahren
Gott zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast« (Joh 17, 3).
Gott und seinen
Sohn erkennen heißt, das Geheimnis der Liebesgemeinschaft des Vaters, des
Sohnes und des Heiligen Geistes im eigenen Leben anzunehmen, das sich schon
jetzt in der Teilhabe am göttlichen Leben dem ewigen Leben öffnet.
38.
Das ewige Leben ist also das Leben Gottes selbst und zugleich das Leben der
Kinder Gottes. Immer neues Staunen und grenzenlose Dankbarkeit müssen den
Gläubigen angesichts dieser unerwarteten und unaussprechlichen Wahrheit
erfassen, die uns von Gott in Christus zuteil wird. Der Gläubige macht sich die
Worte des Apostels Johannes zu eigen: »Wie groß die Liebe ist, die der Vater
uns geschenkt hat: wir heißen Kinder Gottes, und wir sind es... Liebe Brüder,
jetzt sind wir Kinder Gottes. Aber was wir sein werden, ist noch nicht offenbar
geworden. Wir wissen, daß wir ihm ähnlich sein werden, wenn er offenbar wird;
denn wir werden ihn sehen, wie er ist« (1 Joh 3, 1-2).
So erreicht
die christliche Wahrheit über das Leben ihren Höhepunkt. Die Würde dieses
Lebens hängt nicht nur von seinem Ursprung, von seiner Herkunft von Gott ab,
sondern auch von seinem Endziel, von seiner Bestimmung als Gemeinschaft mit
Gott im Erkennen und in der Liebe zu ihm. Im Lichte dieser Wahrheit präzisiert
und vervollständigt der hl. Irenäus seine Lobpreisung des Menschen:
»Herrlichkeit Gottes« ist »der lebendige Mensch», aber »das Leben des Menschen
besteht in der Schau Gottes«. 27
Daraus
erwachsen unmittelbare Konsequenzen für das menschliche Leben in seiner irdischen
Situation, in dem allerdings bereits das ewige Leben keimt und heranwächst.
Wenn der Mensch instinktiv das Leben liebt, weil es ein Gut ist, so findet
diese Liebe weitere Motivierung und Kraft, neue Fülle und Tiefe in den
göttlichen Dimensionen dieses Gutes. So gesehen beschränkt sich die Liebe, die
jeder Mensch zum Leben hat, nicht auf die einfache Suche eines Raumes der Selbstäußerung
und der Beziehung zu den anderen, sondern sie entwickelt sich aus dem freudigen
Bewußtsein, die eigene Existenz zu dem »Ort« der Offenbarwerdung Gottes sowie
der Begegnung und der Gemeinschaft mit ihm machen zu können. Das Leben, das
Jesus uns schenkt, entwertet nicht unser zeitliches Dasein, sondern nimmt es an
und führt es seiner letzten Bestimmung zu: »Ich bin die Auferstehung und das
Leben...; jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben« (Joh
11, 25. 26).
|
»Für das
Leben des Menschen fordere ich Rechenschaft von jedem seiner Brüder« (Gen
9, 5): Achtung und Liebe für das Leben aller
39.
Das Leben des Menschen kommt aus Gott, es ist sein Geschenk, sein Abbild und
Ebenbild, Teilhabe an seinem Lebensatem. Daher ist Gott der einzige Herr
über dieses Leben: der Mensch kann nicht darüber verfügen. Gott selbst
bekräftigt dies gegenüber Noach nach der Sintflut: »Für das Leben des Menschen
fordere ich Rechenschaft von jedem seiner Brüder« (Gen 9, 5). Und der
biblische Text ist darauf bedacht zu unterstreichen, daß die Heiligkeit des
Lebens in Gott und in seinem Schöpfungswerk begründet ist: »Denn als Abbild
Gottes hat er den Menschen gemacht« (Gen 9, 6).
Leben und Tod
des Menschen liegen also in den Händen Gottes, in seiner Macht: »In seiner Hand
ruht die Seele allen Lebens und jeden Menschenleibes Geist«, ruft Ijob aus (12,
10). »Der Herr macht tot und lebendig, er führt zum Totenreich hinab und führt
auch herauf« (1 Sam 2, 6). Er allein kann sagen: »Ich bin es, der tötet
und der lebendig macht« (Dtn 32, 39).
Aber diese
Macht übt Gott nicht als bedrohliche Willkür aus, sondern als liebevolle
Umsicht und Sorge gegenüber seinen Geschöpfen. Wenn es wahr ist,
daß das
Leben des Menschen in Gottes Händen ruht, so ist es ebenso wahr, daß es
liebevolle Hände sind wie die einer Mutter, die ihr Kind annimmt, nährt und
sich um es sorgt: »Ich lieb meine Seele ruhig werden und still; wie ein kleines
Kind bei der Mutter ist meine Seele still in dir« (Ps 131 1, 2; vgl. Jes
49, 15; 66, 12-13; Hos 11, 4). So sieht Israel im Geschehen der
Völker und im Schicksal der einzelnen nicht das Ergebnis einer bloßen
Zufälligkeit oder eines blinden Schicksals, sondern das Ergebnis eines Planes
der Liebe, in den Gott sämtliche Lebensmöglichkeiten aufnimmt und den aus der
Sünde entstehenden Kräften des Todes entgegenstellt: »Denn Gott hat den Tod
nicht gemacht und hat keine Freude am Untergang der Lebenden. Zum Dasein hat er
alles geschaffen« (Weish 1, 13-14).
40.
Aus der Heiligkeit des Lebens erwächst seine Unantastbarkeit, die von Anfang
an dem Herzen des Menschen, seinem Gewissen, eingeschrieben ist. Die
Frage »Was hast du getan?« (Gen 4, 10), mit der sich Gott an Kain
wendet, nachdem dieser seinen Bruder Abel getötet hat, gibt die Erfahrung jedes
Menschen wieder: in der Tiefe seines Gewissens wird er immer an die
Unantastbarkeit des Lebens — seines Lebens und jenes der anderen — erinnert,
als Realität, die nicht ihm gehört, weil sie Eigentum und Geschenk Gottes, des
Schöpfers und Vaters, ist.
Das auf die
Unantastbarkeit des menschlichen Lebens bezügliche Gebot steht im Zentrum
der »zehn Worte« im Bund vom Sinai (vgl.Ex 34, 28). Es verbietet
zuallererst den Mord: »Du sollst nicht morden« (Ex 20, 13); »Wer
unschuldig und im Recht ist, den bring nicht um sein Leben« (Ex 23, 7);
aber es verbietet auch — wie in der weiteren Gesetzgebung Israels genau
bestimmt wird — jede dem anderen zugefügte Verletzung (vgl. Ex 21,
12-27). Sicher muß man zugeben, daß im Alten Testament diese Sensibilität für
den Wert des Lebens, selbst wenn sie bereits so hervorgehoben wird, noch nicht
den Scharfsinn der Bergpredigt erreicht, wie aus manchen Aspekten der damals
geltenden Gesetzgebung hervorgeht, die schwere Körperstrafen und sogar die
Todesstrafe vorsah. Aber die Gesamtbotschaft, die das Neue Testa- ment zur
Vervollkommnung bringen wird, ist ein mächtiger Appell zur Achtung der
Unantastbarkeit des physischen Lebens und der persönlichen Integrität und
erreicht ihren Höhepunkt in dem positiven Gebot, das dazu verpflichtet, seinen
Nächsten zu lieben wie sich selbst: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich
selbst« (Lev 19, 18).
41.
Das Gebot »du sollst nicht töten», das in jenem positiven Gebot von der
Nächstenliebe eingeschlossen und vertieft ist, wirdvom Herrn Jesus in seiner
ganzen Gültigkeit bekräftigt. Dem reichen Jüngling, der ihn fragt:
»Meister, was muß ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?», antwortet
er: »Wenn du das Leben erlangen willst, halte die Gebote!« (Mt 19,
16.17). Und als erstes nennt er das Gebot »du sollst nicht töten« (Mt 19,
18). In der Bergpredigt verlangt Jesus von den Jüngern auch im Bereich der
Achtung vor dem Leben eine höhere Gerechtigkeit als die der
Schriftgelehrten und Pharisäer: »Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt
worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber jemand tötet, soll dem Gericht
verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt,
soll dem Gericht verfallen sein« (Mt 5, 21-22).
Durch sein Wort
und sein Tun verdeutlicht Jesus die positiven Forderungen des Gebots von der
Unantastbarkeit des Lebens noch weiter. Sie waren bereits im Alten Testament
vorhanden, wo es der Gesetzgebung darum ging, Daseinsbeziehungen schwachen und
bedrohten Lebens zu gewährleisten und es zu schützen: den Fremden, die Witwe,
den Waisen, den Kranken, überhaupt den Armen, ja selbst das Leben vor der
Geburt (vgl. Ex 21, 22; 22, 20-26). Mit Jesus erlangen diese positiven
Forderungen neue Kraft und neuen Schwung und werden in ihrer ganzen Weite und
Tiefe offenbar: sie reichen von der Sorge um das Leben des Bruders (des
Familienangehörigen, des Angehörigen desselben Volkes, des Ausländers, der im
Land Israel wohnt) zur Sorge um den Fremden bis hin zur Liebe des Feindes.
Der Fremde ist
nicht länger ein Fremder für den, der für einen anderen Menschen in Not zum Nächsten
werden muß, bis zu dem Punkt, daß er die Verantwortung für sein Leben
übernimmt, wie das Gleichnis vom barmherzigen Samariter sehr anschaulich und
einprägsam schildert (vgl. Lk 10, 25-37). Auch der Feind ist für den
kein Feind mehr, der ihn zu lieben (vgl. Mt 5, 38-48; Lk 6,
27-35) und dem er »Gutes zu tun« verpflichtet ist (vgl. Lk 6, 27. 33.
35), indem er auf die Nöte seines Lebens rasch und in der Gesinnung der
Unentgeltlichkeit eingeht (vgl. Lk 6, 34-35). Höhepunkt dieser Liebe ist
das Gebet für den Feind, durch das man sich mit der sorgenden Liebe Gottes in
Einklang bringt: »Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die
euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er läßt
seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er läßt regnen über Gerechte und
Ungerechte« (Mt 5, 44-45; vgl. Lk 6, 28. 35).
Gottes Gebot
zum Schutz des Lebens des Menschen hat also seinen tiefsten Aspekt in der Forderung
von Achtung und Liebe gegenüber jedem Menschen und seinem Leben. Mit dieser
Lehre wendet sich der Apostel Paulus an die Christen von Rom, indem er dem Wort
Jesu (vgl. Mt 19, 17-18) beistimmt: »Denn die Gebote: Du sollst nicht
die Ehe brechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst
nicht begehren!, und alle anderen Gebote sind in dem einen Satz zusammengefaßt:
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Die Liebe tut dem
Nächsten nichts Böses. Also ist die Liebe die Erfüllung des Gesetzes« (Röm 13,
9-10).
|
»Seid
fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch« (Gen
1, 28): die Verantwortung des Menschen gegenüber dem Leben
42.
Das Leben zu verteidigen und zu fördern, in Ehren zu halten und zu lieben ist
eine Aufgabe, die Gott jedem Menschen aufträgt, wenn er ihn als sein
pulsierendes Abbild zur Teilhabe an seiner Herrschaft über die Welt beruft:
»Gott segnete sie und sprach: "Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert
die Erde, unterwerft sie euch, und herrscht über die Fische des Meeres, über
die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen"« (Gen
1, 28).
Der biblische
Text legt die Weite und Tiefe der Herrschaft an den Tag, die Gott dem Menschen
schenkt. Es geht zunächst um die Herrschaft über die Erde und über alle
Tiere, wie das Buch der Weisheit erwähnt: »Gott der Väter und Herr des
Erbarmens... den Menschen hast du durch deine Weisheit erschaffen, damit er
über deine Geschöpfe herrscht. Er soll die Welt in Heiligkeit und Gerechtigkeit
leiten« (9, 1. 2-3). Auch der Psalmist preist die Herrschaft des Menschen als
Zeichen der vom Schöpfer empfangenen Herrlichkeit und Ehre: »Du hast ihn als
Herrscher eingesetzt über das Werk deiner Hände, hast ihm alles zu Füßen
gelegt: All die Schafe, Ziegen und Rinder und auch die wilden Tiere, die Vögel
des Himmels und die Fische im Meer, alles, was auf den Pfaden der Meere
dahinzieht« (Ps 8. 7-9).
Der Mensch, der
berufen wurde, den Garten der Welt zu bebauen und zu hüten (vgl. Gen 2,
15), hat eine besondere Verantwortung für die Lebensumwelt, das heißt
für die Schöpfung, die Gott in den Dienst seiner personalen Würde, seines
Lebens gestellt hat: Verantwortung nicht nur in bezug auf die gegenwärtige
Menschheit, sondern auch auf die künftigen Generationen. Die ökologische
Frage — von der Bewahrung des natürlichen Lebensraumes der verschiedenen
Tierarten und der vielfältigen Lebensformen bis zur »Humanökologie« im
eigentlichen Sinne des Wortes 28 — findet in dem Bibeltext eine
einleuchtende und wirksame ethische Anleitung für eine Lösung, die das
große
Gut des Lebens, jeden Lebens, achtet. In Wirklichkeit ist »die vom Schöpfer dem
Menschen anvertraute Herrschaft keine absolute Macht noch kann man von der
Freiheit sprechen, sie zu 'gebrauchen oder mißbrauchen' oder über die Dinge zu
verfügen, wie es beliebt. Die Beschränkung, die der Schöpfer selber von Anfang
an auferlegt hat, ist symbolisch in dem Verbot enthalten, 'von der Frucht des
Baumes zu essen' (vgl. Gen 2, 16-17); sie zeigt mit genügender Klarheit,
daß wir im Hinblick auf die sichtbare Natur nicht nur biologischen, sondern
auch moralischen Gesetzen unterworfen sind, die man nicht ungestraft übertreten
darf«. 29
43.
Eine gewisse Teilhabe des Menschen an der Herrschaft Gottes offenbart sich auch
in der besonderen Verantwortung, die ihm gegenüber dem eigentlich
menschlichen Leben anvertraut wird. Eine Verantwortung, die ihren Höhepunkt
in der Weitergabe des Lebens durch die Zeugung seitens des Mannes und
der Frau in der Ehe erreicht, wie das II. Vatikanische Konzil ausführt:
»Derselbe Gott, der gesagt hat: 'Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei' (Gen
2, 18), und der 'den Menschen von Anfang an als Mann und Frau schuf' (Mt
19, 4), wollte ihm eine besondere Teilnahme an seinem schöpferischen Wirken
verleihen, segnete darum Mann und Frau und sprach: 'Wachset und vermehrt euch'
(Gen 1, 28)«. 30
Wenn das Konzil
von »einer besonderen Teilnahme« von Mann und Frau am »schöpferischen Wirken«
Gottes spricht, will es hervorheben, daß die Zeugung des Kindes ein zutiefst
menschliches und in hohem Maße religiöses Ereignis ist, weil sie die Ehegatten,
die »ein Fleisch« werden (Gen 2, 24), und zugleich Gott selber hineinzieht,
der gegenwärtig ist. Wenn, wie ich in meinem Brief an die Familien geschrieben
habe, »aus der ehelichen Vereinigung der beiden ein neuer Mensch entsteht, so
bringt er ein besonderes Abbild Gottes, eine besondere Ähnlichkeit mit Gott
selber in die Welt: in die Biologie der Zeugung ist die Genealogie der
Person eingeschrieben. Wenn wir sagen, die Ehegatten seien als Eltern bei
der Empfängnis und Zeugung eines neuen Menschen Mitarbeiter des Schöpfergottes,
beziehen wir uns nicht einfach auf die Gesetze der Biologie; wir wollen
vielmehr hervorheben, daß in der menschlichen Elternschaft Gott selber in
einer anderen Weise gegenwärtig ist als bei jeder anderen Zeugung »auf
Erden«. Denn nur von Gott kann jenes »Abbild und jene Ähnlichkeit« stammen, die
dem Menschen wesenseigen ist, wie es bei der Schöpfung geschehen ist. Die
Zeugung ist die Fortführung der Schöpfung«. 31
Das lehrt in
direkter und beredter Sprache der Bibeltext, wenn er vom Freudenschrei der
ersten Frau, der »Mutter aller Lebendigen« (Gen 3, 20), berichtet. Eva,
die sich des Eingreifens Gottes bewußt ist, ruft aus: »Ich habe einen Mann vom
Herrn erworben« (Gen 4, 1). Durch die Weitergabe des Lebens von den
Eltern an das Kind wird also bei der Zeugung dank der Erschaffung der unsterblichen
Seele 32 das Abbild und Gleichnis Gottes selbst übertragen. In diesem
Sinne heißt es zu Beginn der »Liste der Geschlechterfolge nach Adam«: »Am Tag,
da Gott den Menschen erschuf, machte er ihn Gott ähnlich. Als Mann und Frau
erschuf er sie, er segnete sie und nannte sie Mensch an dem Tag, da sie
erschaffen wurden. Adam war hundertdreißig Jahre alt, da zeugte er einen Sohn,
der ihm ähnlich war, wie sein Abbild, und nannte ihn Set« (Gen 5, 1-3).
Auf dieser ihrer Rolle von Mitarbeitern Gottes, der sein Bild auf das neue
Geschöpf überträgt, beruht gerade die Größe der Eheleute, die bereit sind
»zur Mitwirkung mit der Liebe des Schöpfers und Erlösers, der durch sie seine
eigene Familie immer mehr vergrößert und bereichert«. 33 In diesem
Licht pries Bischof Amphilochios die »heilige, erwählte und über alle irdischen
Gaben erhabene Ehe« als »Erzeuger der Menschheit, Urheber von Ebenbildern
Gottes«. 34
So werden Mann
und Frau nach Vereinigung in der Ehe zu Teilhabern am göttlichen Werk: durch
den Zeugungsakt wird Gottes Geschenk angenommen, und ein neues Leben öffnet
sich der Zukunft.
Aber über den
spezifischen Auftrag der Eltern hinaus betrifft die Aufgabe, das Leben
anzunehmen und ihm zu dienen, alle und muß sich vor allem gegenüber dem im
Zustand größter Schwachheit befindlichen Leben erweisen. Christus selber
erinnert uns daran, wenn er verlangt, daß man ihn liebt und ihm in den von
jeder Art von Leid heimgesuchten Brüdern dient: Hungernden, Dürstenden,
Fremden, Nackten, Kranken, Gefangenen... Was einem jeden von ihnen getan wird,
wird Christus selbst getan (vgl. Mt 25, 31-46).
|
»Du hast
mein Inneres geschaffen« (Ps 139 2, 13): die Würde des
ungeborenen Kindes
44.
Das menschliche Leben befindet sich in einer Situation großer Gefährdung, wenn
es in die Welt eintritt und wenn es das irdische Dasein verläßt, um in den
Hafen der Ewigkeit einzugehen. Die Aufforderungen zu Sorge und Achtung vor
allem gegenüber dem von Krankheit und Alter gefährdeten Sein sind im Wort
Gottes sehr wohl vorhanden. Wenn es an direkten und ausdrücklichen
Aufforderungen zum Schutz des menschlichen Lebens in seinen Anfängen,
insbesondere des noch ungeborenen wie auch des zu Ende gehenden Lebens fehlt,
so läßt sich das leicht daraus erklären, daß schon allein die Möglichkeit, das
Leben in diesen Situationen zu verletzen, anzugreifen oder gar zu leugnen, der
religiösen und kulturellen Sicht des Gottesvolkes fremd ist.
Im Alten
Testament wird die Unfruchtbarkeit als ein Fluch gefürchtet, während die
zahlreiche Nachkommenschaft als ein Segen empfunden wird: »Kinder sind eine
Gabe des Herrn, die Frucht des Leibes ist sein Geschenk« (Ps 127 3, 3;
vgl. Ps 128 4, 3-4). Eine Rolle spielt bei dieser Überzeugung auch das
Bewußtsein Israels, das Volk des Bundes und berufen zu sein, sich gemäß der an
Abraham ergangenen Verheissung zu vermehren: »Sieh doch zum Himmel hinauf,
und zähl die Sterne, wenn du sie zählen kannst... So zahlreich werden deine
Nachkommen sein« (Gen 15, 5). Wirksam ist aber vor allem die Gewißheit,
daß das von den Eltern weitergegebene Leben seinen Ursprung in Gott hat, wie
die vielen Bibelstellen bezeugen, die voll Achtung und Liebe von der
Empfängnis, von der Formung des Lebens im Mutterleib, von der Geburt und von
der engen Verbindung sprechen, die zwischen dem Anfang des Seins und dem Tun
Gottes, des Schöpfers, besteht.
»Noch ehe ich
dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem
Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt« (Jer 1, 5): die
Existenz jedes einzelnen Menschen ist von ihren Anfängen an im Plan Gottes
vorgegeben. Ijob in seinem tiefen Schmerz hält inne, um eine Betrachtung
anzustellen über das Wirken Gottes bei der wunderbaren Formung seines Leibes im
Schoß der Mutter; daraus schließt er den Grund der Zuversicht und äußert die
Gewißheit, daß es einen göttlichen Plan für sein Leben gebe: »Deine Hände haben
mich gebildet, mich gemacht; dann hast du dich umgedreht und mich vernichtet.
Denk daran, daß du wie Ton mich geschaffen hast. Zum Staub willst du mich
zurückkehren lassen. Hast du mich nicht ausgegossen wie Milch, wie Käse mich
gerinnen lassen? Mit Haut und Fleisch hast du mich umkleidet, mit Knochen und
Sehnen mich durchflochten. Leben und Huld hast du mir verliehen, deine Obhut
schützte meinen Geist« (10, 8-12). Hinweise anbetenden Staunens über Gottes
Eingreifen bei der Bildung des Lebens im Mutterleib finden sich auch in den
Psalmen. 35
Wie sollte man
annehmen, daß auch nur ein Augenblick dieses wundervollen Prozesses des
Hervorquellens des Lebens dem weisen und liebevollen Wirken des Schöpfers
entzogen sein und der Willkür des Menschen überlassen bleiben könnte? Die
Mutter der sieben Brüder ist jedenfalls nicht dieser Meinung: sie bekennt ihren
Glauben an Gott, Anfang und Gewähr des Lebens von seiner Empfängnis an und
zugleich Grund der Hoffnung auf das neue Leben über den Tod hinaus: »Ich
weiß
nicht, wie ihr in meinem Leib entstanden seid, noch habe ich euch Atem und
Leben geschenkt; auch habe ich keinen von euch aus den Grundstoffen
zusammengefügt. Nein, der Schöpfer der Welt hat den werdenden Menschen geformt,
als er entstand; er kennt die Entstehung aller Dinge. Er gibt euch gnädig Atem
und Leben wieder, weil ihr jetzt um seiner Gesetze willen nicht auf euch
achtet« (2 Makk 7, 22-23).
45.
Die Offenbarung des Neuen Testamentes bestätigt die unbestrittene Anerkennung
des Wertes des Lebens von seinen Anfängen an. Die Lobpreisung der
Fruchtbarkeit und die beflissene Erwartung des Lebens sind aus den Worten
herauszuhören, mit denen Elisabet ihrer Freude über ihre Schwangerschaft
Ausdruck verleiht: »Der Herr... hat gnädig auf mich geschaut und mich von der
Schande befreit« (Lk 1, 25). Aber noch deutlicher verherrlicht wird der
Wert der Person von ihrer Empfängnis an in der Begegnung zwischen der Jungfrau
Maria und Elisabet und zwischen den beiden Kindern, die sie im Schoß tragen. Es
sind gerade die Kinder, die den Anbruch des messianischen Zeitalters
offenbaren: in ihrer Begegnung beginnt die erlösende Kraft der Anwesenheit des
Gottessohnes unter den Menschen wirksam zu werden. »Sogleich — schreibt der hl.
Ambrosius — machen sich die Segnungen des Kommens Marias und der Gegenwart des
Herrn bemerkbar... Elisabet hörte als erste die Stimme, aber Johannes nahm als
erster die Gnade wahr; sie hörte nach den Gesetzen der Natur, er hörte kraft
des Geheimnisses; sie bemerkte die Ankunft Marias, er die des Herrn: die Frau
die Ankunft der Frau, das Kind die Ankunft des Kindes. Die Frauen sprechen von
den empfangenen Gnaden, die Kinder im Schoß der Mütter verwirklichen die Gnade
und das Geheimnis der Barmherzigkeit zum Nutzen der Mütter selber: und diese
sprechen auf Grund eines zweifachen Wunders unter der Inspiration der Kinder,
die sie tragen, Prophezeiungen aus. Von dem Sohn heißt es, daß er sich freute,
von der Mutter, daß sie vom Heiligen Geist erfüllt wurde. Nicht die Mutter
wurde zuerst vom Heiligen Geist erfüllt, sondern der vom Heiligen Geist
erfüllte Sohn war es, der auch die Mutter mit ihm erfüllte«. 36
|
»Voll
Vertrauen war ich, auch wenn ich sagte: Ich bin so tief gebeugt« (Ps 116
1, 10): das Leben im Alter und im Leiden
46.
Auch was die letzten Augenblicke der Existenz betrifft, wäre es anachronistisch,
aus der biblischen Offenbarung einen ausdrücklichen Bezug auf die aktuelle
Problematik der Achtung der alten und kranken Menschen und eine ausdrückliche
Verdammung von Versuchen zu erwarten, das Ende gewaltsam vorwegzunehmen: denn
wir befinden uns hier in einem kulturellen und religiösen Umfeld, das einer
derartigen Versuchung nicht ausgesetzt ist, sondern, was den alten Menschen
betrifft, in seiner Weisheit und Erfahrung einen unersetzlichen Reichtum für
die Familie und die Gesellschaft erkennt.
Das Alter
wird von Ansehen gekennzeichnet und von Achtung umgeben (vgl. 2 Makk 6,
23). Und der Gerechte bittet nicht darum, vom Alter und seiner Last verschont
zu bleiben; er betet im Gegenteil so: »Herr, mein Gott, du bist ja meine
Zuversicht, meine Hoffnung von Jugend auf... Auch wenn ich alt und grau bin, o
Gott, verlaß mich nicht, damit ich von deinem machtvollen Arm der Nachwelt
künde, den kommenden Geschlechtern von deiner Stärke« (Ps 71 2, 5. 18).
Das Ideal der messianischen Zeit wird als das hingestellt, in dem »es keinen...
Greis 3, der nicht das volle Alter erreicht« (Jes 65, 20).
Aber wie soll
man im Alter dem unvermeidlichen Verfall des Lebens begegnen? Wie soll man
sich dem Tod gegenüber verhalten? Der Gläubige weiß, daß sein Leben in Gottes
Händen ruht: »Herr, du hältst mein Los in deinen Händen« (vgl. Ps 16
4, 5), und nimmt auch das Sterben von ihm an: »Er (der Tod) ist das Los, das
allen Sterblichen von Gott bestimmt ist. Was sträubst du dich gegen das Gesetz
des Höchsten?« (Sir 41, 4). Wie der Mensch nicht Herr über das Leben
ist, so auch nicht über den Tod; sowohl in seinem Leben wie in seinem Tod
muß
er sich ganz dem »Willen des Höchsten«, seinem Plan der Liebe anvertrauen.
Auch zum
Zeitpunkt der Krankheit ist der Mensch aufgerufen, dasselbe Vertrauen
zum Herrn zu leben und seine grundsätzliche Zuversicht in ihn zu erneuern, der
»alle Gebrechen heilt« (vgl. Ps 103 5, 3). Selbst dann, wenn sich vor
dem Menschen jede Aussicht auf Gesundheit zu verschließen scheint — so daß er
sich veranlaßt sieht auszurufen: »Meine Tage schwinden dahin wie Schatten, ich
verdorre wie Gras« (Ps 102 6, 12) —, ist der Gläubige von dem
unerschütterlichen Glauben an die lebenspendende Macht Gottes erfüllt. Die
Krankheit treibt ihn nicht zur Verzweiflung und auf die Suche nach dem Tod,
sondern zu dem hoffnungsvollen Ausruf: »Voll Vertrauen war ich, auch wenn ich
sagte: Ich bin tief gebeugt« (Ps 116 7, 10); »Herr, mein Gott, ich habe
zu dir geschrien, und du hast mich geheilt. Herr, du hast mich herausgeholt aus
dem Reich des Todes, aus der Schar der Todgeweihten mich zum Leben gerufen« (Ps
30 8, 3-4).
47.
Die Sendung Jesu zeigt mit den zahlreichen von ihm vollbrachten
Krankenheilungen an, wie sehr Gott auch das physische Leben des Menschen am
Herzen liegt. »Als Leib- und Seelenarzt« 37 wird Jesus vom Vater
gesandt, den Armen die Frohe Botschaft zu verkünden und alle zu heilen, deren
Herz zerbrochen ist (vgl. Lk 4, 18; Jes 61, 1). Als er dann seine
Jünger in die Welt sendet, erteilt er ihnen einen Auftrag, in dem die Heilung
der Kranken mit der Verkündigung des Evangeliums einhergehen soll: »Geht und
verkündet: Das Himmelreich ist nahe. Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht
Aussätzige rein, treibt Dämonen aus!« (Mt 10, 7-8; vgl. Mk 6, 13;
16, 18).
Sicher ist für
den Gläubigen das physische Leben in seinem irdischen Zustand kein
Absolutum, so daß von ihm gefordert werden kann, es um eines höheren Gutes
willen aufzugeben; denn, wie Jesus sagt, »wer sein Leben retten will, wird es
verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen
verliert, wird es retten« (Mk 8, 35). Dazu gibt es im Neuen Testa- ment
eine Reihe von Zeugnissen. Jesus zögert nicht, sich selbst zu opfern und macht
freiwillig sein Leben zu einer Opfergabe an den Vater (vgl. Joh 10, 17)
und an die Seinen (vgl. Joh 10, 15). Auch der Tod Johannes des Täufers,
des Vorläufers des Erlösers, bezeugt, daß das irdische Leben nicht das absolute
Gut ist: wichtiger ist die Treue zum Wort des Herrn, auch wenn sie das Leben
aufs Spiel setzen kann (vgl. Mk 6, 17-29). Und Stephanus, während er als
treuer Zeuge der Auferstehung des Herrn das irdische Leben verliert, folgt dem
Beispiel des Meisters und geht mit den Worten der Vergebung auf die zu, die ihn
steinigen (vgl. Apg 7, 59-60), womit er den Weg für die zahllose Schar
von Märtyrern öffnet, die von der Kirche von Anfang an verehrt werden.
Kein Mensch
darf jedoch willkürlich über Leben oder Tod entscheiden; denn absoluter Herr
über eine solche Entscheidung ist allein der Schöpfer, der, »in dem wir leben,
uns bewegen und sind« (Apg 17, 28).
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»Alle,
die an ihm festhalten, finden das Leben« (Bar 4, 1): vom Gesetz
des Sinai zur Spendung des Geistes
48.
Das Leben trägt unauslöschlich eine ihm wesenseigene Wahrheit in sich.
Der Mensch muß sich, wenn er das Geschenk Gottes annimmt, bemühen, das Leben
in dieser Wahrheit zu erhalten, die für jenes wesentlich ist. Die Abwendung
von ihr ist gleichbedeutend mit der eigenen Verurteilung zu Bedeutungslosigkeit
und Unglück, was zur Folge hat, daß man auch zu einer Bedrohung für das Leben
anderer werden kann, sobald die Schutzdämme niedergerissen sind, die in jeder
Situation die Achtung und Verteidigung des Lebens garantieren.
Die dem
Leben eigene Wahrheit wird vom Gebot Gottes geoffenbart. Das Wort des Herrn gibt
konkret an, welcher Richtung das Leben folgen muß, um seine Wahrheit
respektieren und seine Würde schützen zu können. Nicht nur das spezifische
Gebot »du sollst nicht töten« (Ex 20, 13; Dtn 5, 17)
gewährleistet den Schutz des Lebens: das ganze Gesetz des Herrn steht im
Dienst dieses Schutzes, weil es jene Wahrheit offenbart, in der das Leben seine
volle Bedeutung findet.
Es verwundert
daher nicht, daß der Bund Gottes mit seinem Volk so stark an die Perspektive
des Lebens, auch in seiner physischen Dimension, gebunden ist. Das Gebot wird
in ihm als Weg des Lebens angeboten: »Hiermit lege ich dir heute das
Leben und das Glück, den Tod und das Unglück vor. Wenn du auf die Gebote des
Herrn, deines Gottes, auf die ich dich heute verpflichte, hörst, indem du den
Herrn, deinen Gott, liebst, auf seinen Wegen gehst und auf seine Gebote,
Gesetze und Rechtsvorschriften achtest, dann wirst du leben und zahlreich
werden, und der Herr, dein Gott, wird dich in dem Land, in das du hineinziehst,
um es in Besitz zu nehmen, segnen« (Dtn 30, 15-16). Hier geht es nicht
nur um das Land Kanaan und um die Existenz des Volkes Israel, sondern um die
heutige und zukünftige Welt und um die Existenz der ganzen Menschheit. Denn es
ist absolut unmöglich, daß das Leben voll glaubwürdig bleibt, wenn es sich vom
Guten entfernt; und das Gute wiederum ist wesentlich an die Gebote des Herrn
gebunden, das heißt an das »lebenspendende Gesetz« (Sir 17, 11). Das
Gute, das erfüllt werden soll, kommt nicht wie eine beschwerende Last zum Leben
hinzu, weil der Grund des Lebens selbst ja das Gute ist und das Leben nur durch
die Erfüllung des Guten aufgebaut wird.
Das Gesetz
in seiner Gesamtheit schützt also voll das Leben des Menschen. Daraus erklärt
sich, wie schwierig es ist, sich getreu an das Gebot »du sollst nicht töten« zu
halten, wenn die anderen »Worte des Lebens« (Apg 7, 38), mit denen
dieses Gebot zusammenhängt, nicht eingehalten werden. Außerhalb dieser
Sichtweise wird das Gebot schließlich zu einer bloß äußerlichen Verpflichtung,
deren Grenzen sehr rasch sichtbar werden und für die man nach Abschwächungen
oder Ausnahmen suchen wird. Nur wenn man sich der Fülle der Wahrheit über Gott,
über den Menschen und über die Geschichte öffnet, erstrahlt das Wort »du sollst
nicht töten« wieder als Gut für den Menschen in allen seinen Dimensionen und
Beziehungen. Aus dieser Sicht können wir die Wahrheitsfülle begreifen, die in
der Stelle des Buches Deuteronomium enthalten ist, die Jesus in der Antwort auf
die erste Versuchung aufgreift: »Der Mensch lebt nicht nur von Brot, sondern...
von allem, was der Mund des Herrn spricht« (8, 3; vgl. Mt 4, 4).
Wenn der Mensch
das Wort des Herrn hört, kann er würdig und gerecht leben; wenn der Mensch das
Gesetz Gottes befolgt, kann er Früchte bringen an Leben und Glück: »Alle, die
an ihm festhalten, finden das Leben; doch alle, die es verlassen, verfallen dem
Tod« (Bar 4, 1).
49.
Die Geschichte Israels zeigt, wie schwierig es ist, die Treue zum Gesetz vom
Leben aufrechtzuerhalten, das Gott den Menschen ins Herz geschrieben und
dem Bundesvolk am Berg Sinai anvertraut hat. Angesichts der Suche nach
alternativen Lebensprojekten zum Plan Gottes weisen insbesondere die Propheten
mit Nachdruck darauf hin, daß allein der Herr die authentische Quelle des
Lebens ist. So schreibt Jeremia: »Mein Volk hat doppeltes Unrecht verübt: Mich
hat es verlassen, den Quell des lebendigen Wassers, um sich Zisternen zu
graben, Zisternen mit Rissen, die das Wasser nicht halten« (2, 13). Die
Propheten weisen mit anklagendem Finger auf alle, die das Leben mißachten und
die Rechte der Menschen verletzen: »Sie treten die Kleinen in den Staub« (Am 2,
7); »Mit dem Blut Unschuldiger haben sie diesen Ort angefüllt« (Jer 19,
4). Und unter ihnen prangert der Prophet Ezechiel wiederholt die Stadt
Jerusalem an und nennt sie »die Stadt voll Blutschuld« (22, 2; 24, 6.9), die
»Stadt, die in ihrer Mitte Blut vergießt« (22, 3).
Aber während
die Propheten die Angriffe auf das Leben anzeigen, kümmern sie sich vor allem
darum, die Erwartung eines neuen Lebensprinzips anzuregen, das in der
Lage ist, eine erneuerte Beziehung zu Gott und zu den Schwestern und Brüdern zu
begründen. So eröffnen sie noch unbekannte und außerordentliche Möglichkeiten
für das Verständnis und die Verwirklichung aller im Evangelium vom Leben enthaltenen
Forderungen. Das wird einzig und allein dank der Gabe Gottes möglich sein, die
reinigt und erneuert: »Ich gieße reines Wasser über euch aus, dann werdet ihr
rein. Ich reinige euch von aller Unreinheit und von allen euren Götzen. Ich
schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch« (Ez 36,
25-26; vgl. Jer 31, 31-34). Dank dieses »neuen Herzens« vermag man den
eigentlichen und tiefsten Sinn des Lebens zu begreifen und zu verwirklichen:
nämlich eine Gabe zu sein, die sich in der Hingabe erfüllt. Das ist die
lichtvolle Botschaft über den Wert des Lebens, die uns von der Gestalt des
Gottesknechtes zuteil wird: »Der Herr rettete den, der sein Leben als
Sühneopfer hingab. Er wird Nachkommen sehen und lange leben... Nachdem er
vieles ertrug, erblickt er das Licht« (Jes 53, 10. 11).
In der Person Jesu
von Nazaret erfüllt sich das Gesetz, und durch seinen Geist wird uns das neue
Herz geschenkt. Jesus hebt nämlich das Gesetz nicht auf, sondern bringt es zur
Erfüllung (vgl. Mt 5, 17): Gesetz und Propheten lassen sich in der
goldenen Regel von der gegenseitigen Liebe zusammenfassen (vgl. Mt 7,
12). In Ihm wird das Gesetz endgültig zum »Evangelium«, zur Frohbotschaft von
der Herrschaft Gottes über die Welt, die das ganze Dasein auf seine Wurzeln und
seine ursprünglichen Perspektiven zurückführt. Es ist das Neue Gesetz, »das
Gesetz des Geistes und des Lebens in Christus Jesus« (Röm 8, 2), dessen
grundlegender Ausdruck — in Nachahmung des Herrn, der sein Leben hingibt für
seine Freunde (vgl. Joh 15, 13) — die Selbsthingabe in der Liebe zu
den Schwestern und Brüdern ist: »Wir wissen, daß wir aus dem Tod in das
Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben« (1 Joh 3, 14).
Es ist das Gesetz der Freiheit, der Freude und der Seligkeit.
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»Sie
werden auf den blicken, den sie durchbohrt haben« (Joh 19, 37): am
Stamm des Kreuzes erfüllt sich das Evangelium vom Leben
50.
Zum Abschluß dieses Kapitels, in dem wir Betrachtungen zur christlichen
Botschaft über das Leben angestellt haben, möchte ich mit einem jeden von euch
innehalten, um uns in den zu versenken, den sie durchbohrt haben und der
alle an sich zieht (vgl. Joh 19, 37; 12, 32). Wenn wir »das Schauspiel«
der Kreuzigung (vgl. Lk 23, 48) betrachten, werden wir an diesem
glorreichen Stamm die Erfüllung und volle Offenbarung des ganzen Evangeliums
vom Leben entdecken können.
In den frühen
Nachmittagsstunden des Karfreitag, »brach eine Finsternis über das ganze Land
herein... Die Sonne verdunkelte sich. Der Vorhang im Tempel riß mitten entzwei«
(Lk 23, 44. 45). Das ist das Symbol einer gewaltigen kosmischen
Umwälzung und eines schrecklichen Kampfes zwischen den Mächten des Guten und
den Mächten des Bösen, zwischen Leben und Tod. Auch wir befinden uns heute
inmitten eines dramatischen Kampfes zwischen der »Kultur des Todes« und der
»Kultur des Lebens«. Aber von dieser Finsternis wird der Glanz des Kreuzes
nicht verdunkelt; ja, dieses hebt sich noch klarer und leuchtender ab und
offenbart sich als Mittelpunkt, Sinn und Vollendung der ganzen Geschichte und
jedes Menschenlebens.
Der an das
Kreuz genagelte Jesus wird erhöht. Er erlebt den Augenblick seiner größten
»Ohnmacht«, und sein Leben scheint völlig dem Hohn und Spott seiner Widersacher
und den Händen seiner Mörder preisgegeben zu sein: er wird verspottet,
verhöhnt, geschmäht (vgl. Mk 15, 24-36). Doch gerade angesichts all
dessen ruft der römische Hauptmann aus, als er »ihn auf diese Weise sterben
sah«: »Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn!« (Mk 15, 39). So wird
im Augenblick seiner äußersten Schwachheit die Identität des Gottessohnes
offenbar: am Kreuz offenbart sich seine Herrlichkeit!
Durch seinen
Tod erhellt Jesus den Sinn des Lebens und des Todes jedes Menschen. Vor seinem
Tod betet Jesus zum Vater und ruft ihn um Vergebung für seine Verfolger an
(vgl. Lk 23, 34), und dem Verbrecher, der ihn bittet, an ihn zu denken,
wenn er in sein Reich kommt, antwortet er: »Amen, das sage ich dir: Heute noch
wirst du mit mir im Paradies sein« (Lk 23, 43). Nach seinem Tod
»öffneten sich die Gräber, und die Leiber vieler Heiligen, die entschlafen
waren, wurden auferweckt« (Mt 27, 52). Das von Jesus gewirkte Heil ist
Geschenk des Lebens und der Auferstehung. Während seines Erdendaseins hatte
Jesus auch Heil geschenkt, indem er alle heilte und segnete (vgl. Apg 10,
38). Aber die Wunder, die Krankenheilungen und selbst die Auferweckungen waren
Zeichen für ein anderes Heil, das in der Vergebung der Sünden, das heißt in der
Befreiung des Menschen von der tiefsten Krankheit, und in seiner Erhebung zum
Leben Gottes selbst besteht.
Am Kreuz erneuert
und verwirklicht sich in seiner ganzen, endgültigen Vollendung das Wunder von
der von Mose in der Wüste erhöhten Schlange (vgl. Joh 3, 14-15; Num 21,
8-9). Auch heute begegnet jeder in seiner Existenz bedrohte Mensch, wenn er auf
den blickt, der durchbohrt wurde, der sicheren Hoffnung, Befreiung und Erlösung
zu finden.
51.
Aber da ist noch eine andere genaue Begebenheit, die meinen Blick auf sich
zieht und ein ergriffenes Nachdenken bei mir auslöst: »Als Jesus von dem Essig
genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! Und er neigte das Haupt und gab
seinen Geist auf« (Joh 19, 30). Und der römische Soldat »stieß mit der
Lanze in seine Seite, und sogleich floß Blut und Wasser heraus« (Joh 19,
34).
Nun hat alles
seine ganze Vollendung erlangt. Das »Aufgeben des Geistes« beschreibt den Tod
Jesu ähnlich dem jedes anderen Menschen, spielt aber, wie es scheint, auch auf
die »Spendung des Geistes« an, durch die er uns vom Tod befreit und uns einem
neuen Leben öffnet.
Es ist das
Leben Gottes selbst, das dem Menschen zuteil wird. Es ist das Leben, das durch
die Sakramente der Kirche — deren Symbole sind das aus der Seite Christi
geflossene Blut und Wasser — ständig den Kindern Gottes mitgeteilt wird, die so
das Volk des neuen Bundes bilden. Vom Kreuz, der Quelle des Lebens her
entsteht das »Volk des Lebens« und breitet sich aus.
Die Betrachtung
des Kreuzes führt uns so zu den tiefsten Wurzeln des ganzen Geschehens. Jesus,
der beim Eintritt in die Welt gesagt hatte: »Ja, Gott, ich komme, um deinen
Willen zu tun« (vgl. Hebr 10, 9), war in allem dem Vater gehorsam, und
da er »die Seinen, die in der Welt waren, liebte, erwies er ihnen seine Liebe
bis zur Vollendung« (Joh 13, 1), indem er sich ganz für sie hingab.
Er, der »nicht
gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben
hinzugeben als Lösegeld für viele« (Mk 10, 45), erreicht am Kreuz den
Gipfel der Liebe. »Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für
seine Freunde hingibt« (Joh 15, 13). Und er ist für uns gestorben, als
wir noch Sünder waren (vgl. Röm 5, 8).
Solcherart
verkündet er, daß das Leben seinen Mittelpunkt, seinen Sinn und seine Fülle
erreicht, wenn es verschenkt wird.
An diesem Punkt
wird die Meditation zu Lobpreis und Dank und spornt uns gleichzeitig an, Jesus
nachzuahmen und seinen Spuren zu folgen (vgl. 1 Petr 2, 21).
Auch wir sind
aufgerufen, unser Leben für die Brüder hinzugeben und so den Sinn und die
Bestimmung unseres Daseins in ihrer Wahrheitsfülle zu verwirklichen.
Wir können das
fertigbringen, weil Du, o Herr, uns das Beispiel gegeben und uns die Kraft
deines Geistes mitgeteilt hast. Wir können das fertigbringen, wenn wir jeden
Tag mit Dir und wie Du, dem Vater gehorsam sind und seinen Willen tun.
Laß uns daher
mit bereitem und selbstlosem Herzen jedes Wort hören, das aus dem Mund des
Herrn kommt: so werden wir lernen, nicht nur das Leben des Menschen »nicht zu
töten«, sondern es in Ehren zu halten, zu lieben und zu fördern.
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III. KAPITEL - DU SOLLST NICHT TÖTEN - DAS HEILIGE GESETZ
GOTTES
»Wenn du
das Leben erlangen willst, halte die Gebote« (Mt 19, 17): Evangelium
und Gebot
52.
»Es kam ein Mann zu Jesus und fragte: Meister, was muß ich Gutes tun, um das
ewige Leben zu gewinnen?« (Mt 19, 16). Jesus antwor- tete: »Wenn du das
Leben erlangen willst, halte die Gebote« (Mt 19, 17). Der Meister
spricht vom ewigen Leben, das heißt von der Teilhabe am Leben Gottes selbst.
Dieses Leben erlangt man durch die Einhaltung der Gebote des Herrn, also
einschließlich des Gebotes »du sollst nicht töten«. Genau dieses ist denn auch
das erste der Zehn Gebote, an das Jesus den jungen Mann erinnert, der ihn
fragt, welche Gebote er einhalten müsse: »Jesus antwortete: Du sollst nicht
töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht stehlen...« (Mt 19,
18).
Gottes Gebot
ist niemals getrennt von seiner Liebe: es ist stets ein Geschenk zu
Wachstum und Freude des Menschen. Als solches stellt es einen wesentlichen
Aspekt und ein unverzichtbares Element des Evangeliums dar, ja, es nimmt selbst
Gestalt an als »Evangelium«, das heißt als frohe Botschaft. Auch das Evangelium
vom Leben ist für den Menschen ein großes Gottesgeschenk und zugleich eine
verpflichtende Aufgabe. Es weckt beim freien Menschen Staunen und Dankbarkeit
und erfordert, mit lebendigem Verantwortungsbewußtsein angenommen, bewahrt und
erschlossen zu werden: Gott fordert vom Menschen, dem er das Leben schenkt,
daß er es liebt, achtet und fördert. Auf diese Weise wird das Geschenk
zum Gebot, und das Gebot selbst offenbart sich als Geschenk.
Der Mensch,
lebendiges Abbild Gottes, war von seinem Schöpfer als König und Herr gewollt.
»Gott hat den Menschen so gemacht — schreibt der hl. Gregor von Nyssa —,
daß er
seine Rolle als König der Erde erfüllt... Der Mensch ist nach dem Bild dessen
geschaffen worden, der der Herrscher über das Universum ist. Alles weist darauf
hin, daß sein Wesen von Anfang an vom Königtum gekennzeichnet ist... Auch der
Mensch ist König. Geschaffen, um die Welt zu beherrschen, hat er die
Ähnlichkeit mit dem universalen König empfangen, ist er das lebendige Abbild,
das durch seine Würde an der Vollkommenheit des göttlichen Vorbildes teilhat«.
38 Der Mensch, der aufgerufen ist fruchtbar zu sein und sich zu
vermehren, sich die Erde zu unterwerfen und über die anderen Geschöpfe zu
herrschen (vgl. Gen 1, 28), ist nicht nur König und Herr über die Dinge,
sondern auch und vor allem über sich selbst 39 und in gewissem Sinne
über das Leben, das ihm geschenkt wird und das er durch den in Liebe und in der
Achtung vor Gottes Plan vollzogenen Zeugungsakt weitergeben kann. Bei seiner Herrschaft
handelt es sich jedoch nicht um eine absolute, sondern um eine übertragene;
sie ist realer Widerschein der alleinigen und unendlichen Herrschaft
Gottes. Darum muß sie der Mensch durch Teilhabe an der unermeßlichen Weisheit
und Liebe Gottes mit Weisheit und Liebe leben. Und das geschieht durch
den Gehorsam gegenüber seinem heiligen Gesetz: ein freier und froher Gehorsam
(vgl. Ps 119 1), der aus dem Bewußtsein erwächst und genährt wird,
daß
die Gebote des Herrn ein Gnadengeschenk sind und dem Menschen immer nur zu
seinem Besten um des Schutzes seiner persönlichen Würde und der Erreichung
seines Glücks willen anvertraut werden.
Wie schon in
bezug auf die Sachwelt, so gilt noch mehr in bezug auf das Leben, daß der
Mensch nicht absoluter Herr und unanfechtbarer Schiedsrichter ist, sondern —
und darauf beruht seine unvergleichliche Größe — »Vollstrecker des Planes
Gottes«. 40
Das Leben wird
dem Menschen anvertraut als ein Schatz, den er nicht zerstreuen, als ein
Talent, das er wirtschaftlich verwalten soll. Darüber muß der Mensch seinem
Herrn Rechenschaft ablegen (vgl. Mt 25, 14-30; Lk 19, 12-27).
|
»Für das
Leben des Menschen fordere ich Rechenschaft vom Menschen« (Gen 9,
5): das menschliche Leben ist heilig und unantastbar
53.
»Das menschliche Leben ist als etwas Heiliges anzusehen, da es ja schon von
seinem Anfang an 'das Handeln des Schöpfers erfordert? und immer in einer
besonderen Beziehung mit dem Schöpfer, seinem einzigen Ziel, verbunden bleibt.
Gott allein ist der Herr des Lebens vom Anfang bis zum Ende: Niemand kann sich
— unter keinen Umständen — das Recht anmaßen, einem unschuldigen menschlichen
Geschöpf direkt den Tod zuzufügen«. 41 Mit diesen Worten legt die
Instruktion Donum vitae den zentralen Inhalt der Offenbarung Gottes über
die Heiligkeit und Unantastbarkeit des menschlichen Lebens dar.
Denn die Heilige
Schrift legt dem Menschen die Vorschrift »Du sollst nicht töten« als
göttliches Gebot vor (Ex 20, 13; Dtn 5, 17). Es steht — wie ich
schon unterstrichen habe — im Dekalog, im Herzen des Bundes, den der Herr mit
dem auserwählten Volk schließt; doch enthalten war es bereits in dem
allerersten Bund Gottes mit der Menschheit nach der reinigenden Strafe der
Sintflut, die durch das Überhandnehmen von Sünde und Gewalt ausgelöst worden
war (vgl. Gen 9, 5-6).
Gott erklärt
sich zum absoluten Herrn über das Leben des nach seinem Bild und Gleichnis
gestalteten Menschen (vgl. Gen 1, 26-28). Das menschliche Leben weist
somit einen heiligmäßigen und unverletzlichen Charakter auf, in dem sich die
Unantastbarkeit des Schöpfers selber widerspiegelt. Eben deshalb wird Gott zum
strengen Richter einer jeden Verletzung des Gebotes »du sollst nicht töten«,
das die Grundlage des gesamten menschlichen Zusammenlebens bildet. Er ist der
»goel«, das heißt der Verteidiger des Unschuldigen (vgl. Gen 4, 9-15; Jes
41, 14; Jer 50, 34; Ps 19 2, 15). Auch auf diese Weise macht
Gott deutlich, daß er keine Freude am Untergang der Lebenden hat (vgl. Weish
1, 13). Nur der Teufel vermag sich darüber zu freuen: durch seinen Neid kam
der Tod in die Welt (vgl. Weish 2, 24). Er, der »ein Mörder von Anfang an«
ist, ist auch »ein Lügner und der Vater der Lüge« (Joh 8, 44): durch
Irreführung lenkt er den Menschen auf die Ziele Sünde und Tod, die als
Lebensziele und Erfolge hingestellt werden.
54.
Das Gebot »du sollst nicht töten« besitzt einen ausgesprochen starken negativen
Inhalt: es zeigt die äußerste Grenze auf, die niemals überschritten werden
darf. Implizit jedoch spornt es zu einem positiven Verhalten der absoluten
Achtung vor dem Leben an mit dem Ziel, es zu fördern und auf dem Weg der Liebe,
die sich verschenkt, die annimmt und dient, fortzuschreiten. Auch das Volk des
Alten Bundes hat, wenn auch langsam und mit Widersprüchen, nach dieser
Auffassung eine fortschreitende Reife gekannt und sich so auf die großartige
Verkündigung Jesu vorbereitet: das Gebot der Nächstenliebe ist dem Gebot der
Gottesliebe ähnlich; »an diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den
Propheten« (vgl. Mt 22, 36-40). »Denn die Gebote... du sollst nicht
töten... und alle anderen Gebote — unterstreicht der hl. Paulus — sind in dem
einen Satz zusammengefaßt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (Röm
13, 9; vgl. Gal 5, 14). Nachdem es in das Neue Gesetz übernommen und
in ihm zur Vollendung gebracht worden ist, bleibt das Gebot »du sollst nicht
töten« unverzichtbare Voraussetzung, um »das Leben erlangen« zu können (vgl. Mt
19, 16-19). Aus dieser Sicht klingt auch das Wort des Apostels Johannes
endgültig: »Jeder, der seinen Bruder haßt, ist ein Mörder, und ihr
wißt: Kein
Mörder hat ewiges Leben, das in ihm bleibt« (1 Joh 3, 15).
Die lebendige
Tradition der Kirche hat von ihren Anfängen an — wie die Didaché, die
älteste außerbiblische christliche Lehrschrift bezeugt — das Gebot »du sollst
nicht töten« in kategorischer Form wieder aufgegriffen: »Es gibt zwei Wege, der
eine ist der Weg des Lebens, der andere der des Todes; zwischen ihnen besteht
ein großer Unterschied... Nach der Vorschrift der Lehre: Du sollst nicht
töten..., du sollst ein Kind weder abtreiben noch ein Neugeborenes töten... Der
Weg des Todes ist folgender:... sie haben kein Mitleid mit dem Armen, sie
leiden nicht mit dem Leidenden, sie anerkennen nicht ihren Schöpfer, sie töten
ihre Kinder und bringen durch Abtreibung Geschöpfe Gottes um; sie schicken den
Bedürftigen fort, unterdrücken den Geplagten, sind Anwälte der Reichen und
ungerechte Richter der Armen; sie sind voller Sünde. Mögt ihr, o Söhne, euch
stets von all dieser Schuld fernhalten!«. 42
Im Laufe der
Zeit hat die Tradition der Kirche immer einmütig den absoluten und bleibenden
Wert des Gebotes »du sollst nicht töten« gelehrt. Bekanntlich wurde in den
ersten Jahrhunderten der Mord — zusammen mit Abtrünnigkeit vom Glauben und
Ehebruch — unter die drei schwersten Sünden gereiht und eine besonders schwere
und lange öffentliche Bube verlangt, ehe dem reuigen Mörder Vergebung und die
Wiederaufnahme in die kirchliche Gemeinschaft gewährt wurden.
55.
Das darf uns nicht erstaunen: das Töten eines Menschen, in dem das Bild Gottes
gegenwärtig ist, ist eine besonders schwere Sünde. Gott allein ist Herr des
Lebens! Doch angesichts der vielfältigen und oft dramatischen
Begebenheiten, die das Leben des einzelnen und der Gemeinschaft bereithält,
haben die Gläubigen seit eh und je darüber nachgedacht und versucht, zu einer
vollständigeren und tieferen Einsicht dessen zu gelangen, was das Gebot Gottes
verbietet und vorschreibt. 43 Es gibt nämlich Situationen, in denen
die vom Gesetz Gottes festgelegten Werte in Form eines wirklichen Widerspruchs
erscheinen. Das kann zum Beispiel bei der Notwehr der Fall sein, in der
das Recht, das eigene Leben zu schützen, und die Pflicht, das Leben des anderen
nicht zu verletzen, sich nur schwer miteinander in Einklang bringen lassen.
Zweifellos begründen der innere Wert des Lebens und die Verpflichtung, sich
selbst nicht weniger Liebe entgegenzubringen als den anderen, ein wirkliches
Recht auf Selbstverteidigung. Selbst das vom Alten Testament verkündete und
von Jesus bekräftigte anspruchsvolle Gebot der Liebe zu den anderen setzt die
Eigenliebe als Vergleichsbegriff voraus: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie
dich selbst« (Mk 12, 31). Auf das Recht sich zu verteidigen könnte
demnach niemand aus mangelnder Liebe zum Leben oder zu sich selbst, sondern nur
kraft einer heroischen Liebe verzichten, die die Eigenliebe vertieft und gemäß
dem Geist der Seligpreisungen des Evangeliums (vgl. Mt 5, 38-48) in die
aufopfernde Radikalität verwandelt, deren erhabenstes Beispiel der Herr Jesus
selber ist.
Andererseits
»kann die Notwehr für den, der für das Leben anderer oder für das Wohl seiner
Familie oder des Gemeinwesens verantwortlich ist, nicht nur ein Recht, sondern
eine schwerwiegende Verpflichtung sein«. 44 Es geschieht leider, daß
die Notwendigkeit, den Angreifer unschädlich zu machen, mitunter seine Tötung
mit sich bringt. In diesem Fall wird der tödliche Ausgang dem Angreifer zur
Last gelegt, der sich ihm durch seine Tat ausgesetzt hat, auch für den Fall,
daß er aus Mangel an Vernunftgebrauch moralisch nicht verantwortlich wäre.
45
56.
In diesen Problemkreis gehört auch die Frage der Todesstrafe, wobei in
der Kirche wie in der weltlichen Gesellschaft zunehmend eine Tendenz
festzustellen ist, die eine sehr begrenzte Anwendung oder überhaupt die völlige
Abschaffung der Todesstrafe fordert. Das Problem muß in die Optik einer
Strafjustiz eingeordnet werden, die immer mehr der Würde des Menschen und somit
letzten Endes Gottes Plan bezüglich des Menschen und der Gesellschaft
entsprechen soll. Tatsächlich soll die von der Gesellschaft verhängte Strafe
»in erster Linie die durch das Vergehen herbeigeführte Unordnung
wiedergutmachen«. 46 Die öffentliche Autorität muß die Verletzung der
Rechte des einzelnen und der Gemeinschaft dadurch wiedergutmachen, daß sie dem
Schuldigen als Vorbedingung für seine Wiederentlassung in die Freiheit eine
angemes- sene Sühne für d as Vergehen auferlegt. Auf diese Weise erreicht die
Autorität auch das Ziel, die öffentliche Ordnung und die Sicherheit der Person
zu verteidigen und zugleich dem Schuldigen selbst einen Ansporn und eine Hilfe
zur Besserung und Heilung anzubieten. 47
Um alle diese
Ziele zu erreichen, müssen Ausmaß und Art der Strafe sorgfältig
abgeschätzt und festgelegt werden und dürfen außer in schwerwiegendsten Fällen,
das heißt wenn der Schutz der Gesellschaft nicht anders möglich sein sollte,
nicht bis zum Äußersten, nämlich der Verhängung der Todesstrafe gegen den
Schuldigen, gehen. Solche Fälle sind jedoch heutzutage infolge der immer
angepaßteren Organisation des Strafwesens schon sehr selten oder praktisch
überhaupt nicht mehr gegeben.
Jedenfalls
bleibt der vom neuen Katechismus der Katholischen Kirche angeführte
Grundsatz gültig: »soweit unblutige Mittel hinreichen, um das Leben der
Menschen gegen Angreifer zu verteidigen und die öffentliche Ordnung und die
Sicherheit der Menschen zu schützen, hat sich die Autorität an diese Mittel zu
halten, denn sie entsprechen besser den konkreten Bedingungen des Gemeinwohls
und sind der Menschenwürde angemessener«. 48
57.
Wenn auf die Achtung jeden Lebens, sogar des Schuldigen und des ungerechten
Angreifers, so große Aufmerksamkeit verwendet wird, hat das Gebot »du sollst
nicht töten« absoluten Wert, wenn es sich auf den unschuldigen Menschen bezieht.
Und das umso mehr, wenn es sich um ein schwaches und schutzloses menschliches
Lebewesen handelt, das einzig in der absoluten Kraft des Gebotes Gottes seinen
radikalen Schutz gegenüber der Willkür und Gewalttätigkeit der anderen findet.
Die absolute
Unantastbarkeit des unschuldigen Menschenlebens ist in der Tat eine in der
Heiligen Schrift ausdrücklich gelehrte, in der Tradition der Kirche ständig
aufrechterhaltene und von ihrem Lehramt einmütig vorgetragene sittliche
Wahrheit. Diese Einmütigkeit ist sichtbare Frucht jenes vom Heiligen Geist
geweckten und getragenen »übernatürlichen Glaubenssinnes«, der das Gottesvolk
vor Irrtum bewahrt, wenn es »seine allgemeine Übereinstimmung in Sachen des
Glaubens und der Sitten äußert«. 49
Da im Bewußtsein
der Menschen und in der Gesellschaft das Wahrnehmungsvermögen dafür,
daß die
direkte, d.h. vorsätzliche Tötung jedes unschuldigen Menschenlebens, besonders
in seinem Anfangs– und Endstadium, ein absolutes und schweres sittliches
Vergehen darstellt, zunehmend schwächer wird, hat das Lehramt der Kirche seine
Interventionen zur Verteidigung der Heiligkeit und Unantastbarkeit des
menschlichen Lebens verstärkt. Mit dem besonders insistierenden päpstlichen
Lehramt hat sich das bischöfliche Lehramt mit zahlreichen umfassenden Lehr– und
Pastoraldokumenten der Bischofskonferenzen wie einzelner Bischöfe stets
vereinigt. Und auch der feste und in seiner Kürze markante Beitrag des II.
Vatikanischen Konzils blieb nicht aus. 50
Mit der Petrus
und seinen Nachfolgern von Christus verliehenen Autorität bestätige ich daher
in Gemeinschaft mit den Bischöfen der katholischen Kirche, daß die direkte
und freiwillige Tötung eines unschuldigen Menschen immer ein schweres
sittliches Vergehen ist. Diese Lehre, die auf jenem ungeschriebenen Gesetz
begründet ist, das jeder Mensch im Lichte der Vernunft in seinem Herzen findet
(vgl. Röm 2, 14-15), ist von der Heiligen Schrift neu bestätigt, von der
Tradition der Kirche überliefert und vom ordentlichen und allgemeinen Lehramt
gelehrt. 51
Die
willentliche Entscheidung, einen unschuldigen Menschen seines Lebens zu
berauben, ist vom moralischen Standpunkt her immer schändlich und kann niemals,
weder als Ziel noch als Mittel zu einem guten Zweck gestattet werden. Sie ist
in der Tat ein schwerer Ungehorsam gegen das Sittengesetz, ja gegen Gott
selber, seinen Urheber und Garanten; sie widerspricht den Grundtugenden der
Gerechtigkeit und der Liebe. »Niemand und nichts kann in irgendeiner Weise
zulassen, daß ein unschuldiges menschliches Lebewesen getötet wird, sei es ein
Fötus oder ein Embryo, ein Kind oder ein Erwachsener, ein Greis, ein von einer
unheilbaren Krankheit Befallener oder ein im Todeskampf Befindlicher. Außerdem
ist es niemandem erlaubt, diese todbringende Handlung für sich oder für einen
anderen, der seiner Verantwortung anvertraut ist, zu erbitten, ja man darf in
eine solche 3 nicht einmal explizit oder implizit einwilligen. Auch kann sie
keine Autorität rechtmäßig auferlegen oder erlauben«. 52
Was das Recht
auf Leben betrifft, ist jedes unschuldige menschliche Lebewesen allen anderen
absolut gleich. Diese Gleichheit bildet die Grundlage jeder echten sozialen
Beziehung, die, wenn sie wirklich eine solche sein soll, auf der Wahrheit und
der Gerechtigkeit gründen muß, indem sie jeden Mann und jede Frau als Person
anerkennt und schützt und nicht als eine Sache betrachtet, über die man
verfügen könne. Im Hinblick auf die sittliche Norm, die die direkte Tötung
eines unschuldigen Menschen verbietet, »gibt es für niemanden Privilegien
oder Ausnahmen. Ob einer der Herr der Welt oder der Letzte, »Elendeste« auf
Erden ist, macht keinen Unterschied: Vor den sittlichen Ansprüchen sind wir
alle absolut gleich«. 53
|
»Deine Augen
sahen, wie ich entstand« (Ps 139 4, 16): das
verabscheuungswürdige Verbrechen der Abtreibung
58.
Unter allen Verbrechen, die der Mensch gegen das Leben begehen kann, weist die
Vornahme der Abtreibung Merkmale auf, die sie besonders schwerwiegend und
verwerflich machen. Das II. Vatikanische Konzil bezeichnet sie und die Tötung
des Kindes als »verabscheuungswürdiges Verbrechen«. 54
Doch heute hat
sich im Gewissen vieler die Wahrnehmung der Schwere des Vergehens nach und nach
verdunkelt. Die Billigung der Abtreibung in Gesinnung, Gewohnheit und selbst im
Gesetz ist ein beredtes Zeichen für eine sehr gefährliche Krise des sittlichen
Bewußtseins, das immer weniger imstande ist, zwischen Gut und Böse zu
unterscheiden, selbst dann, wenn das Grundrecht auf Leben auf dem Spiel steht.
Angesichts einer so ernsten Situation bedarf es mehr denn je des Mutes, der
Wahrheit ins Gesicht zu schauen und die Dinge beim Namen zu nennen, ohne
bequemen Kompromissen oder der Versuchung zur Selbsttäuschung nachzugeben. In
diesem Zusammenhang klingt der Tadel des Propheten kategorisch: »Weh denen, die
das Böse gut und das Gute böse nennen, die die Finsternis zum Licht und das
Licht zur Finsternis machen« (Jes 5, 20). Gerade in bezug auf die
Abtreibung ist die Verbreitung eines zweideutigen Sprachgebrauchs
festzustellen, wie die Formulierung »Unterbrechung der Schwangerschaft«, die
darauf abzielt, deren wirkliche Natur zu verbergen und ihre Schwere in der
öffentlichen Meinung abzuschwächen. Vielleicht ist dieses sprachliche Phänomen
selber Symptom für ein Unbehagen des Gewissens. Doch kein Wort vermag die
Realität der Dinge zu ändern: die vorsätzliche Abtreibung ist, wie auch
immer sie vorgenommen werden mag, die beabsichtigte und direkte Tötung eines
menschlichen Geschöpfes in dem zwischen Empfängnis und Geburt liegenden
Anfangsstadium seiner Existenz.
Die sittliche
Schwere der vorsätzlichen Abtreibung wird in ihrer ganzen Wahrheit deutlich,
wenn man erkennt, daß es sich um einen Mord handelt, und insbesondere, wenn man
die spezifischen Umstände bedenkt, die ihn kennzeichnen. Getötet wird hier ein
menschliches Geschöpf, das gerade erst dem Leben entgegengeht, das heißt das
absolut unschuldigste Wesen, das man sich vorstellen kann: es könnte
niemals als Angreifer und schon gar nicht als ungerechter Angreifer angesehen
werden! Es ist schwach, wehrlos, so daß es selbst ohne jenes Minimum an
Verteidigung ist, wie sie die flehende Kraft der Schreie und des Weinens des
Neugeborenen darstellt. Es ist voll und ganz dem Schutz und der Sorge
derjenigen anvertraut, die es im Schoß trägt. Doch manchmal ist es
gerade sie, die Mutter, die seine Tötung beschließt und darum ersucht und sie
sogar vornimmt.
Gewiß nimmt der Entschluß zur Abtreibung für die Mutter sehr oft einen dramatischen und
schmerzlichen Charakter an, wenn die Entscheidung, sich der Frucht der
Empfängnis zu entledigen, nicht aus rein egoistischen und
Bequemlichkeitsgründen gefaßt wurde, sondern weil manche wichtigen Güter, wie
die eigene Gesundheit oder ein anständiges Lebensniveau für die anderen
Mitglieder der Familie gewahrt werden sollten. Manchmal sind für das Ungeborene
Existenzbedingungen zu befürchten, die den Gedanken aufkommen lassen, es wäre für
dieses besser nicht geboren zu werden.Niemals jedoch können diese und
ähnliche Gründe, mögen sie noch so ernst und dramatisch sein, die
vorsätzliche Vernichtung eines unschuldigen Menschen rechtfertigen.
59.
Den Tod des noch ungeborenen Kindes beschließen außer der Mutter häufig
andere
Personen. Schuldig sein kann vor allem der Vater des Kindes, nicht nur,
wenn er
die Frau ausdrücklich zur Abtreibung drängt, sondern auch, wenn er ihre
Entscheidung dadurch indirekt begünstigt, daß er sie mit den Problemen
der
Schwangerschaft allein läßt: 55 auf diese Weise wird die Familie
tödlich verletzt und in ihrem Wesen als Liebesgemeinschaft und in ihrer
Berufung, »Heiligtum des Lebens« zu sein, entwürdigt. Nicht
verschwiegen werden
dürfen sodann die Beeinflussungen, die aus dem weiteren Familienverband
und von
Freunden kommen. Nicht selten ist die Frau einem so starken Druck
ausgesetzt, daß sie sich psychologisch gezwungen fühlt, in die
Abtreibung einzuwilligen:
ohne Zweifel lastet in diesem Fall die sittliche Verantwortung
besonders auf
denen, die sie direkt oder indirekt gezwungen haben, eine Abtreibung
vorzunehmen. Verantwortlich sind auch die Ärzte und das Pflegepersonal,
wenn
sie ihre berufliche Kompetenz, die sie erworben haben, um das Leben zu
fördern,
in den Dienst des Todes stellen.
Aber in die
Verantwortung miteinbezogen sind auch die Gesetzgeber, die
Abtreibungsgesetze
gefördert und beschlossen haben, und in dem Maße, in dem die Sache von
ihnen
abhängt, die Verwalter der Einrichtungen des Gesundheitswesens, die für
die
Durchführung von Abtreibungen benutzt werden. Eine nicht minder schwere
allgemeine Verantwortung betrifft sowohl alle, die die Verbreitung
einer
Mentalität sexueller Freizügigkeit und Geringschätzung der Mutterschaft
begünstigt
haben, als auch diejenigen, die wirksame familien– und sozialpolitische
Maßnahmen zur Unterstützung der Familien, namentlich der kinderreichen
oder mit
besonderen wirtschaftlichen und erzieherischen Schwierigkeiten
belasteten
Familien, hätten sicherstellen müssen, dies aber nicht getan haben.
Nicht
unterschätzt werden darf schließlich das Netz der Mittäterschaft, das
sich bis
auf internationale Institutionen, Stiftungen und Vereinigungen
ausdehnt, die
systematisch für die Legalisierung und Verbreitung der Abtreibung in
der Welt
kämpfen. Damit übersteigt die Abtreibung die Verantwortung der
einzelnen
Personen und den ihnen verursachten Schaden und nimmt eine stark
soziale
Dimension an: sie ist eine sehr schwere Verletzung, die der Gesellschaft
und ihrer Kultur von denen zugefügt wird, die sie aufbauen und verteidigen
sollten. Wie ich in meinem Brief an die Familien schrieb, »stehen wir
vor einer enormen Bedrohung des Lebens, nicht nur einzelner Individuen, sondern
auch der ganzen Zivilisation«. 56 Wir stehen vor dem, was als eine
gegen das noch ungeborene menschliche Leben gerichtete »Sündenstruktur«
definiert werden kann.
60.
Manche versuchen, die Abtreibung durch die Behauptung zu rechtfertigen, die
Frucht der Empfängnis könne, wenigstens bis zu einer bestimmten Zahl von Tagen,
noch nicht als ein persönliches menschliches Leben angesehen werden. In
Wirklichkeit »beginnt in dem Augenblick, wo das Ei befruchtet wird, ein Leben,
das nicht das des Vaters oder der Mutter, sondern eines neuen menschlichen
Geschöpfes ist, das sich eigenständig entwickelt. Es wird nie menschlich
werden, wenn es das nicht von dem Augenblick an gewesen ist. Für die
Augenfälligkeit dieser alten Einsicht... liefert die moderne genetische
Forschung wertvolle Bestätigungen. Sie hat gezeigt, daß vom ersten Augenblick
an das Programm für das, was dieses Lebewesen sein wird, festgelegt ist: eine
Person, diese individuelle Person mit ihren bekannten, schon genau festgelegten
Wesensmerkmalen. Bereits mit der Befruchtung hat das Abenteuer eines
Menschenlebens begonnen, von dessen großen Fähigkeiten jede einzelne Zeit
braucht, um sich zu organisieren und funktionsbereit zu sein«. 57 Auch
wenn das Vorhandensein einer Geistseele von keiner experimentellen Beobachtung
ausgemacht werden kann, liefern die Schlußfolgerungen der Wissenschaft über den
menschlichen Embryo »einen wertvollen Hinweis, um das Vorhandensein einer
Person von diesem ersten Erscheinen eines menschlichen Lebens an rational zu
erkennen: sollte ein menschliches Individuum etwa nicht eine menschliche Person
sein?« 58
Im übrigen ist
der Einsatz, der auf dem Spiel steht, so groß, daß unter dem Gesichtspunkt der
moralischen Verpflichtung schon die bloße Wahrscheinlichkeit, eine menschliche
Person vor sich zu haben, genügen würde, um das strikteste Verbot jedes
Eingriffs zu rechtfertigen, der zur Tötung des menschlichen Embryos vorgenommen
wird. Eben deshalb hat die Kirche jenseits der wissenschaftlichen
Auseinandersetzungen und selbst der philosophischen Aussagen, auf die sich das
Lehramt nicht ausdrücklich eingelassen hat, stets gelehrt und lehrt noch immer,
daß der Frucht der menschlichen Zeugung vom ersten Augenblick ihrer Existenz an
jene unbedingte Achtung zu gewährleisten ist, die dem Menschen in seiner
leiblichen und geistigen Ganzheit und Einheit moralisch geschuldet wird: »Ein
menschliches Geschöpf ist von seiner Empfängnis an als Person zu achten und zu
behandeln, und deshalb sind ihm von jenem Augenblick an die Rechte einer
Person zuzuerkennen, als deren erstes das unverletzliche Recht auf Leben
angesehen wird, dessen sich jedwedes unschuldige menschliche Geschöpf erfreut«.
59
61.
Auch wenn die Texte der Heiligen Schrift nie von einer vorsätzlichen
Abtreibung sprechen und deshalb keine direkten und spezifischen Verurteilungen
diesbezüglich enthalten, so weisen sie doch auf eine Betrachtung des
menschlichen Lebewesens im Mutterleib hin, deren logische Konsequenz die
Forderung ist, daß Gottes Gebot: »du sollst nicht töten« auch auf dieses noch
ungeborene Leben anzuwenden sei.
Das menschliche
Leben ist in jedem Augenblick seiner Existenz, auch in jenem Anfangsstadium,
das der Geburt vorausgeht, heilig und unantastbar. Der Mensch gehört vom
Mutterschoß an Gott, der alles erforscht hat und kennt, der ihn mit seinen
Händen formt und gestaltet, der ihn sieht, während er noch ein kleiner
formloser Embryo ist, und der in ihm bereits den Erwachsenen von morgen sieht,
dessen Tage gezählt sind und dessen Berufung schon in dem »Buch des Lebens«
verzeichnet ist (vgl. Ps 139 1, 1. 13-16). Auch da, wenn er sich also
noch im Mutterschoß befindet, ist — wie zahlreiche Bibeltexte bezeugen
60 — der Mensch das persönlichste Ziel der liebenden und väterlichen
Vorsehung Gottes.
Die christliche
Überlieferung stimmt — wie die von der Kongregation für die Glaubenslehre
diesbezüglich herausgegebene Erklärung gut hervorhebt 61 — von den
Anfängen bis in unsere Tage klar darin überein, daß sie die Abtreibung als
besonders schwerwiegende sittliche Verwilderung einstuft. Die erste christliche
Gemeinde hat sich seit der ersten Konfrontation mit der griechisch-römischen
Welt, in der die Abtreibung und die Kindestötung weitgehend praktiziert wurden,
durch ihre Lehre und ihre Praxis den in jener Gesellschaft herrschenden
Gepflogenheiten radikal widersetzt, wofür die bereits zitierte Didachè ein
klarer Beweis ist. 62 Unter den kirchlichen Schriftstellern aus dem
griechischen Raum erwähnt Athenagoras, daß die Christen Frauen, die auf
medizinische Eingriffe zur Abtreibung zurückgreifen, als Mörderinnen ansehen,
weil die Kinder, auch wenn sie noch im Mutterschoß sind, »bereits das Objekt
der Fürsorge der göttlichen Vorsehung sind«. 63 Unter den lateinischen
Schriftstellern behauptet Tertullian: »Die Verhinderung der Geburt ist
vorzeitiger Mord; es kommt nicht darauf an, ob man die schon geborene Seele
tötet oder sie beim Zurweltkommen auslöscht. Es ist bereits der Mensch, der er
später sein wird«. 64
Diese selbe
Lehre ist während ihrer nunmehr zweitausendjährigen Geschichte von den Vätern
der Kirche, von ihren Hirten und Lehrern ständig gelehrt worden. Auch die
wissenschaftlichen und philosophischen Diskussionen darüber, zu welchem
Zeitpunkt genau das Eingießen der Geistseele erfolge, haben nie auch nur den
geringsten Zweifel an der sittlichen Verurteilung der Abtreibung aufkommen
lassen.
62.
Das päpstliche Lehramt der jüngsten Zeit hat diese allgemeine Lehre mit
großem Nachdruck bekräftigt. Insbesondere Pius XI. hat in der Enzyklika Casti
connubii die als Vorwand dienenden Rechtfertigungen der Abtreibung
zurückgewiesen; 65 Pius XII. hat jede direkte Abtreibung
ausgeschlossen, das heißt jede Handlung, die das noch ungeborene menschliche
Leben direkt zu vernichten trachtet, »mag diese Vernichtung nun als Ziel oder
nur als Mittel zum Zweck verstanden werden«; 66 Johannes XXIII. hat
neuerlich beteuert, daß das menschliche Leben heilig ist, denn »es erfordert
von seinem Anbeginn an das Wirken Gottes, des Schöpfers«. 67 Das II.
Vatikanische Konzil hat, wie bereits erwähnt, die Abtreibung sehr streng
verurteilt: »Das Leben ist von der Empfängnis an mit höchster Sorgfalt zu
schützen. Abtreibung und Tötung des Kindes sind verabscheuungswürdige
Verbrechen«. 68
Die Rechtsordnung
der Kirche hat von den ersten Jahrhunderten an über jene, die sich der
Abtreibung schuldig machten, Strafsanktionen verhängt. Diese Praxis mit mehr
oder weniger schweren Strafen wurde in den verschiedenen Abschnitten der
Geschichte bestätigt. Der Codex des kanonischen Rechtes von 1917 drohte
für die Abtreibung die Strafe der Exkommunikation an. 69 Auch die
erneuerte kanonische Gesetzgebung stellt sich auf diese Linie, wenn sie
bekräftigt: »Wer eine Abtreibung vornimmt, zieht sich mit erfolgter Ausführung
die Tatstrafe der Exkommunikation latae sententiae zu«, 70 das heißt die Strafe tritt von selbst durch Begehen der Straftat ein.
Die
Exkommunikation trifft alle, die diese Straftat in Kenntnis der Strafe begehen,
somit auch jene Mittäter, ohne deren Handeln sie nicht begangen worden wäre.
71 Mit dieser erneut bestätigten Sanktion stellt die Kirche diese
Straftat als eines der schwersten und gefährlichsten Verbrechen hin und spornt
so den, der sie begeht, an, rasch auf den Weg der Umkehr zurückzufinden. Denn
in der Kirche hat die Strafe der Exkommunikation den Zweck, die Schwere einer
bestimmten Sünde voll bewußt zu machen und somit eine entsprechende Umkehr und
Reue zu begünstigen.
Angesichts
einer solchen Einmütigkeit in der Tradition der Lehre und Disziplin der Kirche
konnte Paul VI. erklären, daß sich diese Lehre »nicht geändert hat und
unveränderlich ist«. 72 Mit der Autorität, die Christus Petrus und
seinen Nachfolgern übertragen hat, erkläre ich deshalb in Gemeinschaft mit den
Bischöfen — die mehrfach die Abtreibung verurteilt und, obwohl sie über die
Welt verstreut sind, bei der eingangs erwähnten Konsultation dieser Lehre
einhellig zugestimmt haben — daß die direkte, das heißt als Ziel oder Mittel
gewollte Abtreibung immer ein schweres sittliches Vergehen darstellt, nämlich
die vorsätzliche Tötung eines unschuldigen Menschen. Diese Lehre ist auf
dem Naturrecht und auf dem geschriebenen Wort Gottes begründet, von der
Tradition der Kirche überliefert und vom ordentlichen und allgemeinen Lehramt
der Kirche gelehrt. 73
Kein Umstand,
kein Zweck, kein Gesetz wird jemals eine Handlung für die Welt statthaft machen
können, die in sich unerlaubt ist, weil sie dem Gesetz Gottes widerspricht, das
jedem Menschen ins Herz geschrieben, mit Hilfe der Vernunft selbst erkennbar
und von der Kirche verkündet worden ist.
63.
Die sittliche Bewertung der Abtreibung muß auch auf die neuen Formen des Eingriffs
auf menschliche Embryonen angewandt werden, die unvermeidlich mit der
Tötung des Embryos verbunden sind, auch wenn sie Zwecken dienen, die an sich
erlaubt sind. Das ist bei der Durchführung von Versuchen an Embryonen gegeben,
die auf dem Gebiet der biomedizinischen Forschung in wachsender Zunahme
begriffen und in einigen Staaten gesetzlich erlaubt ist. Auch wenn »die
Eingriffe am menschlichen Embryo unter der Bedingung als erlaubt angesehen
werden 2, daß sie das Leben und die Unversehrtheit des Embryos achten und daß
sie nicht Gefahren mit sich bringen, die nicht verhältnismäßig sind, sondern
daß sie auf die Heilung der Krankheit, auf die Wandlung des Gesundheitszustands
zum besseren hin und auf die Sicherstellung des Überlebens des einzelnen Fötus
ausgerichtet sind«, 74 muß man jedoch geltend machen, daß die
Verwendung von Embryonen oder Föten als Versuchsobjekt ein Verbrechen darstellt
gegen ihre Würde als menschliche Geschöpfe, die dasselbe Recht haben, das dem
bereits geborenen Kind und jeder Person geschuldet wird. 75
Aus sittlichen
Gründen zu verwerfen ist ebenso auch die Vorgehensweise, die — bisweilen eigens
zu diesem Zweck mit Hilfe der In-vitro-Befruchtung »erzeugte« — noch lebende
menschliche Embryonen und Föten mißbraucht, sei es als zu verwertendes
»biologisches Material« oder als Lieferanten von Organen oder Geweben zur
Transplantation für die Behandlung bestimmter Krankheiten. Die Tötung
unschuldiger menschlicher Geschöpfe, und sei es auch zum Vorteil anderer,
stellt in Wirklichkeit eine absolut unannehmbare Handlung dar.
Besondere
Aufmerksamkeit muß der sittlichen Bewertung der Verfahren vorgeburtlicher
Diagnose gelten, die die frühzeitige Feststellung eventueller Mißbildungen
oder Krankheiten des ungeborenen Kindes erlauben. Wegen der Komplexität dieser
Verfahren muß eine solche Bewertung in der Tat sorgfältiger und artikulierter
erfolgen. Wenn sie ohne unverhältnismäßige Gefahren für das Kind und für die
Mutter sind und zum Ziel haben, eine frühzeitige Therapie zu ermöglichen oder
auch eine gefaßte und bewußte Annahme des Ungeborenen zu begünstigen, sind
diese Verfahren sittlich erlaubt. Da jedoch die Behandlungsmöglichkeiten vor
der Geburt heute noch recht begrenzt sind, kommt es nicht selten vor, daß diese
Verfahren in den Dienst einer Eugenetik-Mentalität gestellt werden, die die
selektive Abtreibung in Kauf nimmt, um die Geburt von Kindern zu verhindern,
die von Mißbildungen und Krankheiten verschiedener Art betroffen sind. Eine
solche Denkart ist niederträchtig und höchst verwerflich, weil sie sich
anmaßt,
den Wert eines menschlichen Lebens einzig und allein nach Maßstäben wie
»Normalität« und physisches Wohlbefinden zu beurteilen und auf diese Weise auch
der Legitimation der Kindestötung und der Euthanasie den Weg bahnt.
In Wirklichkeit
stellen jedoch gerade der Mut und die Gefaßtheit, mit denen viele unserer von
schweren Gebrechen betroffenen Brüder und Schwestern ihr Dasein meistern, wenn
sie von uns angenommen und geliebt werden, ein besonders wirkungsvolles Zeugnis
für die echten Werte dar, die das Leben kennzeichnen und es auch unter den
schwierigsten Bedingungen für sich selbst und für die anderen wertvoll machen.
Die Kirche ist jenen Eheleuten nahe, die unter großer Angst und viel Schmerz
bereit sind, ihre von Behinderung schwer heimgesuchten Kinder anzunehmen; und
sie ist all jenen Familien dankbar, die durch Adoption Kinder aufnehmen, die
wegen Behinderungen oder Krankheiten von ihren Eltern im Stich gelassen worden
sind.
|
»Ich bin
es, der tötet und der lebendig macht« (Dtn 32, 39): das Drama der
Euthanasie
64.
Am anderen Ende seines Daseins steht der Mensch vor dem Geheimnis des Todes.
Infolge der Fortschritte auf medizinischem Gebiet und in einem kulturellen
Umfeld, das sich der Transzendenz zumeist verschließt, weist die Erfahrung des
Sterbens heute einige neue Wesensmerkmale auf. Denn wenn die Neigung
vorherrscht, das Leben nur in dem Maße zu schätzen, wie es Vergnügen und
Wohlbefinden mit sich bringt, erscheint das Leiden als eine unerträgliche
Niederlage, von der man sich um jeden Preis befreien muß. Der Tod, der als
»absurd« angesehen wird, wenn er ein Leben plötzlich unterbricht, das noch für
eine an möglichen interessanten Erfahrungen reiche Zukunft offen ist, wird dagegen
dann zu einer »beanspruchten Befreiung«, wenn das Dasein bereits für sinnlos
gehalten wird, weil es in Schmerz getaucht und unerbittlich für weiteres noch
heftigeres Leiden bestimmt ist.
Außerdem glaubt
der Mensch, der seine wesentliche Beziehung zu Gott ablehnt oder vergibt, er
sei sich selber Maßstab und Norm, und maßt sich das Recht an, auch von der
Gesellschaft zu verlangen, sie solle ihm Möglichkeiten und Formen garantieren,
damit er in voller und vollständiger Autonomie über sein Leben entscheiden könne.
Es ist besonders der Mensch in den entwickelten Ländern, der sich so verhält:
veranlaßt fühlt er sich dazu auch durch die ständigen Fortschritte der Medizin
und ihre immer mehr fortgeschrittenen Verfahren. Mit Hilfe äußerst
spitzfindiger Systeme und Apparate sind Wissenschaft und ärztliche Praxis heute
in der Lage, nicht nur für früher unlösbare Fälle eine Lösung zu finden und
Schmerzen zu lindern oder zu beheben, sondern auch das Leben selbst im Zustand
äußerster Schwäche zu erhalten und zu verlängern, Personen nach dem plötzlichen
Zusammenbruch ihrer biologischen Grundfunktionen künstlich wiederzubeleben
sowie Eingriffe vorzunehmen, um Organe für Transplantationen zu gewinnen.
In einem
solchen Umfeld zeigt sich immer stärker die Versuchung zur Euthanasie, das
heißt, sich zum Herrn über den Tod zu machen, indem man ihn vorzeitig
herbeiführt und so dem eigenen oder dem Leben anderer »auf sanfte Weise«
ein Ende bereitet. In Wirklichkeit stellt sich, was als logisch und menschlich
erscheinen könnte, wenn man es zutiefst betrachtet, als absurd und
unmenschlich heraus. Wir stehen hier vor einem der alarmierendsten Symptome
der »Kultur des Todes«, die vor allem in den Wohlstandsgesellschaften um sich
greift, die von einem Leistungsdenken gekennzeichnet sind, das die wachsende
Zahl alter und geschwächter Menschen als zu belastend und unerträglich
erscheinen läßt. Sie werden sehr oft von der Familie und von der Gesellschaft
isoliert, de- ren Organisation fast ausschließlich auf Kriterien der Produktion
und Leistungsfähigkeit beruht, wonach ein hoffnungslos arbeitsunfähiges Leben
keinen Wert mehr hat.
65.
Für ein korrektes sittliches Urteil über die Euthanasie gilt es zunächst, diese
klar zu definieren. Unter Euthanasie im eigentlichen Sinn versteht man
eine Handlung oder Unterlassung, die ihrer Natur nach und aus bewußter Absicht
den Tod herbeiführt, um auf diese Weise jeden Schmerz zu beenden. »Bei
Euthanasie dreht es sich also wesentlich um den Vorsatz des Willens und um die
Vorgehensweisen, die angewandt werden«. 76
Von ihr zu
unterscheiden ist die Entscheidung, auf »therapeutischen Übereifer« zu
verzichten, das heißt auf bestimmte ärztliche Eingriffe, die der tatsächlichen
Situation des Kranken nicht mehr angemessen sind, weil sie in keinem Verhältnis
zu den erhofften Ergebnissen stehen, oder auch, weil sie für ihn und seine
Familie zu beschwerlich sind. In diesen Situationen, wenn sich der Tod drohend
und unvermeidlich ankündigt, kann man aus Gewissensgründen »auf (weitere)
Heilversuche verzichten, die nur eine ungewisse und schmerzvolle Verlängerung
des Lebens bewirken könnten, ohne daß man jedoch die normalen Bemühungen
unterläßt, die in ähnlichen Fällen dem Kranken geschuldet werden«. 77
Sicherlich besteht die moralische Verpflichtung sich pflegen und behandeln zu
lassen, aber diese Verpflichtung muß an den konkreten Situationen gemessen
werden; das heißt, es gilt abzuschätzen, ob die zur Verfügung stehenden
therapeutischen Maßnahmen objektiv in einem angemessenen Verhältnis zur
Aussicht auf Besserung stehen. Der Verzicht auf außergewöhnliche oder
unverhältnismäßige Heilmittel ist nicht gleichzusetzen mit Selbstmord oder
Euthanasie; er ist vielmehr Ausdruck dafür, daß die menschliche Situation
angesichts des Todes akzeptiert wird. 78
Besondere
Bedeutung gewinnen in der modernen Medizin die sogenannten »palliativen
Behandlungsweisen«,
die das Leiden im Endstadium der Krankheit erträglicher
machen und gleichzeitig für den Patienten eine angemessene menschliche
Begleitung
gewährleisten sollen. In diesem Zusammenhang erhebt sich unter anderem
das
Problem, inwieweit die Anwendung der verschiedenen Schmerzlinderungs–
und
Beruhigungsmittel, um den Kranken vom Schmerz zu befreien, erlaubt ist,
wenn
das die Gefahr einer Verkürzung des Lebens mit sich bringt. Auch wenn
jemand,
der das Leiden aus freien Stücken annimmt, indem er auf
schmerzlindernde Maßnahmen verzichtet, um seine volle Geistesklarheit
zu bewahren und, wenn er
gläubig ist, bewußt am Leiden des Herrn teilzuhaben, in der Tat des
Lobes
würdig ist, so kann diese »heroische« Haltung doch nicht als für alle
verpflichtend angenommen werden. Schon Pius XII. hatte gesagt, den
Schmerz
durch Narkotika zu unterdrücken, auch wenn das eine Trübung des
Bewußtseins und
die Verkürzung des Lebens zur Folge habe, sei erlaubt, »falls keine
anderen
Mittel vorhanden sind und unter den gegebenen Umständen dadurch nicht
die
Erfüllung anderer religiöser und moralischer Verpflichtungen behindert
wird«.
79 Denn in diesem Fall wird der Tod nicht gewollt oder gesucht, auch
wenn aus berechtigten Gründen die Gefahr dazu gegeben ist: man will
einfach
durch Anwendung der von der Medizin zur Verfügung gestellten Analgetika
den
Schmerz wirksam lindern. Doch »darf man den Sterbenden nicht ohne
schwerwiegenden Grund seiner Bewußtseinsklarheit berauben«: 80 die
Menschen sollen vor dem herannahenden Tod in der Lage sein, ihren
moralischen
und familiären Verpflichtungen nachkommen zu können, und sich vor allem
mit
vollem Bewußtsein auf die endgültige Begegnung mit Gott vorbereiten
können.
Nach diesen
Unterscheidungen bestätige ich in Übereinstimmung mit dem Lehramt meiner
Vorgänger 81 und in Gemeinschaft mit den Bischöfen der katholischen
Kirche, daß die Euthanasie eine schwere Verletzung des göttlichen Gesetzes
ist, insofern es sich um eine vorsätzliche Tötung einer menschlichen Person
handelt, was sittlich nicht zu akzeptieren ist. Diese Lehre ist auf dem
Naturrecht und auf dem geschriebenen Wort Gottes begründet, von der Tradition
der Kirche überliefert und vom ordentlichen und allgemeinen Lehramt der Kirche
gelehrt. 82
Eine solche
Handlung setzt, je nach den Umständen, die Bosheit voraus, wie sie dem
Selbstmord oder dem Mord eigen ist.
66.
Nun ist Selbstmord immer ebenso sittlich unannehmbar wie Mord. Die Tradition
der Kirche hat ihn immer als schwerwiegend böse Entscheidung zurückgewiesen.
83 Obwohl bestimmte psychologische, kulturelle und soziale
Gegebenheiten einen Menschen dazu bringen können, eine Tat zu begehen, die der
natürlichen Neigung eines jeden zum Leben so radikal widerspricht, und dadurch
die subjektive Verantwortlichkeit vermindert oder aufgehoben sein mag, ist der Selbstmord
aus objektiver Sicht eine schwer unsittliche Tat, weil er verbunden ist mit
der Absage an die Eigenliebe und mit der Ausschlagung der Verpflichtungen zu
Gerechtigkeit und Liebe gegenüber dem Nächsten, gegenüber den verschiedenen
Gemeinschaften, denen der Betreffende angehört, und gegenüber der Gesellschaft
als ganzer. 84 In seinem tiefsten Kern stellt der Selbstmord eine
Zurückweisung der absoluten Souveränität Gottes über Leben und Tod dar, wie sie
im Gebet des alten Weisen Israels verkündet wird: »Du hast Gewalt über Leben
und Tod; du führst zu den Toren der Unterwelt hinab und wieder herauf« (Weish
16, 13; vgl. Tob 13, 2).
Die
Selbstmordabsicht eines anderen zu teilen und ihm bei der Ausführung durch die
sog. »Beihilfe zum Selbstmord« behilflich zu sein heißt Mithelfer und manchmal
höchstpersönlich Täter eines Unrechts zu werden, das niemals, auch nicht, wenn
darum gebeten worden sein sollte, gerechtfertigt werden kann. »Es ist niemals
erlaubt — schreibt mit überraschender Aktualität der hl. Augustinus —, einen
anderen zu töten: auch wenn er es wollte, ja selbst, wenn er darum bitten
würde, weil er, zwischen Leben und Tod schwebend, fleht, ihm zu helfen die
Seele zu befreien, die gegen die Fesseln des Leibes kämpft und sich von ihnen
zu lösen sucht; es ist nicht einmal dann erlaubt, wenn ein Kranker nicht mehr
zu leben imstande wäre«. 85 Auch wenn sie nicht durch die egoistische
Weigerung motiviert ist, sich mit der Existenz des leidenden Menschen zu
belasten, muß die Euthanasie als falsches Mitleid, ja als eine
bedenkliche »Perversion« desselben bezeichnet werden: denn echtes »Mitleid«
solidarisiert sich mit dem Schmerz des anderen, tötet nicht den, dessen Leiden
unerträglich ist. Die Tat der Euthanasie erscheint um so perverser, wenn sie
von denen ausgeführt wird, die — wie die Angehörigen — ihrem Verwandten mit
Geduld und Liebe beistehen sollten, oder von denen, die — wie die Ärzte — auf
Grund ihres besonderen Berufes den Kranken auch im leidvollsten Zustand seines
zu Ende gehenden Lebens behandeln müßten.
Schwerwiegender
wird die Entscheidung für die Euthanasie, wenn sie sich als Mord herausstellt,
den die anderen an einem Menschen begehen, der sie keineswegs darum gebeten und
niemals seine Zustimmung dazu gegeben hat. Der Höhepunkt der Willkür und des Unrechts
wird dann erreicht, wenn sich einige Ärzte oder Gesetzgeber die Macht anmaßen
darüber zu entscheiden, wer leben und wer sterben darf. Hier zeigt sich wieder
die Versuchung von Eden: werden wie Gott und »Gut und Böse erkennen« (vgl. Gen
3, 5). Doch Gott allein hat die Macht, zu töten und zum Leben zu erwecken:
»Ich bin es, der tötet und der lebendig macht« (Dtn 32, 39; vgl. 2
Kön 5, 7; 1 Sam 2, 6). Er verwirklicht seine Macht immer nur nach
einem Plan der Weisheit und Liebe. Wenn sich der Mensch im Bann einer Logik von
Torheit und Egoismus diese Macht anmaßt, benützt er sie unweigerlich zu Unrecht
und Tod. So wird das Leben des Schwächsten in die Hände des Stärksten gelegt;
in der Gesellschaft geht der Sinn für Gerechtigkeit verloren und das gegenseitige
Vertrauen, Grundlage jeder echten Beziehung zwischen den Menschen, wird an der
Wurzel untergraben.
67.
Ganz anders hingegen ist der Weg der Liebe und des echten Mitleids, den
unser gemeinsames Menschsein vorschreibt und den der Glaube an Christus, den
Erlöser, der gestorben und auferstanden ist, mit neuen Einsichten erhellt.
Die Bitte, die bei der äußersten Konfrontation mit dem Leid und dem Tod
besonders dann aus dem Herzen des Menschen kommt, wenn er versucht ist, sich in
seine Verzweiflung zurückzuziehen und in ihr unterzugehen, ist vor allem Bitte
um Begleitung, um Solidarität und um Beistand in der Prüfung. Sie ist
flehentliche Bitte um Hilfe, um weiter hoffen zu können, wenn alle menschlichen
Hoffnungen zerrinnen. Wie uns das II. Vatikanische Konzil zu bedenken gab, wird
für den Menschen »angesichts des Todes das Rätsel des menschlichen Daseins am
größten«; und trotzdem »urteilt er im Instinkt seines Herzens richtig, wenn er
die völlige Zerstörung und den endgültigen Untergang seiner Person mit
Entsetzen ablehnt. Der Keim der Ewigkeit im Menschen läßt sich nicht auf die
bloße Materie zurückführen und wehrt sich gegen den Tod«. 86
Erhellt und zum Abschluß gebracht werden diese natürliche Abneigung gegen den Tod und diese
keimhafte Hoffnung auf Unsterblichkeit durch den christlichen Glauben, der die
Teilhabe am Sieg des auferstandenen Christus verheißt und anbietet: es ist der
Sieg dessen, der durch seinen Erlösungstod den Menschen vom Tod, dem »Lohn der
Sünde« (Röm 6, 23), befreit und ihm den Geist, das Unterpfand für
Auferstehung und Leben, geschenkt hat (vgl. Röm 8, 11). Die Gewißheit
über die zukünftige Unsterblichkeit und die Hoffnung auf die verheißene
Auferstehung werfen ein neues Licht auf das Geheimnis des Leidens und
Sterbens und erfüllen den Gläubigen mit einer außerordentlichen Kraft, sich dem
Plan Gottes anzuvertrauen.
Der Apostel
Paulus hat dieses Neue in den Worten von einer völligen Zugehörigkeit zum
Herrn, der den Menschen in jeder Lage umfängt, zum Ausdruck gebracht: »Keiner
von uns lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber: Leben wir, so leben
wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir leben oder ob wir
sterben, wir gehören dem Herrn« (Röm 14, 7-8). Sterben für den Herrn heißt
den eigenen Tod als letzten Gehorsamsakt gegenüber dem Vater erleben (vgl. Phil
2, 8), indem wir die Begegnung mit dem Tod in der von Ihm gewollten und
beschlossenen »Stunde« annehmen (vgl. Joh 13, 1), der allein zu sagen
vermag, wann unser irdischer Weg zu Ende ist. Leben für den Herrn heißt
auch anerkennen, daß das Leid, auch wenn es an sich ein Übel und eine Prüfung
bleibt, immer zu einer Quelle des Guten werden kann. Das ist der Fall, wenn es
aus Liebe und mit Liebe, aus freiwilliger Hingabe an Gott und aus freier
persönlicher Entscheidung in der Teilhabe am Leiden des gekreuzigten Christus
selber gelebt wird. Auf diese Weise wird der, der sein Leiden im Herrn lebt,
Ihm vollkommener ähnlich (vgl. Phil 3, 10; 1 Petr 2,
21)
und hat zutiefst teil an seinem Erlösungswerk für die Kirche und die Menschheit
87 Das ist die Erfahrung des Apostels, die auch jeder leidende Mensch
nachzuleben aufgerufen ist: »Jetzt freue ich mich in den Leiden, die ich für
euch ertrage. Für den Leib Christi, die Kirche, ergänze ich in meinem irdischen
Leben das, was an den Leiden Christi noch fehlt« (Kol 1, 24).
|
»Man muß
Gott mehr gehorchen als den Menschen« (Apg 5, 29): Staatliches
Gesetz und Sittengesetz
68.
Eines der Wesensmerkmale der — schon mehrmals erwähnten — derzeitigen Anschläge
auf das menschliche Leben besteht in dem Bestreben, gesetzliche Legitimation
für sie zu fordern, so als würde es sich um Rechte handeln, die der Staat,
zumindest unter bestimmten Bedingungen, den Bürgern zuerkennen müsse, und
demzufolge in dem Bestreben, die Umsetzung dieser Rechte mit dem sicheren und
unentgeltlichen Beistand der Ärzte und des Pflegepersonals zu verlangen.
Nicht selten
wird behauptet, das Leben eines ungeborenen oder eines sich in völliger
Schwäche befindlichen Menschen sei nur ein relatives Gut: entsprechend einer
Logik der Verhältnismäßigkeit oder des kalten Kalküls sollte es mit anderen Gü-
tern verglichen und abgewogen werden. Und es wird auch behauptet, daß nur jemand,
der sich in der konkreten Situation befindet und persönlich involviert ist,
eine gerechte Abwägung der Güter vornehmen könne, um die es geht: infolgedessen
könnte nur er über die Sittlichkeit seiner Entscheidung bestimmen. Der Staat
sollte daher im Interesse des zivilen Zusammenlebens und der sozialen Eintracht
diese Entscheidung respektieren und endlich auch Abtreibung und Euthanasie
zulassen.
Bisweilen wird
die Meinung vertreten, das staatliche Gesetz könne nicht verlangen, daß alle
Bürger einem Sittlichkeitsgrad gemäß leben, der höher ist als jener, den sie
selber anerkennen und teilen. Deshalb sollte das Gesetz immer Ausdruck der
Meinung und des Willens der Mehrheit der Bürger sein und ihnen, wenigstens in
bestimmten Extremfällen, auch das Recht auf Abtreibung und auf Euthanasie
zuerkennen. Im übrigen würde das Verbot und die Bestrafung von Abtreibung und
Euthanasie in diesen Fällen — so wird behauptet — unvermeidbar zu einer Zunahme
illegaler Praktiken führen: diese wären allerdings nicht der notwendigen
sozialen Kontrolle unterworfen und würden ohne die erforderliche ärztliche
Sicherheit vorgenommen. Hier fragt man sich außerdem, ob das Festhalten an
einem konkret nicht anwendbaren Gesetz nicht am Ende bedeute, daß auch die
Glaubwürdigkeit jedes anderen Gesetzes untergraben werde.
Die radikalsten
Meinungsäußerungen gehen schließlich soweit zu behaupten, in einer modernen und
pluralistischen Gesellschaft müßte jedem Menschen volle Autonomie zuerkannt
werden, über das eigene Leben und das Leben des ungeborenen Kindes zu verfügen:
die Wahl und Entscheidung zwischen den verschiedenen Moralauffassungen wäre in
der Tat nicht Sache des Gesetzes, und noch weniger könnte es sich die
Auferlegung einer einzelnen dieser Auffassungen zum Nachteil der anderen anmaßen.
69.
Auf jeden Fall ist in der demokratischen Kultur unserer Zeit die Meinung weit
verbreitet, wonach sich die Rechtsordnung einer Gesellschaft darauf beschränken
sollte, die Überzeugungen der Mehrheit zu verzeichnen und anzunehmen, und daher
nur auf dem aufbauen, was die Mehrheit selber als moralisch anerkennt und lebt.
Wenn dann sogar die Meinung vertreten wird, eine allgemeine und objektive
Wahrheit sei de facto unannehmbar, würde es die Achtung vor der Freiheit der
Bürger — die in einem demokratischen System als die eigentlichen Souveräne
gelten — erfordern, daß man auf Gesetzgebungsebene die Autonomie der einzelnen
Gewissen anerkennt und daher bei der Festlegung jener Normen, die auf jeden
Fall für das soziale Zusammenleben notwendig sind, ausschließlich dem Willen
der Mehrheit, welcher Art immer sie sein mag, gerecht wird. Auf diese Weise
müßte jeder Politiker in seinem Tun den Bereich des privaten Gewissens klar von
dem des öffentlichen Verhaltens trennen.
Es lassen sich
infolgedessen zwei anscheinend diametral entgegengesetzte Tendenzen
feststellen. Auf der einen Seite machen die einzelnen Individuen für sich die
vollständigste sittliche Entscheidungsautonomie geltend und fordern, daß sich
der Staat keine ethische Auffassung zu eigen macht und diese vorschreibt,
sondern sich darauf beschränkt, der Freiheit jedes einzelnen weitestmöglichen
Raum zu garantieren mit der einzigen äußeren Einschränkung, den Raum von
Autonomie nicht zu verletzen, auf den auch jeder andere Bürger ein Recht hat.
Auf der anderen Seite vertritt man die Meinung, daß bei der Ausübung der
öffentlichen und beruflichen Aufgaben die Achtung vor der Entscheidungsfreiheit
des anderen es einem jedem auferlege, von den eigenen Überzeugungen abzurücken,
um sich in den Dienst jeder Forderung der Bürger zu stellen, die die Gesetze
anerkennen und schützen, wobei als einziges sittliches Kriterium für die
Ausübung der eigenen Funktionen akzeptiert wird, was eben von diesen Gesetzen
festgelegt wurde. Auf diese Weise wird unter Verzicht auf das eigene sittliche
Gewissen zumindest im Bereich des öffentlichen Wirkens die Verantwortlichkeit
des Menschen dem staatlichen Gesetz überlassen.
70.
Gemeinsame Wurzel all dieser Tendenzen ist der ethische Relativismus, der
für weite Teile der modernen Kultur bezeichnend ist. Manche behaupten, dieser
Relativismus sei eine Voraussetzung für die Demokratie, weil nur er Toleranz,
gegenseitige Achtung der Menschen untereinander und Bindung an die
Entscheidungen der Mehrheit gewährleisten würde, während die als objektiv und
bindend angesehenen sittlichen Normen zu Autoritarismus und Intoleranz führen
würden.
Doch gerade die
Problematik der Achtung vor dem Leben zeigt, welche Mißverständnisse und
Widersprüche, begleitet von entsetzlichen praktischen Folgen, sich hinter
dieser Einstellung verbergen.
Es stimmt, daß
die Geschichte Fälle kennt, in denen im Namen der »Wahrheit« Verbrechen
begangen worden sind. Aber nicht minder schwere Verbrechen und radikale
Leugnungen der Freiheit wurden und werden weiter auch im Namen des »ethischen
Relativismus« begangen. Faßt eine parlamentarische oder gesellschaftliche
Mehrheit, wenn sie die Rechtmäßigkeit der unter bestimmten Bedingungen
vorgenommenen Tötung des ungeborenen menschlichen Lebens beschließt, nicht
vielleicht einen »tyrannischen« Beschluß gegen das schwächste und wehrloseste
menschliche Geschöpf? Das Weltgewissen reagiert mit Recht auf die Verbrechen
gegen die Menschlichkeit, mit denen unser Jahrhundert so traurige Erfahrungen
gemacht hat. Würden diese Untaten vielleicht nicht mehr länger Verbrechen sein,
wenn sie, statt von skrupellosen Tyrannen begangen worden zu sein, durch des
Volkes Zustimmung für rechtmäßig erklärt worden wären?
Tatsächlich
darf die Demokratie nicht solange zum Mythos erhoben werden, bis sie zu einem
Ersatzmittel für die Sittlichkeit oder einem Allheilmittel gegen die
Unsittlichkeit gemacht wird. Sie ist ihrem Wesen nach eine »Ordnung« und als
solche ein Werkzeug und nicht ein Ziel. Ihr »sittlicher« Charakter ist nicht automatisch
gegeben, sondern hängt von der Übereinstimmung mit dem Sittengesetz ab, dem
sie, wie jedes andere menschliche Verhalten, unterstehen muß: das heißt, er
hängt von der Sittlichkeit der Ziele ab, die sie verfolgt, und der Mittel,
deren sie sich bedient. Wenn heute ein beinahe weltweites Einvernehmen über den
Wert der Demokratie festzustellen ist, wird das als ein positives »Zeichen der
Zeit« angesehen, wie auch das Lehramt der Kirche wiederholt hervorgehoben hat.
88 Aber der Wert der Demokratie steht und fällt mit den Werten, die
sie verkörpert und fördert: grundlegend und unumgänglich sind sicherlich die
Würde jeder menschlichen Person, die Achtung ihrer unverletzlichen und
unveräußerlichen Rechte sowie die Übernahme des »Gemeinwohls« als Ziel und
regelndes Kriterium für das politische Leben.
Grundlage
dieser Werte können nicht vorläufige und wechselnde Meinungs«mehrheiten« sein,
sondern nur die Anerkennung eines objektiven Sittengesetzes, das als dem
Menschen ins Herz geschriebene »Naturgesetz« normgebender Bezugspunkt eben
dieses staatlichen Gesetzes ist. Wenn infolge einer tragischen kollektiven
Trübung des Gewissens der Skeptizismus schließlich sogar die Grundsätze des
Sittengesetzes in Zweifel zöge, würde selbst die demokratische Ordnung in ihren
Fundamenten erschüttert, da sie zu einem bloßen Mechanismus empirischer
Regelung der verschiedenen und gegensätzlichen Interessen verkäme. 89
Mancher könnte
sich vorstellen, daß in Ermangelung eines Besseren auch eine solche Funktion um
des sozialen Friedens willen anerkannt werden müsse. Selbst wenn man in einer
solchen Einschätzung einen gewissen Wahrheitsaspekt anerkennt, muß man doch
sehen, daß ohne eine objektive sittliche Verankerung auch die Demokratie keinen
stabilen Frieden sicherstellen kann, um so mehr als der Friede, der nicht an
den Werten der Würde jedes Menschen und der Solidarität unter allen Menschen
gemessen wird, nicht selten eine illusorische Angelegenheit ist. Denn in den
die demokratische Beteiligung einschließenden Regierungssystemen selbst erfolgt
die Regelung der Interessen häufig zum Vorteil der Stärkeren, vermögen sie doch
am besten nicht nur die Hebel der Macht, sondern auch das Zustandekommen des
Konsenses zu steuern. In einer solchen Situation wird Demokratie leicht zu
einem leeren Wort.
71.
Im Hinblick auf die Zukunft der Gesellschaft und die Entwicklung einer gesunden
Demokratie ist es daher dringend notwendig, das Vorhandensein wesentlicher,
angestammter menschlicher und sittlicher Werte wiederzuentdecken, die der
Wahrheit des menschlichen Seins selbst entspringen und die Würde der Person zum
Ausdruck bringen und schützen: Werte also, die kein Individuum, keine Mehrheit
und kein Staat je werden hervorbringen, verändern oder zerstören können, sondern
die sie nur anerkennen, achten und fördern werden müssen.
In diesem Sinne muß man wieder die Grundzüge der Auffassung von den Beziehungen zwischen
staatlichem Gesetz und Sittengesetz aufgreifen, die von der Kirche
vorgelegt werden, die aber auch zum Erbe der großen Rechtstraditionen der
Menschheit gehören.
Sicherlich ist die
Aufgabe des staatlichen Gesetzes im Vergleich zu der des Sittengesetzes
anders und von begrenzterem Umfang. Jedoch »kann in keinem Lebensbereich das
staatliche Gesetz das Gewissen ersetzen, noch kann es Normen über das
vorschreiben, was über seine Zuständigkeit hinausgeht«, 90 die darin
besteht, das Gemeinwohl der Menschen durch die Anerkennung und den Schutz ihrer
Grundrechte, durch die Förderung des Friedens und der öffentlichen Sittlichkeit
sicherzustellen. 91 Denn die Aufgabe des staatlichen Gesetzes besteht
darin, ein geordnetes soziales Zusammenleben in wahrer Gerechtigkeit zu
gewährleisten, damit wir alle »in aller Frömmigkeit und Rechtschaffenheit
ungestört und ruhig leben können« (1 Tim 2, 2). Eben deshalb
muß das
staatliche Gesetz für alle Mitglieder der Gesellschaft die Achtung einiger
Grundrechte sicherstellen, die dem Menschen als Person eigen sind und die jedes
positive Gesetz anerkennen und garantieren muß. Erstes und grundlegendes aller
Rechte ist das unverletzliche Recht auf Leben eines jeden unschuldigen
Menschen. Auch wenn die öffentliche Autorität bisweilen auf die Unterdrückung
von etwas verzichten kann, was im Fall des Verbots einen schwereren Schaden
anrichten wür- de, 92 kann sie doch niemals zulassen, die Verletzung,
die anderen Menschen durch die Nicht- Anerkennung eines ihrer Grundrechte wie
das auf Leben zugefügt wird, als Recht der einzelnen zu legitimieren — selbst
wenn diese die Mehrheit der Mitglieder der Gesellschaft ausmachen würden. Die
gesetzliche Tolerierung von Abtreibung oder Euthanasie kann sich gerade deshalb
keinesfalls auf die Respektierung des Gewissens der anderen berufen, weil die
Gesellschaft das Recht und die Pflicht hat, sich vor den Mißbräuchen zu
schützen, die im Namen des Gewissens und unter dem Vorwand der Freiheit
zustande kommen können. 93
Papst Johannes
XXIII. hatte diesbezüglich in der Enzyklika Pacem in terris festgestellt:
»Da man in unserer Zeit annimmt, das Gemeinwohl bestehe vor allem in der
Wahrung der Rechte und Pflichten der menschlichen Person, muß die Aufgabe der
Staatslenker vor allem darin bestehen, daß einerseits die Rechte anerkannt,
geachtet, untereinander in Einklang gebracht, verteidigt und gefördert werden,
und andererseits jeder seine Pflichten leichter erfüllen kann. Denn 'die den
Menschen eigenen unverletzlichen Rechte zu schützen und dafür zu sorgen,
daß
jeder seine Aufgaben leichter erfülle, das ist die vornehmliche Pflicht jeder
öffentlichen Gewalt'. Wenn deshalb Behörden die Rechte des Menschen entweder
nicht anerkennen oder verletzen, so weichen sie nicht nur selbst von ihrer
Pflicht ab, sondern es entbehrt auch das, was von ihnen befohlen wurde, jeder
Verbindlichkeit«. 94
72.
In Kontinuität mit der gesamten Tradition der Kirche steht auch die Lehre über
die notwendige Übereinstimmung des staatlichen Gesetzes mit dem
Sittengesetz, wie sie gleichfalls aus der genannten Enzyklika Johannes'
XXIII. hervorgeht: »Die Befehlsgewalt wird von der sittlichen Ordnung erfordert
und geht von Gott aus. Falls daher Staatslenker entgegen dieser Ordnung und
insofern entgegen dem Willen Gottes Gesetze erlassen oder etwas gebieten, dann
können weder die erlassenen Gesetze noch die gewährten Vollmachten das Gewissen
der Bürger verpflichten... Vielmehr bricht dann die Autorität selbst völlig
zusammen, und es folgt scheußliches Unrecht«. 95 Das ist die klare
Lehre des hl. Thomas von Aquin, der unter anderem schreibt: »Das menschliche
Gesetz hat nur insoweit den Charakter eines Gesetzes, insoweit es der rechten
Vernunft gemäß ist; und insofern ist es offensichtlich, daß es vom ewigen
Gesetz her abgeleitet wird. Wenn es aber von der Vernunft abweicht, wird es ungerechtes
Gesetz genannt und hat nicht den Charakter eines Gesetzes, sondern vielmehr den
einer Gewalttätigkeit«. 96 Und weiter: »Jedes von Menschen erlassene
Gesetz hat insoweit den Charakter eines Gesetzes, insoweit es vom Naturgesetz
abgeleitet wird. Wenn es aber in irgend etwas von dem Naturgesetz abweicht,
dann wird es nicht mehr Gesetz, sondern die Zersetzung des Gesetzes sein«.
97
Die erste und
unmittelbarste Anwendung dieser Lehre betrifft das menschliche Gesetz, welches das
jedem Menschen eigene fundamentale Grundrecht auf Leben nicht anerkennt. Auf
diese Weise befinden sich die Gesetze, die in Form der Abtreibung und der
Euthanasie die unmittelbare Tötung unschuldiger Menschen für rechtmäßig
erklären, in totalem und unversöhnlichem Widerspruch zu dem allen Menschen
eigenen unverletzlichen Recht auf Leben und leugnen somit die Gleichheit aller
vor dem Gesetz. Man könnte einwenden, daß das auf die Euthanasie dann nicht
zutreffe, wenn der betreffende Mensch bei vollem Bewußtsein um sie gebeten hat.
Aber ein Staat, der ein derartiges Ersuchen legitimieren und seine Durchführung
gestatten würde, würde gegen die Grundprinzipien der Unverfügbarkeit des Lebens
und des Schutzes jedes menschlichen Lebens einen Selbstmord- bzw. Mordfall
legalisieren. Auf diese Weise wird dem Nachlassen der Achtung vor dem Leben
Vorschuß geleistet und Haltungen der Weg geebnet, die das Vertrauen in die
sozialen Beziehungen zerstören.
Die Gesetze,
die Abtreibung und Euthanasie zulassen und begünstigen, stellen sich also nicht
nur radikal gegen das Gut des einzelnen, sondern auch gegen das Gemeinwohl und
sind daher ganz und gar ohne glaubwürdige Rechtsgültigkeit. Tatsächlich ist es
die Nicht-Anerkennung des Rechtes auf Leben, die sich, gerade weil sie zur
Tötung des Menschen führt — in dessen Dienst zu stehen die Gesellschaft ja den
Grund ihres Bestehens hat —, am frontalsten und irreparabel der Möglichkeit
einer Verwirklichung des Gemeinwohls entgegenstellt. Daraus folgt, daß ein
staatliches Gesetz, wenn es Abtreibung und Euthanasie billigt, eben darum kein
wahres, sittlich verpflichtendes staatliches Gesetz mehr ist.
73.
Abtreibung und Euthanasie sind also Verbrechen, die für rechtmäßig zu erklären
sich kein menschliches Gesetz anmaßen kann. Gesetze dieser Art rufen nicht nur
keine Verpflichtung für das Gewissen hervor, sondern erheben vielmehr die schwere
und klare Verpflichtung, sich ihnen mit Hilfe des Einspruchs aus
Gewissensgründen zu widersetzen. Seit den Anfangszeiten der Kirche hat die
Verkündigung der Apostel den Christen die Verpflichtung zum Gehorsam gegenüber
den rechtmäßig eingesetzten staatlichen Autoritäten eingeschärft (vgl. Röm 13,
1-7; 1 Petr 2, 13-14), sie aber gleichzeitg entschlossen ermahnt, daß
»man Gott mehr gehorchen muß als den Menschen« (Apg 5, 29). Schon im
Alten Testament finden wir in bezug auf die Bedrohungen gegen das Leben ein
gewichtiges Beispiel für den Widerstand gegen das ungerechte Gebot der
staatlichen Autorität. Die hebräischen Hebammen widersetzten sich dem Pharao,
der angeordnet hatte, jeden neugeborenen Knaben zu töten. Sie »taten nicht, was
ihnen der König von Ägypten gesagt hatte, sondern liessen die Kinder am
Leben« (Ex 1, 17). Wichtig ist aber, auf den tieferen Grund dieses ihres
Verhaltens hinzuweisen: »Die Hebammen fürchteten Gott« (ebd.).
Aus dem Gehorsam gegenüber Gott — dem allein jene Furcht gebührt, die
Anerkennung seiner absoluten Souveränität ist — erwachsen die Kraft und der
Mut, den ungerechten Gesetzen der Menschen zu widerstehen. Die Kraft und der
Mut dessen, der bereit ist, auch ins Gefängnis zu gehen oder durch das Schwert
umzukommen in der Gewißheit, daß »sich hier die Standhaftigkeit und die
Glaubenstreue der Heiligen bewähren« muß (Offb 13, 10).
Es ist daher niemals
erlaubt, sich einem in sich ungerechten Gesetz, wie jenem, das Abtreibung und
Euthanasie zuläßt, anzupassen, »weder durch Beteiligung an einer
Meinungskampagne für ein solches Gesetz noch dadurch, daß man bei der
Abstimmung dafür stimmt«. 98
Ein besonderes
Gewissensproblem könnte sich in den Fällen ergeben, in denen sich eine
parlamentarische Abstimmung als entscheidend dafür herausstellen würde, in
Alternative zu einem bereits geltenden oder zur Abstimmung gestellten ungleich
freizügigeren Gesetz ein restriktiveres Gesetz zu begünstigen, das heißt ein
Gesetz, das die Anzahl der erlaubten Abtreibungen begrenzt. Solche Fälle sind
nicht selten. Man kann nämlich Folgendes feststellen: Während in manchen Teilen
der Welt die nicht selten von mächtigen internationalen Organisationen
unterstützten Kampagnen für die Einführung von Gesetzen zur Freigabe der
Abtreibung weitergehen, werden dagegen in anderen Nationen — besonders in
jenen, die bereits die bittere Erfahrung mit derartigen freizügigen Gesetzen
hinter sich haben — Anzeichen eines Umdenkens sichtbar. In dem hypothetisch
angenommenen Fall ist es einleuchtend, daß es einem Abgeordneten, dessen
persönlicher absoluter Widerstand gegen die Abtreibung klargestellt und allen
bekannt wäre, dann, wenn die Abwendung oder vollständige Aufhebung eines
Abtreibungsgesetzes nicht möglich wäre, gestattet sein könnte,
Gesetzesvorschläge zu unterstützen, die die Schadensbegrenzung eines
solchen Gesetzes zum Ziel haben und die negativen Auswirkungen auf das Gebiet
der Kultur und der öffentlichen Moral vermindern. Auf diese Weise ist nämlich
nicht eine unerlaubte Mitwirkung an einem ungerechten Gesetz gegeben; vielmehr
wird ein legitimer und gebührender Versuch unternommen, die ungerechten Aspekte
zu begrenzen.
74.
Die Einführung ungerechter Gesetzgebungen stellt moralisch korrekte Menschen
oft vor schwierige Gewissensprobleme, was die Mitwirkung im Verhältnis zur
gebührenden Geltendmachung des eigenen Rechtes betrifft, nicht zur Teilnahme an
sittlich schlechten Handlungen gezwungen zu sein. Manchmal sind die
Entscheidungen, die nötig erscheinen, schmerzlich und können sogar das Opfer
einer renommierten beruflichen Stellung oder den Verzicht auf berechtigte
Aufstiegs- und Karriereaussichten erfordern. In anderen Fällen kann sich
herausstellen, daß die Durchführung von an sich indifferenten oder sogar
positiven Handlungen, die in den Artikeln von insgesamt ungerechten
Gesetzgebungen vorgesehen sind, den Schutz bedrohter Menschenleben erlaubt.
Andererseits darf man jedoch mit Recht befürchten, daß die Bereitschaft zur
Durchführung solcher Handlungen nicht nur zu einem Stein des Anstoßes wird und
dem Nachlassen des notwendigen Widerstandes gegen Anschläge gegen das Leben
Vorschuß leistet, sondern unmerklich dazu verleitet, immer mehr einer
permissiven Logik nachzugeben.
Zur Erhellung
dieses schwierigen sittlichen Problems muß an die allgemeinen Grundsätze über
die Mitwirkung an schlechten Handlungen erinnert werden. Wie alle
Menschen guten Willens sind die Christen aufgerufen, aus ernster
Gewissenspflicht nicht an jenen Praktiken formell mitzuwirken, die, obgleich
von der staatlichen Gesetzgebung zugelassen, im Gegensatz zum Gesetz Gottes
stehen. Denn unter sittlichem Gesichtspunkt ist es niemals erlaubt, formell am
Bösen mitzuwirken. Solcher Art ist die Mitwirkung dann, wenn die durchgeführte
Handlung entweder auf Grund ihres Wesens oder wegen der Form, die sie in einem
konkreten Rahmen annimmt, als direkte Beteiligung an einer gegen das
unschuldige Menschenleben gerichteten Tat oder als Billigung der unmoralischen
Absicht des Haupttäters bezeichnet werden muß. Diese Mitwirkung kann niemals
gerechtfertigt werden, weder durch Berufung auf die Achtung der Freiheit des
anderen, noch dadurch, daß man sich auf die Tatsache stützt, daß das staatliche
Gesetz diese Mitwirkung vorsehe und fordere: denn für die Handlungen, die ein
jeder persönlich vornimmt, gibt es eine sittliche Verantwortlichkeit, der sich
niemand entziehen kann und nach der Gott selber einen jeden richten wird (vgl. Röm
2, 6; 14, 12).
Die Beteiligung
am Begehen eines Unrechts zu verweigern, ist nicht nur eine moralische
Verpflichtung, sondern auch ein menschliches Grundrecht. Wenn es nicht so wäre,
würde der Mensch gezwungen sein, eine mit seiner Würde an sich unvereinbare
Handlung durchzuführen, und auf diese Weise würde seine Freiheit, deren
glaubwürdiger Sinn und deren Ziel auf der Hinordnung zum Wahren und Guten
beruhen, radikal gefährdet sein. Es handelt sich also um ein wesentliches
Recht, das eben als solches vom staatlichen Gesetz selbst vorgesehen und
geschützt werden müßte. In diesem Sinne müßte für die Ärzte, das Pflegepersonal
und die verantwortlichen Träger von Krankenhäusern, Kliniken und Pflegeheimen
die Möglichkeit sichergestellt sein, die Beteiligung an der Phase der Beratung,
Vorbereitung und Durchführung solcher Handlungen gegen das Leben zu verweigern.
Wer zum Mittel des Einspruchs aus Gewissensgründen greift, muß nicht nur vor
Strafmaßnahmen, sondern auch vor jeglichem Schaden auf gesetzlicher,
disziplinarischer, wirtschaftlicher und beruflicher Ebene geschützt sein.
|
»Deinen
Nächsten sollst du lieben wie dich selbst« (Lk 10, 27): »fördere«
das Leben
75.
Die Gebote Gottes lehren uns den Weg des Lebens. Die negativen sittlichen
Vorschriften, also jene, die die Wahl einer bestimmten Handlung für
sittlich unannehmbar erklären, haben einen absoluten Wert für die menschliche
Freiheit: sie gelten ausnahmslos immer und überall. Sie weisen darauf hin,
daß
die Wahl bestimmter Verhaltens- weisen mit der Liebe zu Gott und mit der Würde
des nach seinem Bild geschaffenen Menschen radikal unvereinbar ist: eine solche
Wahl kann daher keinesfalls durch die dahinterstehende gute Absicht und die
sich ergebenden guten Folgen aufgewogen werden; sie steht in unversöhnlichem
Gegensatz zu der Gemeinschaft zwischen den Menschen, sie widerspricht der
Grundentscheidung, sein Leben auf Gott hinzuordnen. 99
Schon in diesem
Sinne haben die negativen sittlichen Vorschriften eine äußerst wichtige
positive Funktion: das »Nein«, das sie bedingungslos fordern, nennt die
unüberschreitbare Grenze, unter die der freie Mensch nicht gehen darf, und
zugleich gibt es das Minimum an, das er respektieren und von dem er ausgehen muß,
um unzählige »Ja« auszusprechen, die in der Lage sind, immer mehr den Gesamthorizont
des Guten zu erfassen (vgl. Mt 5, 48). Die Gebote, insbesondere die
negativen sittlichen Vorschriften, sind der Anfang und die erste notwendige
Etappe des Weges zur Freiheit: »Die erste Freiheit — schreibt der hl.
Augustinus — besteht im Freisein von Verbrechen..., als da sind Mord, Ehebruch,
Unzucht, Diebstahl, Betrug, Gotteslästerung usw. Wenn einer mit diesen Vergehen
nichts zu tun hat (und kein Christ darf mit ihnen zu tun haben), beginnt er
sein Haupt zur Freiheit zu erheben, aber das ist erst der Anfang der Freiheit,
nicht die vollkommene Freiheit«. 100
76.
Das Gebot »du sollst nicht töten« bestimmt also den Ausgangspunkt für einen Weg
in wahrer Freiheit, der uns dahin führt, das Leben aktiv zu fördern und
bestimmte Haltungen und Verhaltensweisen im Dienst am Leben zu entwickeln:
dadurch erfüllen wir unsere Verantwortlichkeit gegenüber den Menschen, die sich
uns anvertraut haben, und bringen in den Taten und in der Wahrheit Gott unsere
Dankbarkeit für das große Geschenk des Lebens zum Ausdruck (vgl. Ps 139
1, 13-14).
Der Schöpfer
hat das Leben des Menschen seiner verantwortlichen Fürsorge anvertraut, nicht
damit er willkürlich darüber verfüge, sondern damit er es mit Weisheit bewahre
und in liebevoller Treue verwalte. Der Gott des Bundes hat entsprechend dem
Gesetz der Gegenseitigkeit von Geben und Empfangen, von Selbsthingabe und
Annahme des anderen das Leben eines jeden Menschen dem anderen Menschen, seinem
Bruder, anvertraut. Als die Zeit erfüllt war, hat der Sohn Gottes dadurch,
daß
er Mensch wurde und sein Leben für den Menschen hingab, gezeigt, welche Höhe
und Tiefe dieses Gesetz der Gegenseitigkeit erreichen kann. Durch das Geschenk
seines Geistes verleiht Christus dem Gesetz der Gegenseitigkeit, dem
Anvertrauen des Menschen an den Menschen neue Inhalte und Bedeutungen. Der
Geist, der Baumeister von Gemeinschaft in Liebe ist, stellt zwischen den
Menschen eine neue Brüderlichkeit und Solidarität her, einen echten Abglanz des
der heiligsten Dreifaltigkeit eigenen Geheimnisses von gegenseitiger Hingabe
und Annahme. Der Geist selbst wird zum neuen Gesetz, das den Gläubigen die
Kraft gibt und ihre Verantwortlichkeit dazu anspornt, durch Teilhabe an der
Liebe Jesu Christi selbst und nach ihrer Maßgabe gegenseitig die Selbsthingabe
und die Annahme des anderen zu leben.
77.
Von diesem neuen Gesetz wird auch das Gebot »du sollst nicht töten« beseelt und
geformt. Für den Christen schließt es letzten Endes das Pflichtgebot ein, den
Ansprüchen und Dimensionen der Liebe Gottes in Jesus Christus gemäß das Leben
jedes Bruders zu achten, zu lieben und zu fördern. »Er hat sein Leben für uns
hingegeben. So müssen auch wir für die Brüder das Leben hingeben« (1 Joh 3,
16).
Das Gebot »du
sollst nicht töten« verpflichtet jeden Menschen auch in seinen positivsten
Inhalten, nämlich Achtung, Liebe und Förderung des menschlichen Lebens. Es läßt
sich in der Tat als ein ununterdrückbares Echo des ursprünglichen Bundes
Gottes, des Schöpfers, mit dem Menschen im sittlichen Bewußtsein eines jeden
Menschen vernehmen; es kann von allen im Licht der Vernunft erkannt und dank
des geheimnisvollen Wirkens des Geistes wahrgenommen werden, der, da er weht,
wo er will (vgl. Joh 3, 8), jeden in dieser Welt lebenden Menschen
erreicht und miteinbezieht.
Es ist also ein
Liebesdienst, den wir verpflichtet sind unserem Nächsten zu leisten, damit
seinem Leben immer, vor allem aber, wenn es am schwächsten oder bedroht ist,
Schutz und Förderung zuteil werde. Es ist nicht nur persönliche, sondern
soziale Fürsorge, die wir alle dadurch ausüben müssen, daß wir die
bedingungslose Achtung vor dem menschlichen Leben zum tragenden Fundament einer
erneuerten Gesellschaft machen.
Es wird von uns
verlangt, das Leben jedes Mannes und jeder Frau zu lieben und zu ehren und mit
Standhaftigkeit und Mut daran zu arbeiten, daß in unserer Zeit, die allzu viele
Zeichen des Todes aufweist, endlich eine neue Kultur des Lebens als Frucht der
Kultur der Wahrheit und der Liebe entstehen möge.
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IV. KAPITEL
- DAS HABT IHR MIR GETAN - FÜR EINE NEUE KULTUR DES MENSCHLICHEN LEBENS
»Ihr aber
seid ein Volk, das Gottes besonderes Eigentum wurde, damit es seine großen
Taten verkünde« (1 Petr 2, 9): das Volk des Lebens und für das
Leben
78.
Die Kirche hat das Evangelium als Ankündigung und Quelle von Freude und Heil
empfangen. Sie hat es als Geschenk von Jesus empfangen, der vom Vater gesandt
wurde, »damit Er den Armen eine gute Nachricht bringe« (Lk 4, 18). Sie
hat es durch die Apostel empfangen, die von Ihm in die ganze Welt ausgesandt
wurden (vgl. Mk 16, 15; Mt 28, 19-20). Die aus diesem Einsatz für
die Verkündigung des Evangeliums entstandene Kirche vernimmt in sich selbst
jeden Tag das mahnende Wort des Apostels: »Weh mir, wenn ich das Evangelium
nicht verkünde« (1 Kor 9, 16). »Evangelisieren ist — schrieb Paul
VI. — in der Tat die Gnade und eigentliche Berufung der Kirche, ihre tiefste
Identität. Sie ist da, um zu evangelisieren«. 101
Evangelisierung
ist eine globale und dynamische Aktion, die die Kirche in ihrer Teilhabe an der
prophetischen, priesterlichen und königlichen Sendung des Herrn Jesus
einbezieht. Sie ist daher untrennbar mit den Dimensionen der Verkündigung,
der Feier und des Dienstes der Nächstenliebe verbunden. Sie ist ein zutiefst
kirchliches Tun, das alle heranzieht, die auf verschiedenste Weise für das
Evangelium tätig sind, einen jeden nach seinen Gaben und seinem Amt.
Das gilt auch
für die Verkündigung des Evangeliums vom Leben, eines wesentlichen
Bestandteils des Evangeliums, das Jesus Christus ist. Wir stehen im Dienst
dieses Evangeliums, getragen von dem Bewußtsein, daß wir es als Geschenk
empfangen haben und ausgesandt sind, es der ganzen Menschheit »bis an die
Grenzen der Erde« (Apg 1, 8) zu verkünden. Darum hegen wir das demütige
und dankbare Bewußtsein, das Volk des Lebens und für das Leben zu sein,
und treten so vor allen auf.
79.
Wir sind das Volk des Lebens, weil Gott uns in seiner unentgeltlichen
Liebe das Evangelium vom Leben geschenkt hat und wir von diesem
Evangelium verwandelt und gerettet worden sind. Wir sind vom »Urheber des
Lebens« (Apg 3, 15) um den Preis seines kostbaren Blutes erkauft (vgl. 1
Kor 6, 20; 7, 23; 1 Petr 1, 19) und durch die Taufe in Ihn
eingegliedert worden (vgl. Röm 6, 4-5; Kol 2, 12) wie Zweige, die
aus dem einen Stamm Lebenssaft und Fruchtbarkeit ziehen (vgl. Joh 15, 5).
Innerlich erneuert durch die Gnade des Geistes, der »Herr ist und lebendig
macht«, sind wir zu einem Volk für das Leben geworden und sind
aufgerufen, uns auch so zu verhalten.
Wir sind
gesandt: im Dienst des Lebens zu stehen, ist für uns nicht Prahlerei, sondern eine
Verpflichtung, die aus dem Bewußtsein entsteht, »ein Volk« zu sein, »das Gottes
besonderes Eigentum wurde, damit es seine großen Taten verkünde« (1 Petr 2,
9). Auf unserem Weg führt und trägt uns das Gesetz der Liebe: es ist die
Liebe, deren Quelle und Vorbild der menschgewordene Gottessohn ist, der »durch
seinen Tod der Welt das Leben geschenkt hat«. 102
Wir sind als
Volk gesandt. Die Verpflichtung zum Dienst am Leben lastet auf allen und auf jedem
einzelnen. Es handelt sich um eine »kirchliche« Verantwortlichkeit im
eigentlichen Sinn, die das aufeinander abgestimmte hochherzige Handeln aller
Mitglieder und aller Gruppierungen der christlichen Gemeinde erfordert. Die
gemeinschaftliche Aufgabe hebt jedoch die Verantwortung des einzelnen
Menschen, an den das Gebot des Herrn, für jeden Menschen »zum Nächsten zu
werden«, gerichtet ist: »Dann geh und handle genauso!« (Lk 10, 37),
weder auf noch verringert sie diese.
Wir spüren alle
miteinander die Verpflichtung, das Evangelium vom Leben zu verkünden, es
in der Liturgie und in unserem gesamten Dasein zu feiern, ihm mit
verschiedenen Initiativen und Strukturen zu dienen, die seine
Unterstützung und Förderung zum Ziele haben.
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»Was wir
gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch« (1 Joh 1, 3):
das Evangelium vom Leben verkünden
80.
»Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen
gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefaßt haben, ... das Wort des
Lebens..., das verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns
habt« (1 Joh 1, 1.3). Jesus ist das einzige Evangelium: wir haben
nichts anderes zu sagen und zu bezeugen.
Die
Verkündigung Jesu ist die Verkündigung des Lebens. Denn Er ist »das Wort des
Lebens« (1 Joh 1, 1). In Ihm »wurde das Leben offenbart« (1 Joh 1,
2); ja, Er ist selber »das ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbart
wurde« (ebd.). Dank der Gabe des Geistes wurde dieses Leben dem Menschen
mitgeteilt. Wenn es auf das Leben in Fülle, auf das »ewige Leben«, hingeordnet
ist, gewinnt auch das »irdische Leben« seinen vollen Sinn.
Wenn wir von
diesem Evangelium vom Leben erleuchtet werden, empfinden wir das
Bedürfnis, es in dem überraschend Neuen, das es kennzeichnet, zu
verkünden und zu bezeugen: da es sich mit Jesus selbst, dem Überbringer alles
Neuen 103 und Sieger über das »Alter«, das aus der Sünde stammt und
zum Tod führt, 104 gleichsetzt, übersteigt dieses Evangelium jede
menschliche Erwartung und macht offenbar, zu welchen erhabenen Höhen sich die
Würde der Person durch die Gnade zu erheben vermag. Der hl. Gregor von Nyssa
stellt folgende Betrachtung darüber an: »Der Mensch, der unter den Lebewesen
nichts zählt, der Staub, Gras, Vergänglichkeit ist, wird, sobald vom Gott des
Universums an Kindes Statt angenommen, zum Vertrauten dieses Gottes, dessen
Vollkommenheit und Größe niemand sehen, hören und begreifen kann. Mit welchem
Wort, Gedanken oder Aufschwung des Geistes wird man je vermögen, den Überfluß
dieser Gnade zu preisen? Der Mensch übersteigt seine Natur: vom Sterblichen
wird er zum Unsterblichen, vom Vergänglichen zum Unvergänglichen, vom
Vorübergehenden zum Ewigen, er wird vom Menschen zu Gott«. 105
Die Dankbarkeit
und Freude angesichts der unermeßlichen Würde des Menschen spornt uns an, alle
an dieser Botschaft teilhaben zu lassen: »Was wir gesehen und gehört haben, das
verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt« (1 Joh 1,
3). Man muß das Evangelium vom Leben zum Herzen jedes Mannes und jeder
Frau gelangen lassen und es in die verborgensten Winkel der ganzen Gesellschaft
einführen.
81.
Es geht darum, zunächst die Mitte dieses Evangeliums zu verkünden. Das
bedeutet Verkündigung eines lebendigen und nahen Gottes, der uns in eine tiefe
Verbindung mit sich ruft und uns öffnet für die sichere Hoffnung auf das ewige
Leben; es bedeutet Geltendmachung des untrennbaren Zusammenhangs, der
zwischen der menschlichen Person, ihrem Leben und ihrer Leiblichkeit besteht;
es bedeutet Darstellung des menschlichen Lebens als Leben der Beziehung, als
Gottesgeschenk, als Frucht und Zeichen seiner Liebe; es bedeutet Verkündigung
der außergewöhnlichen Beziehung Jesu zu jedem Menschen, der es ermöglicht, in
jedem menschlichen Antlitz das Ant- litz Christi zu erkennen; es bedeutet
Aufzeigen der »aufrichtigen Selbsthingabe« als Aufgabe und Ort voller
Verwirklichung der eigenen Freiheit.
Gleichzeitig
gilt es sämtliche Konsequenzen aufzuzeigen, die sich aus diesem Evangelium
ergeben und die man wie folgt zusammenfassen kann: das menschliche Leben, ein
wertvolles Geschenk Gottes, ist heilig und unantastbar und daher sind
insbesondere die vorsätzliche Abtreibung und die Euthanasie absolut
unannehmbar; das Leben des Menschen darf nicht nur nicht ausgelöscht, sondern
es muß mit aller liebevollen Aufmerksamkeit geschützt werden; das Leben findet
seinen Sinn in der empfangenen und geschenkten Liebe, in deren Blickfeld
Sexualität und menschliche Fortpflanzung volle Wahrheit erlangen; in dieser
Liebe haben auch das Leiden und der Tod einen Sinn und können, wenngleich das
Geheimnis, das sie umfängt, weiterbesteht, zu Heilsereignissen werden; die
Achtung vor dem Leben erfordert, daß Wissenschaft und Technik stets auf den
Menschen und seine ganzheitliche Entwicklung hingeordnet werden; die ganze
Gesellschaft muß die Würde jeder menschlichen Person in jedem Augenblick und in
jeder Lage ihres Lebens achten, verteidigen und fördern.
82.
Um wahrhaftig ein Volk im Dienst am Leben zu sein, müssen wir von der ersten
Verkündigung des Evangeliums an und später in der Katechese und in den
verschiedenen Verkündigungsformen, im persönlichen Gespräch und in jeder
erzieherischen Tätigkeit mit Standhaftigkeit und Mut diese Inhalte
vorlegen. Den Erziehern, Lehrern, Katecheten und Theologen obliegt die Aufgabe,
die anthropologischen Gründe hervorzuheben, auf die sich die Achtung vor
jedem Menschenleben gründet und stützt. Während wir das eigenartig Neue des Evangeliums
vom Leben zum Strahlen bringen, werden wir auf diese Weise allen helfen
können, auch im Licht der Vernunft und der Erfahrung zu entdecken, daß die
christliche Botschaft den Menschen und die Bedeutung seines Seins und seiner
Existenz voll erhellt; wir werden wertvolle Punkte für Begegnung und Dialog
auch mit den Nichtglaubenden finden, sind wir doch alle miteinander
verpflichtet, eine neue Kultur des Lebens erstehen zu lassen.
Während wir von
den widersprüchlichsten Stimmen umgeben sind und viele die gesunde Lehre über
das Leben des Menschen verwerfen, spüren wir, daß die inständige Bitte des
Paulus an Timotheus auch an uns gerichtet ist: »Verkünde das Wort, tritt dafür
ein, ob man es hören will oder nicht; weise zurecht, tadle, ermahne, in
unermüdlicher und geduldiger Belehrung« (2 Tim 4, 2). Diese Ermahnung
muß besonders im Herzen derer kräftigen Widerhall finden, die in der Kirche auf
verschiedene Weise an ihrer Sendung als »Lehrerin« der Wahrheit am
unmittelbarsten teilhaben. Sie soll vor allem bei uns Bischöfen Widerhall
finden: wir sind als erste dazu angehalten, unermüdliche Verkünder des Evangeliums
vom Leben zu sein; uns ist auch die Aufgabe anvertraut, über die
zuverlässige und getreue Weitergabe der in dieser Enzyklika neu vorgelegten
Lehre zu wachen und die geeignetsten Maßnahmen zu ergreifen, damit die
Gläubigen vor jeder Lehre, die ihr widerspricht, geschützt werden. Besondere
Aufmerksamkeit müssen wir darauf legen, daß an den theologischen Fakultäten, in
den Priesterseminarien und in den verschiedenen katholischen Institutionen die
Kenntnis der gesunden Lehre verbreitet, erklärt und vertieft wird. 106
Die Ermahnung des Paulus möge von allen Theologen, von den Seelsorgern
und von allen anderen vernommen werden, die Aufgaben der Lehre, Katechese
und Gewissensbildung wahrnehmen: mögen sie im Bewußtsein der ihnen
zukommenden Rolle niemals die schwerwiegende Verantwortung auf sich nehmen, die
Wahrheit und ihren eigenen Auftrag dadurch zu verraten, daß sie persönliche
Ideen vortragen, die im Gegensatz zum Evangelium vom Leben stehen, wie
es das Lehramt getreu vor– und auslegt.
Bei der
Verkündigung dieses Evangeliums dürfen wir nicht Feindseligkeit und
Unpopularität fürchten, wenn wir jeden Kompromiß und jede Zweideutigkeit
ablehnen, die uns der Denkweise dieser Welt angleichen würde (vgl. Röm 12,
2). Wir sollen in der Welt, aber nicht von der Welt sein (vgl. Joh
15, 19; 17, 16) mit der Kraft, die uns von Christus kommt, der durch seinen
Tod und seine Auferstehung die Welt besiegt hat (vgl. Joh 16, 33).
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»Ich
danke dir, daß du mich so wunderbar gestaltet hast« (Ps 139 1, 14): das
Evangelium vom Leben feiern
83.
Da wir als »Volk für das Leben« in die Welt gesandt sind, soll unsere
Verkündigung auch zu einer echten Feier des Evangeliums vom Leben werden.
Ja, durch die beschwörende Kraft ihrer Gesten, Symbole und Riten wird diese
Feier zum wertvollen und bedeutsamen Ort für die Weitergabe der Schönheit und
Größe dieses Evangeliums.
Dazu ist es vor
allem dringend notwendig, in uns und in den anderen eine kontemplative Sicht
zu pflegen. 107 Diese entsteht aus dem Glauben an den Gott des
Lebens, der jeden Menschen geschaffen und wunderbar gestaltet hat (vgl. Ps 139
2, 14). Es ist die Sicht dessen, der das Leben dadurch in seiner Tiefe
sieht, daß er dessen Dimensionen der Unentgeltlichkeit, der Schönheit,
der
Herausforderung zu Freiheit und Verantwortlichkeit erfaßt. Es ist die
Sicht
dessen, der sich nicht anmaßt, der Wirklichkeit habhaft zu werden,
sondern sie
als ein Geschenk annimmt und dabei in jedem Ding den Widerschein des
Schöpfers
und in jedem Menschen sein lebendiges Abbild entdeckt (vgl. Gen 1, 27; Ps
8, 6). Diese Sicht kapituliert nicht mutlos angesichts derer, die sich in
Krankheit, in Leid, am Rande der Gesellschaft und an der Schwelle des Todes
befinden; sondern sie läßt sich von allen diesen Situationen befragen, um nach
einem Sinn zu suchen, und beginnt gerade unter diesen Gegebenheiten, auf dem
Antlitz jedes Menschen einen Aufruf zu Gegenüberstellung, zu Dialog, zu
Solidarität zu entdecken.
Es ist an der
Zeit, daß alle diese Sicht übernehmen und so wieder fähig werden, mit dem von
ehrfürchtigem Staunen erfüllten Herzen jeden Menschen zu ehren und zu
achten, wie uns Paul VI. in einer seiner ersten Weihnachtsbotschaften
einlud zu tun. 108 Beseelt von dieser kontemplativen Sicht, kann das
neue Volk der Erlösten gar nicht anders als in Freudes-, Lobes– und
Dankeshymnen auszubrechen über das unschätzbare Geschenk des Lebens, über
das Geheimnis der Berufung jedes Menschen, in Christus am Gnadenleben und an
einer Existenz unendlicher Gemeinschaft mit Gott, dem Schöpfer und Vater,
teilzuhaben.
84.
Das Evangelium vom Leben feiern heißt, den Gott des Lebens, den Gott, der
das Leben schenkt, feiern: »Wir müssen das ewige Leben feiern, von dem
jedes andere Leben herrührt. Von ihm empfängt jedes Wesen, das in irgendeiner
Weise am Leben teilhat, proportional zu seinen Fähigkeiten das Leben. Dieses
göttliche Leben, das über jedem Leben steht, belebt und bewahrt das Leben.
Jedes Leben und jede Lebensregung haben ihren Ursprung in diesem Leben, das
jedes Leben und jeden Lebensursprung übersteigt. Ihm verdanken die Seelen ihre
Unvergänglichkeit, sowie dank ihm alle Tiere und Pflanzen leben, die das
schwächste Echo des Lebens empfangen. Den Menschen, Wesen, die aus Geist und
Materie bestehen, schenkt das (göttliche) Leben das Leben. Wenn es dann
geschieht, daß wir es verlassen müssen, dann verwandelt uns das Leben wegen
seiner überströmenden Liebe zum Menschen und ruft uns zu sich. Nicht nur das:
es verheißt uns, uns, Seelen und Körper, in das vollkommene Leben, in die
Unsterblichkeit zu geleiten. Es ist zu wenig, wenn man sagt, dieses Leben ist
lebendig: es ist Lebensursprung, einzige Lebensursache und Lebensquelle. Jedes
Lebewesen muß es betrachten und preisen: es ist Leben, das in Leben
überströmt«. 109
Wie der
Psalmist, so loben und preisen auch wir im persönlichen und gemeinschaftlichen täglichen
Gebet Gott, unseren Vater, der uns im Mutterschoß gewoben und uns gesehen
und geliebt hat, als wir noch ohne Gestalt waren (vgl. Ps 139 3, 13.
15-16), und mit unbezähmbarer Freude rufen wir aus: »Ich danke dir,
daß du mich
so wunderbar gestaltet hast. Ich weiß: Staunenswert sind deine Werke« (Ps 139
4, 14). Ja, »dieses sterbliche Leben ist trotz seiner Mühen, seiner dunklen
Geheimnisse, seiner Leiden, seiner unabwendbaren Hinfälligkeit eine sehr schöne
Sache, ein immer originelles und ergreifendes Wunder, ein Ereignis, würdig mit
Freude und Lobpreis besungen zu werden«. 110 Mehr noch, der Mensch und
sein Leben erscheinen uns nicht nur als eines der größten Wunderwerke der
Schöpfung: Gott hat dem Menschen eine beinahe göttliche Würde verliehen (vgl. Ps
8, 6-7). In jedem Kind, das geboren wird, und in jedem Menschen, der lebt
oder der stirbt, erkennen wir das Abbild der Herrlichkeit Gottes: diese
Herrlichkeit feiern wir in jedem Menschen, der Zeichen des lebendigen Gottes,
Ikone Jesu Christi ist.
Wir sind
aufgerufen, Staunen und Dankbarkeit über das als Geschenk empfangene Leben zum
Ausdruck zu bringen und das Evangelium vom Leben nicht nur im
persönlichen und gemeinschaftlichen Gebet, sondern vor allem in den Feiern
des liturgischen Jahres anzunehmen, zu genießen und mitzuteilen. Hier muß
im besonderen an die Sakramente als wirksame Zeichen für die Gegenwart
und das Heilswirken des Herrn Jesus in der christlichen Existenz erinnert
werden: sie machen die Menschen dadurch zu Teilhabern am göttlichen Leben,
daß
sie ihnen die nötige geistliche Kraft sicherstellen, um in ihrer vollen
Wahrheit die Bedeutung des Lebens, des Leidens und des Sterbens zu realisieren.
Dank einer echten Wiederentdeckung des Sinnes der Riten und dank ihrer
angemessenen Bewertung werden die liturgischen Feiern, vor allem jene
sakramentalen Charakters, immer mehr in der Lage sein, die volle Wahrheit über
die Geburt, das Leben, das Leiden und den Tod auszudrücken und so dazu
verhelfen, diese Wirklichkeit als Teilhabe am Ostermysterium des gestorbenen
und auferstandenen Christus zu erleben.
85.
Bei der Feier des Evangeliums vom Leben muß man auch die Gesten und
die Symbole zu würdigen und zu schätzen wissen, an denen die verschiedenen
kulturellen und volkstümlichen Traditionen und Bräuche so reich sind. Es
handelt sich um Gelegenheiten und Formen der Begegnung, mit denen in den
verschiedenen Ländern und Kulturen die Freude über ein neugeborenes Leben, die
Achtung und die Verteidigung jedes menschlichen Lebens, die Sorge für den
Kranken oder Notleidenden, die Nähe zum Alten oder Sterbenden, die Teilnahme am
Schmerz des Trauernden, die Hoffnung und die Sehnsucht nach Unsterblichkeit zum
Ausdruck gebracht werden.
Aus dieser
Sicht greife ich auch die von den Kardinälen im Konsistorium von 1991 gebotene
Anregung auf und schlage vor, man möge in den verschiedenen Nationen jedes Jahr
einen Tag für das Leben feiern, wie er bereits auf Initiative einiger
Bischofskonferenzen begangen wird. Dieser Tag muß unter der aktiven Beteiligung
aller Mitglieder der Ortskirche vorbereitet und gefeiert werden. Sein
wesentliches Ziel ist es, in den Gewissen, in den Familien, in der Kirche und
in der zivilen Gesellschaft das Erkennen des Sinnes und Wertes zu wecken, den
das menschliche Leben zu jedem Zeitpunkt und unter jeder Bedingung hat; in das
Zentrum der Aufmerksamkeit soll dabei besonders das schwerwiegende Problem von
Abtreibung und Euthanasie gerückt werden, ohne jedoch die anderen Augenblicke
und Aspekte des Lebens zu übergehen, die je nachdem, was die geschichtliche
Entwicklung nahelegt, jeweils aufmerksame Beachtung verdienen.
86.
In der Logik des gottgefälligen geistlichen Kultes (vgl. Röm 12, 1) soll
sich die Feier des Evangeliums vom Leben vor allem in dem in Liebe zu
den anderen und in Selbsthingabe gelebten Alltagsdasein vollziehen. Auf
diese Weise wird unsere ganze Existenz zur glaubwürdigen und
verantwortungsbewußten Aufnahme des Geschenkes des Lebens und zu einem
aufrichtigen, dankbaren Lobpreis an Gott, der uns dieses Geschenk gemacht hat.
Das geschieht bereits in vielen, vielen Akten eines oft schlichten und
verborgenen Sichverschenkens, die von Männern und Frauen, Kindern und
Erwachsenen, Jungen und Alten, Gesunden und Kranken vollbracht werden.
In diesem an
Menschlichkeit und Liebe reichen Rahmen entstehen auch die heroischen Taten.
Sie sind die feierlichste Verherrlichung des Evangeliums vom Leben, weil
sie es mit totaler Selbsthingabe verkünden; sie sind die leuchtende
Offenbarung des höchsten Grades von Liebe, der darin besteht, daß einer sein Leben
für den geliebten Menschen hingibt (vgl. Joh 15, 13); sie sind die
Teilhabe am Geheimnis des Kreuzes, an dem Jesus offenbar macht, welchen Wert
für Ihn das Leben jedes Menschen hat und wie es sich in der aufrichtigen
Selbsthingabe voll verwirklicht. Jenseits aufsehenerregender Taten gibt es den
Heroismus im Alltag, der aus kleinen und großen Gesten des Teilens besteht, die
eine echte Kultur des Lebens fördern. Unter diesen Gesten verdient die in
ethisch annehmbaren Formen durchgeführte Organspende besondere Wertschätzung,
um Kranken, die bisweilen jeder Hoffnung beraubt sind, die Möglichkeit der
Gesundheit oder sogar des Lebens anzubieten.
Zu diesem
Heroismus im Alltag gehört das stille, aber um so fruchtbarere und beredtere
Zeugnis »aller mutigen Mütter, die sich vorbehaltlos ihrer Familie widmen, die
unter Schmerzen ihre Kinder zur Welt bringen und dann bereit sind, jede Mühe
und jedes Opfer auf sich zu nehmen, um ihnen das Beste weiterzugeben, was sie
in sich tragen«. 111 Wenn sie ihre Sendung leben, »finden diese
heroischen Mütter dabei in ihrer Umgebung nicht immer Unterstützung. Ja, die
Vorbilder der Zivilisation, wie sie häufig von den Massenmedien vorgestellt und
verbreitet werden, begünstigen nicht die Mutterschaft. Im Namen des Fortschritts
und der Moderne werden die Werte der Treue, der Keuschheit und des Opfers heute
als überholt hingestellt, und doch haben sich in diesen Werten ganze Scharen
von christlichen Gattinnen und Müttern ausgezeichnet und tun es weiter... Wir
danken euch, heroische Mütter, für eure unbesiegbare Liebe! Wir danken euch für
euer unerschrockenes Vertrauen auf Gott und seine Liebe. Wir danken euch für
das Opfer eures Lebens... Im Ostergeheimnis erstattet euch Christus das
Geschenk zurück, das ihr Ihm gemacht habt. Denn Er hat die Macht, euch das
Leben zurückzugeben, das ihr Ihm als Opfer dargebracht habt«. 112
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»Meine
Brüder, was nützt es, wenn einer sagt, er habe Glauben, aber es fehlen die
Werke?« (Jak 2, 14): dem Evangelium vom Leben dienen
87.
Kraft der Teilhabe an der königlichen Sendung Christi müssen sich die
Unterstützung und Förderung des menschlichen Lebens durch den Dienst der
Nächstenliebe verwirklichen, der im persönlichen Zeugnis, in den
verschiedenen Formen des freiwilligen Einsatzes, im sozialen Handeln und im
politischen Engagement zum Ausdruck kommt. Das ist zur Stunde eine besonders
dringende Forderung, da sich die »Kultur des Todes« so mächtig der »Kultur
des Lebens« widersetzt und bisweilen die Oberhand zu gewinnen scheint. Davor
liegt jedoch noch eine Forderung, die aus dem Glauben entsteht, »der in der
Liebe wirksam ist« (Gal 5, 6), wie uns der Jakobusbrief ermahnt: »Meine
Brüder, was nützt es, wenn einer sagt, er habe Glauben, aber es fehlen die Werke?
Kann etwa der Glaube ihn retten? Wenn ein Bruder oder eine Schwester ohne
Kleidung ist und ohne das tägliche Brot, und einer von euch zu ihnen sagt: Geht
in Frieden, wärmt und sättigt euch!, ihr gebt ihnen aber nicht, was sie zum
Leben brauchen — was nützt das? So ist auch der Glaube für sich allein tot,
wenn er nicht Werke vorzuweisen hat« (2, 14-17).
Beim Dienst der
Nächstenliebe muß uns eine Haltung beseelen und kennzeichnen: wir müssen
uns des anderen als Person annehmen, die von Gott unserer Verantwortung
anvertraut worden ist. Als Jünger J
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